Gedenken an den Holocaust

Das Erinnern an die NS-Vergangenheit bewahren

Risse in den Betonstelen des Holocaustmahnmals in Berlin
Das Gedächtnis an den Holocaust wird erhalten, aber es bröckelt. Deshalb müssen neue Wege der Erinnerung gefunden werden. © picture alliance / Caro / Geilert
Immer weniger Holocaust-Überlebende können von ihren Erlebnissen während des Nationalsozialismus berichten. Wie kann auch ohne Zeitzeugen die Erinnerung lebendig gehalten werden? Und welche Rolle kann die Familiengeschichte dabei spielen?
Am 27. Januar 1945 befreiten Soldaten der Roten Armee die Überlebenden des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz im besetzten Polen. Seit 1996 wird dieses Datum in Deutschland als Holocaust-Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus begangen. Doch gibt es immer weniger Zeitzeugen, deren Stimmen eine wichtige Grundlage für Aufarbeitung und Erinnerung sind.

Wie viele Holocaust-Überlebende gibt es noch?

Im Januar 2024 lebten weltweit noch rund 245.000 Holocaust-Überlebende, ergab eine Erhebung der Jewish Claims Conference. Die meisten überlebenden Jüdinnen und Juden wohnen inzwischen in Israel oder den USA. In Deutschland lebten Anfang 2024 demnach rund 14.200 Holocaust-Überlebende. Der Erhebung zufolge war 2024 rund ein Fünftel dieser Überlebenden über 91 Jahre alt.
Viele Zeitzeugen haben ihre Geschichte immer wieder erzählt. Sie haben so die Erinnerung an Verfolgung und Leid lebendig gehalten. Das gilt für die öffentliche Debatte und besonders für Schulen: Gespräche und Begegnungen mit Holocaust-Überlebenden sind fester Bestandteil der schulischen und außerschulischen Behandlung der NS-Geschichte. In nicht allzu langer Zeit werden jedoch keine Überlebenden mehr da sein, um von den Verbrechen der Nationalsozialisten zu berichten.
Die Memo-Studie zur Entwicklung der Erinnerungskultur in Deutschland zeigt auf, dass bereits jetzt jüngere Befragte immer weniger Kontakt zu Menschen haben, die die NS-Zeit selbst erlebt haben.

Was bedeutet das Schwinden der Holocaust-Überlebenden für die Erinnerungskultur?

Die Arbeit von Gedenkstätten, Forschungseinrichtungen und Historikern muss auf dieses Verstummen der Zeitzeugen reagieren. Inwiefern sich ihre Arbeit dadurch verändern wird, dazu gibt es jedoch unterschiedliche Ansätze und Meinungen. 
Immer weniger Zeitzeugen – das bedeute "so gut wir gar nichts" für die Gesellschaft, für die Gedenkstätten, für das Wachhalten der Erinnerung, meint der Historiker Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora: „Die Frage nach der Rolle der Zeitzeugen wird sehr häufig gestellt. Was die Praxis in den Gedenkstätten anbelangt, da wird sich nicht viel ändern; da spielen Zeitzeugen schon seit 20 Jahren nicht die herausgehobene Rolle. 99,9 Prozent aller Gedenkstätten-Besucher begegnen keinem Überlebenden.“
Zeitzeugen als lebendige Quelle einer mündlichen Geschichtstradierung waren im Westen Deutschlands erst ab den 1970er-, 1980er-Jahren gefragt, 40 Jahre nach Kriegsende, als viele KZ-Überlebende schon tot waren, hebt der Historiker Volkhard Knigge hervor, der 1994 bis 2020 die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora leitete:
"Als man sie noch hätte fragen können, ist man ihnen häufig genug ausgewichen. Zeitzeugen haben den Alltag der gedenkstättenpädagogischen Arbeit in der Bundesrepublik in Wirklichkeit auch kaum mehr prägen können. Dazu kamen diese Gedenkstätten zu spät."

Was hinterlassen Zeitzeugen und wie wird damit umgegangen?

Die Erforschung des Holocaust und das Erinnern daran wird sich künftig mehr auf Orte, Bilder, Archivaufnahmen oder Filme stützen. Dokumente und Hinterlassenschaften der Zeitzeugen spielten daher eine zunehmend wichtige Rolle, sagt der Historiker Norbert Frei, Spezialist für die Geschichte des Nationalsozialismus:
„Wir haben nicht mehr die konkreten Überlebenden, die durch ihr Engagement viele junge Menschen beeindruckt haben. Aber wir haben natürlich all ihre Dokumente, all ihre Hinterlassenschaften, wir haben die Videos, wir haben ihre Bücher, wir haben jede Menge Material, das eben auch sinnvoll eingesetzt werden kann. Insofern ist mir eigentlich vor dieser Zeit nach der Zeitgenossenschaft nicht wirklich bange.“
Überlebenden ist es auch aus diesem Grund enorm wichtig, dass ihre Erinnerungen und Zeugnisse bewahrt werden. Sie oder ihre Nachfahren übergeben oft persönliche Erinnerungsstücke an KZ-Gedenkstätten, also Briefe, Fotos oder im Lager Selbstgebasteltes.

Beispiel "Arolsen Archives"

Zeitdokumente bewahren und gleichzeitig einen aktiven Umgang mit Geschichte und Erinnerung anbieten – diese beiden Ziele haben sich die „Arolsen Archives“ gesetzt, das Internationale Zentrum zur Erforschung der NS-Verfolgung. Freiwillige helfen dabei, die weltweit größte Sammlung historischer Dokumente zur NS-Verfolgung zu digitalisieren. Sie übertragen beispielsweise Daten von Häftlingskarten oder Deportationslisten in Laptop oder Smartphone. 2,5 Millionen Dokumente waren bereits 2021 auf diese Weise digitalisiert. 
Dabei gehe es um eine zeitgemäße Form der historischen Erinnerung, so Direktorin Floriane Azoulay. Denn die meisten Jugendlichen könnten mit der traditionellen Erinnerungskultur wenig anfangen. Durch die Mitarbeit am Projekt seien sie aber bereit, sich aktiv mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen: „Uns geht es darum, jüngere Generationen anzusprechen und sie dafür zu motivieren, an diesem digitalen Denkmal mitzumachen, indem sie mit ihrem Beitrag, mit ihrem eigenen Namen ein Zeichen setzen und die Namen von Opfern und deren Familien aufnehmen.“

Wo kann man die eigene Familiengeschichte erforschen?

In fast jeder Familie in Deutschland hat der Nationalsozialismus Spuren hinterlassen. Doch oft ist nicht bekannt, ob die eigenen Vorfahren Täter, Mitläufer oder NS-Opfer waren.
Die Memo-Studie zur Entwicklung der Erinnerungskultur in Deutschland zeigt, dass unter den Befragten ein deutliches Interesse an der Geschichte der eigenen Familie während der NS-Zeit besteht. Allerdings werden in den Familien vor allem Geschichten von Opfern und Helfern weitergegeben, so das Ergebnis der Umfrage. Das Wissen um Täter unter den Vorfahren ist vergleichsweise gering. Auch wird demnach in einem großen Teil der deutschen Familien selten oder gar nicht über diese Zeit gesprochen.
Wer sich auf die Suche nach der eigenen Familiengeschichte machen möchte, findet im Bundesarchiv eine gute erste Anlaufstelle. Die Suche dort vor Ort ist grundsätzlich kostenlos. Das Archiv hat eigene Hinweise zur Personen- und Ahnenforschung veröffentlicht. Grundsätzlich sind die Chancen, über dieses Archiv etwas zu erfahren, bei NS-Opfern höher als bei NS-Tätern. Wenn sich Material zur gesuchten Person auffinden lässt, kann man sich Kopien schicken lassen oder persönlich ins Bundesarchiv gehen.
Die Arolsen Archives (ehemals International Tracing Service, ITS) dokumentieren die NS-Verbrechen und ihre Opfer. Über 30 Millionen Dokumente bieten Informationen zu 17,5 Millionen Menschen, darunter Holocaust-Opfern, KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern. Online kann jeder selbst über eine Suchmaske eine Recherche starten – oder ein Anfrageformular ausfüllen und suchen lassen.
Auch in Rechercheseminaren können sich Nachkommen von Tätern und Mitläufern im Nationalsozialismus mit ihrer NS-Familiengeschichte auseinandersetzen: Wo haben die Großeltern gekämpft? Wie haben sie sich verhalten? Solche Seminare bieten auch Gedenkstätten und Vereine an, wie etwa die KZ-Gedenkstätte Neuengamme im Osten von Hamburg, die Mahn- und Gedenkstätte Steinwache in Dortmund oder der Kriegsenkel e.V. Einen ausführlichen Leitfaden zur Selbstrecherche bietet die Stadt Münster an.

leg, cs
Mehr zum Holocaust