Palästina
Nazi-Propaganda und Hitlers "Mein Kampf" sind in vielen Buchläden in Ramallah erhältlich, Literatur über den Holocaust nicht. © Judith Poppe
Das Tabuthema Holocaust
24:18 Minuten
Bücher über den Holocaust gibt in Palästina kaum. Wer über ihn informieren möchte, gilt schnell als einer, der die israelische Besatzung normalisiert, und muss sich auf Todesdrohungen einstellen. Einige Intellektuelle versuchen es trotzdem.
Hoch über den Dächern der palästinensischen Stadt Beit Hanina zwischen Jerusalem und Ramallah, im Dachgeschoss eines Familienhauses, zieht Mohammed Dajani Daoudi ein Buch hervor: „Mein Kampf“ von Adolf Hitler. Auf dem Buchdeckel prangen ein Hakenkreuz und ein Foto des nationalsozialistischen Diktators.
In Deutschland ist die Publikation des Buches weitgehend verboten. In den palästinensischen Gebieten jedoch ist die nationalsozialistische Hetzschrift ein Bestseller. Fünf Exemplare davon stehen auch in den Bücherregalen von Dajani Daoudis Familienhaus. Allerdings nicht, weil der ehemalige Universitätsprofessor das Werk schätzen würde, im Gegenteil. Der 76-Jährige will andere davor bewahren, Hitlers Zeilen zu lesen. Denn Dajani Daoudi kämpft einen einsamen Kampf: Er will unter den Palästinensern ein Bewusstsein für den Holocaust herstellen.
„Leider sind die Palästinenser hier antisemitischer Literatur ausgesetzt, zum Beispiel den Protokollen der Weisen von Zion", sagt Daoudi. "Sie lesen die Literatur der Holocaustleugnung." Zugang zu Büchern wie „Das Tagebuch der Anne Frank“ oder Büchern von Primo Levi oder Elie Wiesel hätten sie dagegen nicht. Das müsse sich ändern, findet Daoudi. Die Bücher müssten auf Arabisch übersetzt und in Umlauf gebracht werden.
Um die Palästinenser über den Holocaust zu informieren, hat Dajani Daoudi mit seiner von ihm gegründeten Organisation Wasatia ein Büchlein über die Vernichtung der Juden geschrieben. Dajani Daoudi zieht es aus dem Regal hervor. „Der Holocaust“ steht in arabischen Lettern auf dem Buchcover. Darin kurze Texte und Fotos, von den nationalsozialistischen Boykottaufrufen bis hin zur Massenvernichtung der Juden. 1000 Mal hat er es drucken lassen und die Exemplare in palästinensischen Bibliotheken und Schulen verteilt.
Ein Kämpfer für Frieden und Versöhnung
Das Dachgeschoss mit seinen überquellenden Bücherregalen ist eine Oase der Literatur über jüdische Kultur und Geschichte. Diese Offenheit gegenüber der jüdischen Welt besaß der Sprössling einer einflussreichen palästinensischen Familie nicht immer.
Als junger Mann wurde er wegen seiner politischen Aktivitäten aus Israel verbannt und ging nach Libanon ins Exil. „Während meiner Zeit im Libanon war ich extrem radikal", erzählt er. Als er dann in die USA ging, habe er mehr über Demokratie gelernt, zugehört, verschiedene Philosophen kennengelernt, von denen er in Beirut nichts erfahren konnte. "Für mich war diese Reise wie aus Platos Höhle zu kriechen, aus einer Höhle von Ignoranz, Fehlwahrnehmungen und falschen Vorstellungen – und ins Ausland zu gehen, um frei zu sein.“
Als Dajani Daoudi 1993 wegen einer Krebserkrankung seines Vaters die Erlaubnis erhielt, zurück in seine Heimat zu kommen, erlebte er, wie diejenigen, die er als seine Feinde betrachtete, seinen Vater mit viel Einsatz im Krankenhaus behandelten. Mittlerweile ist aus dem ehemaligen Militanten ein Kämpfer für Frieden und Versöhnung geworden. Doch er rennt immer wieder gegen Wände aus Beton.
Ein Besuch in Auschwitz
Im März 2014 reiste Dajani Daoudi – mittlerweile Direktor der Amerika-Abteilung der al-Quds-Universität in Jerusalem – mit 27 palästinensischen Studierenden in die Gedenkstätte nach Auschwitz. Im Gegenzug besuchten israelische Studierende ein Flüchtlingslager in den palästinensischen Gebieten.
Doch kurz nach der Reise brach eine Welle des Protests über den Professor ein. „Es gab Demonstrationen auf dem Campus. Sie kamen zu meinem Büro und versuchten, es zu zerstören, sie hinterließen Todesdrohungen. Auf einer stand: Wenn du zurückkommst, bring deinen Sarg mit. Sie haben es auf meine Tür geschrieben. Kindische Dinge wie diese, die aber eine bestimmte Geisteshaltung widerspiegeln", sagt Daoudi.
Studierende, Dozenten und auch die Universitätsleitung stellten sich gegen ihn. Viele warfen ihm vor, ein Betrüger, ein Normalisierer zu sein, also einer, der die Besatzung normalisiert und mit dem Feind kooperiert.
Sie warfen ihm vor, die Nakba zu ignorieren, also die Flucht und Vertreibung der Palästinenser während des palästinensisch-israelischen Krieges in den Jahren 1948 und 1949. „Sie sagten, was du getan hast, ist falsch. Warum unterrichtest du nicht die Nakba statt des Holocaust? Ich antwortete, ich habe die Nakba 40, 50 Jahre lang unterrichtet. Jetzt ist es Zeit, etwas zu lehren, worüber ihr noch nichts wisst.“
Trauma durch Besatzung, Trauma durch Holocaust
Im Mai 2014 trat Dajani Daoudi von seinem Posten an der Universität zurück. Die Hetze ging weiter. Als sein Auto in Flammen aufging, ging Dajani Daoudi wieder in die USA und kehrte erst ein Jahr später zurück. Von seinem Bemühen ließ er nicht ab.
Gemeinsam mit der Universität Jena gab er einen Sammelband über die Reise in das Konzentrationslager heraus. Darin zahlreiche Erfahrungsberichte von denjenigen, die mit dem Professor nach Auschwitz gekommen waren. Sie alle stellen auf unterschiedliche Weise eine Frage, die der Student Nasser Alqaddi in seinem Bericht folgendermaßen formuliert: „Wie können wir mit dem Trauma der Juden durch den Holocaust mitfühlen und gleichzeitig das Trauma der militärischen Besatzung bewältigen?“
Die Erfahrungen in Auschwitz haben die Studierenden von Dajani Daoudi sensibilisiert – doch damit sind sie eine Ausnahme. Den meisten anderen auf den Straßen des besetzten Westjordanlandes steht nicht der Sinn danach, mit dem Trauma des Holocaust mitzufühlen. Fragt man sie nach dem Holocaust, ist immer wieder der Einwand zu hören: „Was ist mit unserer Katastrophe?“
Die Hoffnungslosigkeit unter den Palästinensern ist groß. Die israelischen Siedlungen zerschneiden das Westjordanland immer mehr und lassen einen palästinensischen Staat kaum noch möglich erscheinen. Die meisten Palästinenser kennen Israelis durch die Trennungspolitik nur als Soldaten von den Checkpoints. Das Jahr 2022 war das blutigste seit Langem in diesem Konflikt. Weit mehr als 100 Palästinenser sind seit Anfang des Jahres in Razzien des israelischen Militärs getötet worden.
Buchladen in Ramallah verkauft „Mein Kampf“
Auch in den Buchhandlungen von Ramallah findet man die nationalsozialistische Hetzschrift „Mein Kampf“. Vor einem der Buchläden steht ein Aushilfsverkäufer mit seiner Frau und einer gemeinsamen Freundin und raucht. Angesprochen auf das Buch, zögert er. Dann sagt er: „Ich liebe Hitler."
Liebesbekundungen an Hitler sind keine Seltenheit, wenn man Palästinenser danach fragt, was sie über den Holocaust denken. Auch die Freundin des Buchverkäufers, eine junge Juristin mit langen braunen Haaren, stimmt mit ein.
Sie erklärt ihre Bewunderung für Hitler mit ihrer Einstellung Israelis gegenüber. „Das ist eine große Frage, wie man die Israelis loswird, besonders, weil sie die Kolonisatoren auf unserem Land sind", sagt sie – und erzählt weiter: "Meine beste Freundin wurde von den Israelis getötet. Ich wurde auch schon angeschossen. Ich bin dafür, dass Israelis verbrannt und geköpft werden. Sterbt einfach und haut von unserem Land ab. In welcher Weise auch immer, sei es durch Hitler, durch Gott oder durch uns. In welcher Weise auch immer, Palästina wird frei und unser sein.“
Holocaust kommt in Schulbüchern nicht vor
Von Ramallah durch einen Checkpoint an die Hebräische Universität in Jerusalem. Die Erziehungswissenschaftlerin Samira Alayan sitzt in ihrem Büro mit Blick auf die Sperranlage, die Israel vom Westjordanland trennt. Hinter ihr zwei Dutzend Schulbücher für das Fach Geschichte, abgesegnet von der Palästinensischen Autonomiebehörde. Mit ihnen lernen die Schülerinnen und Schüler im Westjordanland und in Gaza.
Die Universitätsdozentin Alayan untersucht, wie in diesen Schulbüchern der Holocaust dargestellt wird. Sie greift nach einigen von ihnen und breitet sie auf ihrem Schreibtisch aus. „Als ich die Bücher daraufhin untersucht habe, wie der Holocaust dort abgebildet wird – in der alten und neuen Ausgabe der Schulbücher der Palästinensischen Autonomiebehörde – habe ich festgestellt: Der Holocaust wird kein einziges Mal erwähnt, kein einziges Mal!“
Alayan ist in Beit Safafa aufgewachsen, einer arabischen Nachbarschaft südlich der Altstadt von Jerusalem, im Sechstagekrieg wurde das Dorf von Israel annektiert. Alayans Familie war eine der wenigen, die die israelische Staatsbürgerschaft beantragen konnte. Als Kind wuchs sie auf neben jüdischen Israelis und stellte bald fest, wie wenig sie über ihre jüdischen Nachbarn wusste. Zwar lernte sie mit Schulbüchern nach dem israelischen Curriculum, übersetzt auf Arabisch, doch ihr Lehrer war ein palästinensischer Israeli und ging über viele jüdische Themen eher hinweg.
Also zog die Teenagerin Alayan los, um in einer Bibliothek im jüdischen Nachbarviertel Katamon mehr zu erfahren: über jüdisches Leben und Geschichte – und den Holocaust.
Alayan schlägt ein Buch auf, genau dort, wo die Jahre 1939 bis 1947 behandelt werden. „Wenn man sich den Inhalt dieses Kapitels ansieht, 1939 bis 1947, dann sieht man all die Dinge, die während des Zweiten Weltkrieges geschahen, außerdem die Arabische Liga, Palästina in der Arabischen Liga 1945 und 1946, und man geht durch all das durch und sieht sich an, wie sie den Zionismus behandeln." Gesprochen werde nicht von Jüdinnen und Juden, sondern nur vom Zionismus und der Ideologie dahinter. "Sie sagen, dass die zionistische Bewegung nach Palästina kam und die Ideologie des Zionismus sei, unser Territorium zu besetzen und unsere Rechte zu ignorieren."
Schweigen auf beiden Seiten
Für ihre Studie fragte Alayan Beamte des Erziehungsministeriums der Palästinensischen Autonomiebehörde, warum sie den Holocaust nicht als Unterrichtsthema aufnehmen. „Die allermeisten sagten, es ist eine Reaktion." Sie wüssten, dass der Holocaust passiert ist, lehrten ihn aber nicht, weil er für die Palästinenser im Moment nicht wichtig sei. "Ich habe gefragt, wann der Moment da sein wird, dass der Holocaust gelehrt wird", sagt Alayan. "Wenn die Situation besser ist, sagten die meisten, und dass es eine Reaktion darauf sei, dass die Nakba ignoriert wird. Solange sie nicht die Nakba erwähnen und nichts von dem, was mit uns 1948 passiert ist, so lange werden wir auch nicht vom Holocaust sprechen.“
Eine Kollegin von Alayan, Nurit Peled Elhanan, analysiert die israelischen Pendants für den Geschichtsunterricht in ihrem Buch „Palästina in israelischen Schulbüchern“. Die Nakba, so die jüdisch-israelische Wissenschaftlerin, wird in keinem der israelischen Schulbücher erwähnt. 2011, als das israelische Parlament das sogenannte „Nakba-Gesetz“ erließ, wurde jede Behandlung der Nakba in Schulbüchern auch offiziell verboten.
Schulbücher setzen den Konflikt fort
Alayan führt ihre Arbeit möglichst wenig emotional durch. Doch wenn sie darüber nachdenkt, was die Schulbücher auf beiden Seiten vermitteln, sieht man ihr die Traurigkeit darüber an: „All diese Inhalte, die nur den Hass und den Krieg zeigen und den Konflikt fortsetzen." Zwölf Jahre würden sich die Schülerinnen und Schüler auf beiden Seiten diese Geschichtsbücher ansehen. "Zwölf Jahre, in denen der Feind der Palästinenser ist oder andersherum: Der Feind ist der israelische Jude. Mit diesen Bildern im Kopf beenden sie die Schule.“
Mohammed Alatar versucht mit einem Dokumentarfilm, mit diesen Bildern zu brechen. Der Filmemacher und Universitätsdozent sitzt vor dem Bildschirm in seiner Wohnung in Ramallah. Zu seiner Rechten liegt ein Stapel von Büchern über den Holocaust, unter anderem die Klassiker „Die Vernichtung der europäischen Juden“ und „Among the Righteous“ über die Rolle des Holocaust in arabischen Ländern.
Der Sechzigjährige öffnet ein Word-Dokument: Der Holocaust und die arabische Welt – Exposé zur Entwicklung eines Dokumentarfilms. „Meine Hoffnung ist, dass ich mit diesem Film ein kleines Fenster öffnen kann, für beide Seiten, das uns erlaubt, ein bisschen tiefer in die Psyche des anderen zu sehen. Was bringt Palästinenser und Palästinenserinnen dazu, so zu denken, wie sie denken?“
Auf der Suche nach einer gemeinsamen Sprache
Alatar musste in die USA gehen, um zum ersten Mal vom Holocaust zu hören. 28 Jahre alt war der damalige Politikstudent, als er zum ersten Mal von den Ghettos, Konzentrationslagern und Gaskammern erfuhr. In Gesprächen mit amerikanischen Juden, die zu seinen Freunden wurden, und einigen Holocaustüberlebenden kam er dem Ausmaß des Grauens immer näher.
Noch hat er nicht mit dem Dreh begonnen. Der Film liegt derzeit auf Halde. Es ist schwer, für einen so heiklen Film, zumal von einem palästinensischen Filmemacher, internationale Fördergelder zu finden.
Doch nicht nur die fehlenden Finanzen treiben ihn um. Er ist auf der Suche nach einer Sprache, mit der er allen Beteiligten gerecht werden kann: „Wie kann ich in eines dieser überfüllten Flüchtlingslager in Jordanien oder Syrien gehen und ihnen etwas über den Holocaust beibringen, oder ihn überhaupt erwähnen? Irgendetwas daran ist unlogisch. Für mich ist das jeden Tag ein Kampf, die richtige Sprache zu finden. Die richtige Sprache, um zu meinen eigenen Leuten zu sprechen."
Schließlich wolle er ihre Position anerkennen, weil er verstehe, woher sie komme. "Aber gleichzeitig will ich ihnen etwas Neues geben, worüber sie nachdenken können. Wir müssen Israel nicht lieben. Wir müssen die Israelis nicht morgen umarmen. Wir müssen Holocaustüberlebenden kein Geld spenden. Aber können wir bitte diese historische Tatsache anerkennen? Danach kümmern wir uns um den Rest.“