Max Czollek: "Versöhnungstheater"
Carl Hanser Verlag, München 2023
176 Seiten, 22 Euro
Max Czollek über Erinnerungskultur
Die Aufarbeitung des Holocaust wird eher gezeigt, denn tatsächlich gelebt, kritisiert Max Czollek. © picture alliance / dpa / Hauke-Christian Dittrich
"Juden spielen nur eine Nebenrolle"
08:25 Minuten
Als Weltmeister des Erinnerns wird Deutschland bisweilen bezeichnet. Der Publizist Max Czollek sieht im Holocaust-Gedenken der Deutschen eher ein "Versöhnungstheater": Es gehe der Gesellschaft vor allem um eine Reparatur ihres Selbstbilds.
Deutschland ist bemüht, zu zeigen, dass es die Gräuel der Nationalsozialisten und deren Opfer nicht vergisst, vor allem am 27. Januar, dem Internationalen Holocaust-Gedenktag. Doch wie viel Substanz hat die deutsche Erinnerungskultur tatsächlich? Gar keine, meint der Publizist Max Czollek. Für ihn ist es ein "Versöhnungstheater", in dem es vor allem um eines gehe: das Narrativ von sich selbst aufzuhübschen.
Aussöhnen der Deutschen mit sich selbst
"Wenn wir uns anschauen, was seit den 90er-Jahren mit der Erinnerung passiert - auch als Legitimation, etwas wieder zu tun, von Deutschland-Fahne rausholen bis Zeitenwende-Rhetorik - dann sehen wir, dass es eigentlich um ein Aussöhnen der deutschen Gesellschaft mit sich selbst geht und dass die Juden hier nur eine Nebenrolle spielen", sagt Czollek.
Die deutsche Erinnerungskultur leide an einer "Diskrepanz zwischen Selbstbild und Handlung beziehungsweise ausbleibender Handlung", sagt Czollek. "Es gibt hier eine Form der Erinnerungsaktivität, die keiner Realität entspricht." Sichtbar wird das für ihn beispielsweise daran, dass "99 Prozent" der Shoah-Verantwortlichen niemals vor Gericht standen. "Das steht doch in einem starken Kontrast zur Erzählung des Erinnerungsweltmeisters Deutschland."
Folgenlose Erinnerungskultur
Aus Sicht von Czollek unternehmen die Deutschen "eben nicht" den Versuch, die Gegenwart so gestalten, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholt. "Sonst hätte man ja nach dem Auffliegen des NSU tatsächlich eine ernsthafte Aufarbeitung durchgeführt oder hätte die Bundeswehr mal durchleuchtet, nachdem klar wurde, wie viele Reichsbürger und Nazis da drin sind."
Die Erinnerungskultur habe keine Konsequenzen dafür, wie sich die deutsche Gegenwart strukturiere, sagt Czollek. Vielmehr diene sie als Legitimationsfigur für die Neuerfindung eines nationalen Selbstbilds. "Das finde ich schon beeindruckend, gerade am 27. Januar, dass ein beispielloses Menschheitsverbrechen zur Energiequelle dafür wird, Deutschland wieder als ein gutes, positives Land in der Welt zu denken."
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(ckü)