"Diese Plätze sind verbrannt für uns"
Schweigen will Papst Franziskus, solange er sich in dem deutschen Konzentrationslager Auschwitz aufhält. Eine wichtige Geste, die weltweit registriert wird, unter anderem von Menschen in Israel. Reisen zu den ehemaligen Lagern kosten sie große Überwindung.
Sehr genau werden viele Israelis den Besuch von Papst Franziskus in dem deutschen Vernichtungslager Auschwitz beobachten. Jeder fünfte Gymnasiast war selbst schon dort, denn seit Mitte der 70er-Jahre reisen israelische Schulklassen nach Polen an die Stätten der ehemaligen Vernichtungslager. Inzwischen gehört auch das neue Jüdische Museum in Warschau zum Programm. Wenn Schuldirektor Arieh Barnea an Polen denkt, kommen zwiespältige Erinnerungen hoch: Zum einen haben die Nazis auf polnischem Boden den allergrößten Teil seiner Familie getötet, zum anderen waren es polnische Bauern, die seine Mutter retteten:
"Mein Großvater Josef, meine Mutter und die anderen Juden durften sich bei einem polnischen Bauern verstecken. Er hieß Adam Budrin. Er hat ihnen im Stall eine Grube ausgehoben. Auf der Abdeckung dieser Grube standen die Pferde. Ein Jahr und neun Monate lang haben sie sich in der Dunkelheit dieser Grube versteckt."
Der Lehrer war mehrfach in Polen, in Israel leitet er die Hilfsorganisation "Amcha", die Holocaust-Überlebenden und deren Kindern psychologische Behandlung anbietet. Von Micha Gold zum Beispiel, einer jungen Psychologin, Anfang 30. Ihr Großvater stammt aus Polen. Neun von 10 Geschwistern wurden von den Nazis getötet, wahrscheinlich in Belzec. Der Großvater durchlitt 14 Konzentrationslager, sprach aber nie über diese Zeit. Micha Gold respektierte seinen Wunsch, Auschwitz nicht zu besuchen:
"Mein Großvater wollte auf keinen Fall, dass wir nach Polen reisen und dieses Land betreten. Ich habe es auch tatsächlich nicht getan. Meine Schwester hat die Polenreise gemacht, was unsere Familie nur schwer akzeptieren konnte."
Micha Gold war bislang weder in Deutschland noch in Polen, nicht nur aus Gehorsam dem Großvater gegenüber:
"Dieser Plätze sind verbrannt für uns. Wir sagen ja nicht, dass der Holocaust dort nochmal geschehen wird. Aber diese Orte sind voll derart schrecklicher Erinnerungen. Ich war bislang an keinem Ort, der eng verknüpft ist mit dem Holocaust. Selbst Paris fiel mir schwer, alles sieht so normal und schön aus. Dabei sind so furchtbare Dinge in Paris geschehen. Viele Israelis gehen derzeit nach Berlin, sie leben dort, es muss eine wunderbare Stadt sein, aber allein der Gedanke, wo dort überall Juden getötet wurden, macht mir zu schaffen."
Der Psychologe riet zu der Reise
Schlomit Harvalan ist Tochter von Eltern, die beide Auschwitz überlebt haben, aber als schwer traumatisierte Erwachsene kaum ihre Elternpflichten erfüllen konnten. Schlomit und ihre Schwester waren als Kinder so etwas wie Eltern ihrer Eltern. Seit 40 Jahren ist die 64-Jährige immer wieder in Therapien, unter anderem bei Amcha, der Hilfsorganisation für Holocaust-Überlebende. Als ihre Kinder mit der Schule nach Auschwitz fuhren, riet der Psychologe ihr mitzureisen:
"Ich hatte Angst davor, aber wir waren eine Gruppe mit vielen Eltern, keineswegs alle aus Holocaust-Familien. Es waren auch Marokkaner oder Iraker mit dabei."
Als ihre Mutter erfuhr, dass die Tochter nach Auschwitz reisen würde, geriet sie in Panik.
"Sie sagte: Du wirst nie wieder zurückkommen, weil dein Vater in der israelischen Armee war. Zwei Jahre später bin ich noch einmal in Polen gewesen. Ich wollte nicht, aber mein Vater drängte mich, er fand, dass ich zu viel Ärger gegenüber Polen empfinde."
Laut der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem hat kein Land mehr Juden gerettet als Polen, 6.620 stehen auf der Liste. Schlomit Harvalan versteht ihren Groll selbst nicht ganz.
"Ich habe von den Polen erwartet, dass sie meine Eltern schützen. Als Kind dachte ich, dass sie doch nicht erlauben konnten, was die Deutschen taten. Die Polen hatten 70 Jahre Zeit, ihre Verantwortung einzugestehen, zuzugeben, dass sie Juden nicht geholfen haben."
Für Schlomit Harvalan aus Tel Aviv waren die Reisen nach Polen schmerzhaft. Sie will sich verstehen, aber auch verstanden werden und weiß, dass das nur in der Auseinandersetzung möglich ist. Inzwischen war sie sogar in Berlin, eine Reise, die ihr noch viel schwerer fiel als die ins katholische Polen.