Holocaust

Gedenken unter der Abrissbirne

Von Caroline Nokel |
Weil ihr der Erhalt zu teuer war, ließ die Stadt Steinfurt die Villa eines von Nazis ermordeten jüdischen Ehepaars abreißen. Nun entsteht an der Stelle ein Feuerwehrgerätehaus. Die Erinnerungskultur des Städtchens hat noch mehr Defizite.
"Das Haus ist also radikal beseitigt. Es wird gezimmert, und das Radio dudelt auf der Baustelle."
"Die Deutschlandfahne war aufm Bagger. Das war reiner Zufall, aber sehr sinnbildlich."
Jupp Ernst und Werner Bülter stehen vor einem Bauzaun. Der Künstler und der Goldschmiedemeister sind enttäuscht und verärgert. Sie wollten die in der Gründerzeit erbaute Villa Heimann erhalten. Doch nach langem Hin und Her hat der Stadtrat für ihren Totalabriss gestimmt. Nun ist die Borghorster Bahnhofstraße nur noch Baustelle. Bauarbeiter gießen das Fundament für das neue Feuerwehrgerätehaus.
Jupp Ernst und Werner Bülter sind Mitglieder der Initiative "Stolpersteine". Ihnen ist es wichtig, die Erinnerung an die vertriebenen und ermordeten jüdischen Familien ihres Ortes wachzuhalten. Jupp Ernst geht in die Knie und liest, was auf zwei Messingtafeln steht:
"Hier wohnte Albert Heimann, Jahrgang 1881, deportiert 1941 nach Riga, und ist dann in Auschwitz ermordet worden im November 1943. Seine Frau Frieda Heimann, geborene Simon, Jahrgang 1894, wurde 1941 ebenfalls deportiert nach Riga. Ist auch in Auschwitz ermordet worden im Juli 1944."
"Wir hörten grölende Menschen in dem Haus"
Das jüdische Ehepaar Heimann war gut in die Borghorster Gesellschaft integriert. Albert Heimann war Viehhändler, dekorierter Weltkriegsveteran und Schützenkönig. Zwanzig Jahre lang wohnte das Ehepaar mit seinen vier Kindern in der Villa. Josef Bergmann hat 1938 die Plünderung des Hauses als Sechsjähriger miterlebt:
"Es war schon fast dunkel, und wir hörten dann Scheibengeklirr, und wir hörten dann auch grölende Menschen in dem Haus. Dann hab ich gesehen, wie Bettfedern aus den Fenstern flogen. Wie Einmachgläser hier auf die Straße geflogen sind. Hab ich gehört, wie sich SA-Leute, die in dem Haus waren, darüber freuten, jedes Mal, wenn ein neues Glas auf die Straße kam."
Nach der Pogromnacht war das Ehepaar Heimann gezwungen, Grundstück und Haus weit unter Wert an das benachbarte Textilunternehmen zu verkaufen. Die Kommune trat eine Woche später in den Kaufvertrag ein und nutzte die Villa dann als Amtsgebäude und Volksbücherei. Heinrich-Vinhage, "Stolperstein"-Aktivist:
"Ich kann mich erinnern, 1946, 47 bin ich als Kind dahin gegangen. Da war eine voluminöse Treppe da im Haus, die musste ich hochsteigen bis in irgendein bestimmtes Zimmer, um die Lebensmittelkarten für Familie Vinhage abzuholen."
Die letzten 30 Jahre stand die Villa Heimann leer. Als die Feuerwehr vor zwei Jahren ein neues Feuerwehrgerätehaus brauchte, folgte die Stadt ihrem Wunsch, neben der alten Feuerwache zu bauen: auf dem Grundstück der Villa Heimann. Die Initiative "Stolpersteine" forderte, die Villa stehenzulassen und eine Gedenk- und Begegnungsstätte daraus zu machen. Die Gegner argumentierten:
"An der Villa als solcher ist eigentlich nichts Jüdisches, also irgendwie typische Bauelemente oder so etwas, sondern es ist eine Villa der Gründerzeit, die absolut ruiniert gewesen ist. Das war ein tatkräftiges Argument, was nicht heißen soll, dass es jüdisches Gedenken hier nicht geben soll."
"Man könnte auch sagen, der politische Wille hat gefehlt"
Günther Gromotka, CDU-Ratsmitglied und Leiter des Kulturausschusses. Der Baudezernent schlug als Kompromiss vor, nur die Außenwände der Villa stehen zu lassen und innen neu zu bauen. Das sollte nach Rechnungen eines externen Ingenieurbüros
100.000 Euro zusätzlich kosten – zusätzlich zu den 4,7 Millionen Euro, die die Stadt immerhin für das Gerätehaus ausgeben wird. Damit die klamme Kommune sie nicht selbst aufbringen muss, sammelten die "Stolpersteine" Spendenzusagen in Höhe von 100.000 Euro. Doch auch das hat der Mehrheit im Rat nicht gereicht. Günther Gromotka:
"Die Mehrheit meiner Fraktion ist der Überzeugung gewesen, dass in dem Kostenrahmen, der genannt worden ist, der Erhalt der Fassade der Villa Heimann nicht möglich gewesen wäre."
Man könnte auch sagen, der politische Wille hat gefehlt. Erstaunlich ist, dass bei der Diskussion um die Villa Heimann nur die Finanzen diskutiert wurden. Die Rolle, die die Stadt bei der sogenannten Arisierung der Villa gespielt hat, wurde nicht angesprochen. In den Fünfzigerjahren lehnte die Stadt Borghorst die Rückgabe der Villa an die Heimann-Kinder ab. Der Grund: Das Haus werde als Amtsgebäude gebraucht. Sie schloss einen Vergleich mit den Kindern Heimann. Kurz danach aber verkaufte die Kommune die Villa gewinnbringend. Ein Schlag ins Gesicht der Opfer.
Viele sagen: Die Villa ist abgerissen, das Thema ist doch erledigt
Und heute? Viele sagen: Die Villa ist abgerissen, das Thema ist doch erledigt. Bürgermeister Andreas Hoge hat nach dem Abriss einen Arbeitskreis eingerichtet, in dem alle Beteiligten nun miteinander überlegen sollen, wie jüdisches Gedenken in Steinfurt aussehen könnte. Dafür müssten die Beteiligten aber bereit sein, sich mit der Vergangenheit ihres Ortes auseinanderzusetzen. Doch selbst die Zeitzeugen nennen die Täter von damals nicht beim Namen. Josef Bergmann:
"Das wollen wir nicht. Wir wollten keine neuen Gräben. Wir wollen die Dinge deutlich machen. Wir wollen auch nicht, dass diejenigen, die involviert sind, darunter leiden müssen."
Dennoch wollen die "Stolpersteine" nicht in der Trauer über die abgerissene Villa verharren. Am 9. November haben sie mit Rabbi Efraim Yehoud am ehemaligen Standort der Synagoge eine Gedenktafel eingeweiht. Auf ihr sind die beschädigten Thorarollen aus der Borghorster Synagoge abgebildet. Ein Unbekannter hatte sie 1938 aus den Flammen gerettet. Derjenige, der sie 1997 der jüdischen Gemeinde Münster übergab, will anonym bleiben.