"Menschen morden, nicht Systeme"
Wie viel Verantwortung trägt der Einzelne? Diese Frage beschäftigt die Historiker insbesondere bei der Erforschung des Holocaust. Mit ihrer These "Systeme morden nicht" trat die Philosophin Bettina Stangneth auf einer Tagung im Haus der Wannseekonferenz auf.
"Systeme morden nicht, es gibt keine Uhrwerke aus Menschen. Handeln – das kann immer nur der Einzelne. Und wir handeln noch dann, wenn wir uns einreden, dazu nicht in der Lage zu sein. Weil das so ist, kann man auch jede noch so verschworene Gemeinschaft wieder in das auflösen, was wir zur Rechenschaft ziehen können und müssen: nämlich die einzelnen Menschen."
Was die Philosophin Bettina Stangneth den Teilnehmern eines Workshops zur "Geschichte der Ministerialverwaltungen im Nationalsozialismus" einzuschärfen versucht, ist auch unter Historikern längst eine Binsenweisheit: Sie kennen die Ausflüchte von Wehrmachtssoldaten, die sich auf "Befehlsnotstand" berufen. Und sie durchschauen die Verdrängungsstrategie von Schreibtischtätern, die nach Kriegsende alle Verantwortung von sich schoben mit Verweis auf "das System" der Nazidiktatur.
Bettina Stangneth: "Wie Sie wissen, erfreut sich – zumindest seit Mai 1945 – ein Modell ganz besonderer Beliebtheit, wenn man versucht, Verwaltungsinstitutionen zu beschreiben: nach dem Prinzip der Mechanik. 'Ich kann das Gerede vom Rädchen im Getriebe nicht mehr hören!', stöhnte Eichmann am Ende seines Prozesses. War das Selbstverständnis insbesondere der SS doch ein ganz anderes gewesen."
Überfällige Ergänzung zu Hannah Arendt
Denn als "Rädchen im Getriebe" hatte Adolf Eichmann sich selbst erst dargestellt, als er in Israel vor Gericht stand. Zuvor prahlte der SS-Offizier damit, wie überaus effektiv er allein die Ermordung der europäischen Juden organisiert habe.
So hat es Bettina Stangneth in ihrer historisch fundierten Studie "Eichmann vor Jerusalem" beschrieben, einem Gegenbild oder zumindest der überfälligen Ergänzung zur Philosophin Hannah Arendt, die in Eichmann die "Banalität des Bösen" erkannt hatte.
Für die Historikerin Ulrike Schulz sind beide Aspekte bedenkenswert. Bei ihrer Arbeit in der Kommission zur Erforschung der NS-Geschichte des Reichsarbeitsministeriums vermeidet sie, nur einen einzigen Ansatz zu verfolgen, allein nach den einzelnen "Rädchen" zu fragen oder ausschließlich die Bürokratie als mechanisches "Getriebe" zu betrachten:
"Die Form von Geschichte, wo man eine 'Entweder-Oder'-Formulierung organisiert, macht gerade in der Verwaltung wenig Sinn: Weil der Akteur Eichmann, auch die Person Eichmann uns genauso interessiert wie die Verfahren. Und was man wann prononciert in dieser Forschung, das muss man sich genau überlegen. Keinesfalls sollte man sich nur auf Eichmann konzentrieren, wenn es um Verwaltungsgeschichte geht."
Schlichtes Papier als Spurenträger
Verwaltungshistoriker sind darauf spezialisiert, Akten auszuwerten. Das mag ebenso bürokratisch erscheinen wie der Gegenstand, den sie doch kritisch, mit gehöriger Distanz und – wie es im Wissenschaftsdeutsch heißt – "multiperspektivisch" erforschen sollen. Gewiss: "Systeme morden nicht" – aber andererseits sind die Mörder nicht mehr unter uns. Es bleiben die Akten.
Stefanie Middendorf vom Forschungsprojekt "Geschichte des Reichsministeriums der Finanzen in der Zeit des Nationalsozialismus" schildert, wie sich schlichtes Papier als Spurenträger entpuppt, zum Gegenstand kriminalistischer Recherche wird. Und wie der "Instanzenzug" in den Fokus der Forschung rückt, denn hier lassen sich ganz konkret die Muster bürokratischer Machtausübung ablesen. Die Historikerin hat erkannt:
"Dass Instanzenzüge eine Kombination sind aus Akteuren, die man benennen kann, aus Regeln, die sie umgeben und Papiere, die sie produzieren. Und die Herausforderung liegt darin, an denjenigen, die dieses Papier unterzeichnen, abzeichnen, weiterreichen, in Dienstwege einspeisen oder auch Dienstwege umgehen – es gibt ja auch Papiere, die sich den Instanzenzügen zu entziehen versuchen – über die Akteure etwas zu erfahren."
Vorausgesetzt, Forscher lassen sich nicht von der Fülle des Aktenmaterials überwältigen. Einmal im Archiv, bedarf es einer wohl erwogenen Auswahl, immer auf Grundlage der eigenen, sorgsam formulierten Fragestellung. Schließlich müssen Daten und Fakten wissenschaftlich bewertet, in einen geschichtlichen Kontext eingeordnet werden. Dabei kann Philosophie nur von Vorteil sein. Bettina Stangneth betont:
"Dass wir immer wieder zu unserer eigenen Theorie einen Schritt zurückmachen können und fragen können: Kann man das auch anders ordnen, wie sieht es dann aus? Das ist das Interessante, das macht es auch so interessant, mit vielen Forschern zu sprechen, die eben auf ein und denselben Gegenstand aus unterschiedlicher Richtung blicken."
Entschiedener Appell zum Schluss
Stangneths Schlussappell gerät dann allerdings sehr entschieden. Ein kategorischer Imperativ, formuliert im Geiste Immanuel Kants:
"Es gibt nicht nur eine persönliche Verantwortung in arbeitsteiligen Systemen. Für den, der ihre Struktur verstanden hat gibt es auch eine persönliche Verantwortung für diese Systeme, die mit der Verantwortung beginnt, arbeitsteilige Strukturen so zu beschreiben, dass das handelnde Subjekt darin klar erkennbar bleibt – damit der Einzelne sein Verhalten jederzeit als das eigene zu erkennen und zu beurteilen in der Lage ist."
Der Einzelne, das ist auch der Leser jener Studien, die als Ergebnis der Forschungen über die Ministerialverwaltungen im Nationalsozialismus veröffentlicht werden. Und bei deren Lektüre die Historiker ihre Zeitgenossen darauf stoßen dürften: Nicht "das System", nicht "die Bürokratie" war schuld. Jeder Einzelne trägt Verantwortung, heute mehr denn je.