Holocaust-Gedenktag

Wir brauchen einen Tag der kollektiven Einkehr

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Gedenken an den Holocaust, hier im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz: Welches Datum ist angemessen? © picture alliance / zb / Frank Schumann
Von Ernst Piper |
Vor 70 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz von sowjetischen Truppen befreit. Der 27. Januar ist daher der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Der Historiker Ernst Piper hält einen anderen Tag aber für geeigneter.
In den frühen Nachkriegsjahren wussten die allermeisten Deutschen nichts über Auschwitz. Der Spielfilm "Im Labyrinth des Schweigens" zeigt das eindringlich. Er erzählt, wie es zum ersten Auschwitz-Prozess kam, der im Dezember 1963 in Frankfurt am Main begann.
Mit der Anklage und den Zeugenaussagen drang nach 2o Jahren das ungeheuerliche Geschehen in dem schrecklichsten aller nationalsozialistischen Vernichtungslager in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit.
Die amerikanische Fernsehserie "Holocaust" und Filme wie "Shoah" von Claude Lanzmann oder "Schindlers Liste" von Steven Spielberg trugen erheblich dazu bei, dass unser Bild von dem Mordgeschehen seither an Intensität und Tiefenschärfe noch gewonnen hat.
Als 1995 mit gewaltigem Aufwand der 50. Jahrestag des Kriegsendes gefeiert wurde, diskutierten die Deutschen zwar darüber, ob der 8. Mai 1945 ein Tag der Niederlage oder der Befreiung gewesen war. Aber dass Auschwitz eine zentrale Signatur der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts ist, dass die Judenvernichtung mehr als alles andere das nationalsozialistische Regime charakterisiert, war nicht mehr ernstlich umstritten.
Das groß inszenierte Gedenkjahr 1995 sollte kein Schlussstrich sein – im Gegenteil. Deshalb proklamierte der damalige Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, an alle Opfer, nicht nur an die des Holocaust. Ihm war nicht an öffentlichen Feierstunden gelegen. Die Bürger des Landes sollten vielmehr das Erinnern in ihren Alltag holen.
Wahl des Datums von Anfang an problematisch
Die Absicht war löblich und in den ersten Jahren funktionierte das Gedenken auch mehr oder weniger gut. Die großen Tageszeitungen druckten Reden, publizierten Essays und brachten Porträts von Holocaust-Überlebenden. Doch soll dies nicht zum Ritual erstarren, lässt sich das kaum jedes Jahr wiederholen.
Die Wahl des Datums war von Anfang an problematisch gewesen. Am 27. Januar 1945 hatten die ersten sowjetischen Soldaten das Vernichtungslager Auschwitz erreicht, in dem die Deutschen mehr als eine Million Juden ermordet hatten. Einige Tausend Häftlinge, viele von ihnen todkrank, lebten noch. Nicht unbedingt ein naheliegendes Datum für einen deutschen Gedenktag.
Inzwischen haben die Vereinten Nationen den 27. Januar zum Internationalen Tag des Gedenkens an alle Formen von religiöser Intoleranz oder ethnischer Gewalt erklärt. Die Täter der Jahre 1933 bis 1945 geraten aus dem Blickfeld und mit ihnen die historischen Ereignisse, die für uns als die Nachfahren der Täter eine besondere Bedeutung haben.
In Israel gibt es schon seit 1951 den Jom haScho'a, an dem der Opfer der Schoa und der jüdischen Widerstandskämpfer gedacht wird. Um 10 Uhr heulen zwei Minuten lang die Sirenen. Die Passanten bleiben stehen, Autos und Züge halten an. Öffentliche Einrichtungen sind an diesem Tag geschlossen, die Fahnen wehen auf Halbmast.
9. November - ein historischer Tag
Auch in Deutschland gäbe es die Möglichkeit für eine solche kollektive Einkehr, eine gemeinsame Gewissenserforschung. Der 9. November wäre das richtige Datum dafür. Kein Tag ist besser geeignet, sich an die Höhen und Tiefen unserer Geschichte zu erinnern.
1918 begann die erste Demokratie auf deutschem Boden und fünf Jahre später der erste Versuch, sie wieder zu beseitigen. 1938 wurden Millionen von Deutschen zu Mittätern am Unrecht gegen ihre jüdischen Nachbarn, eben dadurch, dass sie nichts taten. Und 1989 befreiten sich die Bürger der DDR von kommunistischer Diktatur.
Die Menschen, die heute in Deutschland leben, sind nicht verantwortlich für die Untaten des nationalsozialistischen Regimes, wohl aber dafür, dass sich so etwas nicht wiederholt. Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, reichen Gedenkveranstaltungen wie die am 27. Januar nicht aus.
Ernst Piper, 1952 in München geboren, hat Geschichte, Philosophie und Germanistik studiert, lebt heute als Historiker in Berlin und ist Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam. Er hat zahlreiche Bücher geschrieben, unter anderem eine "Kurze Geschichte des Nationalsozialismus" (2007) und "Nacht über Europa. Eine Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs" (2013).
Der Historiker und Publizist Ernst Piper
Der Historiker und Publizist Ernst Piper© Foto: Cordula Giese /Copyright: Ernst Piper
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