Holocaust-Gedenktag

Nicht wie, sondern an was wollen wir uns erinnern?

Historisches Foto vom Abtransport von Juden aus dem Warschauer Ghetto im Jahr 1943. Frauen und Kinder gehen mit erhobenen Händen aus einem Haus, Soldaten stehen mit Waffen daneben. Vorne Dab Siemiatek oder Zvi Nussbaum, oder Levi Zelinwarger, daneben seine Mutter Chana Zelinwarger, (l.) Hanka Lamet, (2.v.li.) M. Lamet Goldfinger, Leo Kartuzinski (mit Bündel), (r.) Golda Stavarowski und (2.v.re.) SS-Mann Josef Blösche.
"Stellt uns der Tod der letzten Überlebenden vor neue Herausforderungen, weil es bald niemanden mehr gibt, der direkt zu uns spricht und uns auffordert, nicht zu vergessen?", fragt Deborah Hartmann. Hier werden 1943 Menschen jüdischen Glaubens aus dem Warschauer Ghetto abtransportiert. © picture alliance / akg-images
Ein Kommentar von Deborah Hartmann |
Am 27. Januar wird der Menschen gedacht, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Es gibt wenige Überlebende, die darüber noch sprechen können. Die Politologin Deborah Hartmann beschäftigt deshalb die Frage, an was wir zukünftig erinnern wollen.
„Wir sind jetzt hier gefangen (…) Wir werden vorläufig nicht belästigt, aber wir leben in Angst und Bangen. (…) Wie sehne ich mich schon nach dir. Gott gebe wir sollen endlich wieder beisammen sein. (…) Bleibe gesund mein geliebtes Kind und es umarmt dich innigst Deine Mutter.“
Das sind vermutlich die letzten Zeilen, die meine Urgroßmutter an ihren 16-jährigen Sohn, meinen Großvater, schickte. Er war nach Palästina entkommen. Mit dem Überfall auf Polen, zwei Tage später, bricht der Briefkontakt zwischen Eltern und Kind ab.
Ich habe meinen Großvater nie kennengelernt. Und dennoch war er, war seine (Über-)Lebensgeschichte immer anwesend. Ganz ohne unmittelbares Erleben eines sogenannten Zeitzeugen. Ganz ohne direktes Aufeinandertreffen.
Lässt sich diese Geschichte weitergeben? Oder handelt es sich um eine Geschichte ohne Geschichte, weil sie sich lediglich aus Erinnerungen der zweiten Generation und ein paar übrig gebliebenen Briefen und Gegenständen rekonstruieren lässt?
Stellt uns der Tod der letzten Überlebenden vor neue Herausforderungen, weil es bald niemanden mehr gibt, der direkt zu uns spricht und uns auffordert, nicht zu vergessen? Rufen deshalb alle nach neuen Formen der Vermittlung, gar einer neu zu definierenden Erinnerungskultur?

Was bleibt, wenn es keine Überlebenden mehr gibt?

Folgt man den aktuellen Diskussionen, so besteht scheinbar ein Kausalzusammenhang zwischen dem Sterben der Überlebenden und einer nachkommenden Generation, bei der das Interesse und die Empathie den Ermordeten und Überlebenden der Shoah gegenüber mit einem Schlag verschwindet.
Ich denke, wir machen es uns damit zu einfach. Desinteresse, Empathielosigkeit, Abwehr und Distanz den Erfahrungen der Betroffenen gegenüber gab es schon immer. Gerade auch in jenen Jahrgängen, die sich die erfolgreiche Aufarbeitung der Shoah auf ihre Fahnen schreiben.
Die Auseinandersetzung mit der Shoah war nie von Geradlinigkeit bestimmt. Sie war immer umstritten, schmerzvoll und schwierig. Die blinden Flecken sind nicht unbedingt weniger geworden: selbst dort nicht, wo bestimmte Standards der Vermittlung und des Gedenkens etabliert wurden, wie etwa im Schulunterricht oder an Gedenktagen. So mag es kaum verwundern, dass das gerade erst Erkämpfte erneut zum Gegenstand ganz grundsätzlicher Infragestellung wird.

Nicht wie, sondern was soll vermittelt werden?

Natürlich braucht es neue Zugänge im Zeitalter der Digitalisierung. Es geht aber nicht darum, wie wir uns Geschichte nähern, sondern vielmehr darum, was wir uns von der Vergangenheit aneignen. Eigentlich ist es doch egal, ob wir mit unseren Smartphones im Alltag verborgene Vergangenheitsschichten sichtbar machen, ob wir auf Instagram der Erfahrungsgeschichte einer jungen Jüdin im Holocaust folgen, oder ein virtuell rekonstruiertes Lager besuchen.
Es ist viel wichtiger, sich bewusst zu machen, wie außergewöhnlich die überlieferten Zeugnisse und Quellen der Shoah eigentlich sind. Die Fragen, die sich uns daher heute stellen, sind: Mit welchen Erfahrungen werden wir uns in Zukunft auseinandersetzen? Woran soll überhaupt erinnert werden? Worum geht es uns eigentlich, wenn wir von der Erinnerung an die Shoah sprechen?

Wie verhindern wir das Vergessen?

Am 15. Februar 1941 werden meine Urgroßeltern mit etwa 1000 anderen Jüdinnen und Juden von Wien nach Opole Lubelskie deportiert. Zwei Wochen später schreiben sie an ihren einstigen Hausverwalter:
„Ich gestatte mich auch an Sie mit der höflichen Bitte heranzutreten uns womöglich mit kleinen Geldbeträgen behilflich zu sein, für welche wir Ihnen unendlich zum Dank verpflichtet sein werden. (…) wenn man nicht die Hoffnung hätte das es einmal anders wird, so wäre das gescheiteste was man machen könnte sich umbringen. (…) Lange können wir unter solchen Verhältnissen nicht existieren. Haben Sie mit uns Erbarmen und vergessen Sie uns nicht.“
Wissen und Nicht-Wissen. Erinnern und Vergessen.
Meine Urgroßeltern überleben nicht.
Was muss nun, am 27. Januar 2023 geschehen, damit wir sie nicht vergessen?

Deborah Hartmann, 1984 in Wien geboren, ist eine österreichisch-israelische Politikwissenschaftlerin und leitet seit Dezember 2020 die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz. Zuvor war sie für die israelische Gedenkstätte Yad Vashem tätig.

Eine Frau mit langen braunen Haaren schaut freundlich in die Kamera: die Politikwissenschaftlerin Deborah Hartmann.
© Yoram Aschheim
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