Balanceakt zwischen Aufklärung und Gefühl
Es ist eine pädagogische Herausforderung: Aus Sicht heutiger Jugendlicher liegt der Holocaust sehr weit in der Vergangenheit. Wie Gedenkstätten in Israel und Deutschland mit dieser Schwierigkeit umgehen, hat sich Thomas Klatt angesehen.
"Yad Vashem fand ich echt gut eingerichtet. Raum der Seelen, Raum der Kinder, fünf elektrische Lichter in einem Raum voller Spiegel, so wie Flämmchen: Der Raum ist stockduster und man sieht nur die Lichter und man hört sphärische Klänge und dabei werden Namen von Opfern vorgelesen."
Der 16-jährige Albert Jäger aus Berlin hat im vergangenen Jahr an einem deutsch-israelischen Jugendaustausch teilgenommen. Dabei stand auch der Besuch der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem auf dem Programm. Im Gegenzug dann die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen:
"Und auch wichtig, dass die Israelis sich das mal angucken. Wir haben da auch einen Gottesdienst abgehalten. In der alten Station Z, da wo das Krematorium war, wo man die Juden wirklich verbrannt hat. Da haben wir Rosen niedergelegt und es war schon ziemlich emotional und wichtig."
Ist eine gefühlvolle Aufarbeitung sinnvoll?
Doch wie viel Gefühl ist bei der Geschichtsaufarbeitung sinnvoll? Der Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen, Günther Morsch, freut sich, dass unter den jährlich rund 600.000 Besuchern besonders viele Schüler sind. Aber er weiß auch um die Gefahren des authentischen Ortes:
"Weinen bildet nicht, und genau das ist das Problem an der Sache. Weil die Gefahr, überwältigt zu werden, lauert hier an jeder Ecke. Gehen Sie in die jüdische Baracke, gehen Sie in die Leichenkeller, gehen Sie in die Revierbaracke, gehen Sie in die jüdische Baracke. Da haben unsere Pädagogen eher das Problem bei dieser Fülle an Emotionen, die solche Orte freisetzen, noch zu versuchen, den historischen Kontext zu vermitteln."
In Sachsenhausen sucht man die Balance zwischen Emotion und Wissensvermittlung. Einerseits gibt es berührende Hörstationen schon am Eingang des rund 40 Hektar großen Geländes. Andererseits fordern Schrifttafeln, Lernstationen und PC-Arbeitsplätze in ehemaligen Baracken und Nebengebäuden zum Eigenstudium auf. Vor allem brauche es eine fundierte Vor- und Nachbereitung in den Schulen.
Günther Morsch: "Wenn ich unsere Pädagogen höre, dann sagen sie heute, bevor eine Führung auf den Ort sich einlässt, müssen wir etwa ein Drittel des geplanten Zeitbudgets dafür einsetzen, Grundlagen wieder zu vermitteln. Wir die Gedenkstätten können keine Bildungsorte sein, die alle Arbeit allein erledigen. Den Anspruch haben wir nicht, sondern wir sind Mosaiksteine."
Betroffenheit kann nicht verordnet werden
Auch gebe es in der modernen Pädagogik so etwas wie ein Überwältigungs-Verbot. Betroffenheit könne man nicht von oben verordnen. Matthias Heyl, pädagogischer Leiter in der Brandenburger Gedenkstätte Ravensbrück:
"Es gibt Lehrerinnen und Lehrer, die von mir erwarten und das vor einer Führung sagen, dass ich bitte bestimmte Themen berühren sollte, dass man lange stehen sollte auf dem ehemaligen Appellplatz, damit die Jugendlichen ein Gefühl dafür entwickeln, wie das für die Häftlinge gewesen sei.
Dann haben sie nicht viel begriffen über das, was den Häftlingen in der Appellsituation geschehen ist. Und es haben die ehemaligen Häftlinge, die überlebenden Opfer, nicht verdient, dass man ihre Geschichte gebraucht. Jede Choreografie der Emotionen ist eine, die Jugendliche eher zu einer Abwehr führt."
Ein Gedenkstätten-Besuch sei kein Automatismus. Die direkte emotionale Konfrontation allein mache noch keine gelungene Geschichtsaufarbeitung aus. Schüler könnten sich schnell überrumpelt fühlen, sich gar aus Protest mit den Tätern identifizieren.
Matthias Heyl: "Der Wunsch, der manchmal bei Lehrerinnen und Lehrern formuliert wird, dass das Lernziel Empathie bei uns in der Gedenkstätte erreicht werden soll, so diese schnelle Idee aus einer Opferidentifikation in eine emotionale Gemengelage zu kommen, die es einen ermöglicht, gegen Rechtsextremismus und Vorurteile immunisiert zu sein, das funktioniert nicht."
Noa Mkayton: "Ich bin ja in die Schule gegangen in Deutschland bei Lehrern der '68er-Generation, die hatten wir wissen ne sehr konkrete hidden agenda, unterrichtet mit dem Impetus, der von uns Schülerinnen und Schülern sehr genau abverlangt hat, wie wir reagieren sollen, hier entrüstet und hier wütend und hier betroffen und hier emotional und das darf nie wieder passieren. Das ist sehr problematisch."
Yad Vashem bildet Lehrer aus
Noa Mkayton von der Internationalen Schule für Holocaust-Studien an der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem bildet Lehrer aus. Auch deutsche Pädagogen-Gruppen sind hier zu Gast.
Noa Mkayton: "Wir sind in einer neuen Ära des Unterrichtens angekommen. Wir versuchen jetzt sehr viel stärker, die Realität der Lernenden einzubeziehen und anzufangen mit der Geschichte der Lernenden. Das heißt, es ist nicht per se wichtiger sich mit der Geschichte eines Shoah-Opfers auseinanderzusetzen als mit seiner eigenen Geschichte."
Geschichtsunterricht müsse heute auch aus der Ego-Perspektive stattfinden. Denn was interessiert mich die dunkelste deutsche Geschichte, wenn meine Eltern und Großeltern etwa aus der Türkei, Afrika oder Vietnam stammen? Geschichte wird relevanter, wenn der Bezug zur eigenen Biografie hergestellt wird.
Noa Mkayton: "Wenn Sie die Lernenden-Gruppe wären, würde ich Sie einladen mit Hilfe eines kleines Erinnerungsobjektes, das sie mitbringen können von zu Hause, einen kleinen Ausschnitt ihrer eigenen Familiengeschichte zu erzählen. Und dann in einem nächsten Schritt erst würden wir diese Geschichten vorübergehend beiseitestellen und uns mit gleichwertig wichtigen Geschichten aus der Shoah befassen."
Aus Dokumenten werden Geschichten
Es geht um Erinnerungen, Memoiren, Tagebücher, Briefe, Fotos. Daneben werden den Schülern aber auch historische Dokumente wie etwa Deportationslisten vorgelegt.
Noa Mkayton: "Das ist im Prinzip das, was Historiker auch machen, aus einem Wust von Dokumenten Geschichte erstellen und sie auch erzählen. Es geht hier auch um narrative Kompetenz, die erlernt werden soll. Diese Geschichten werden dann erarbeitet und erzählt. Wir verstehen dann auch gleich, dass Geschichte erzählt wird, dass sie konstruiert ist. Wir müssen viel viel mehr unseren Lernenden die Gelegenheit geben, sich eigenständig, selbstständig zu positionieren und sich zum Ausdruck zu bringen und viel viel weniger darauf zu bestehen, weil wir vielleicht zu wenig Vertrauen in die Lernenden haben, dass sie adäquat das jetzt aufnehmen."
Und da erlebt die Historikerin Noa Mkayton schon einen Unterschied zwischen den Ländern. In Deutschland werde mehr die Geschichte der Täter erzählt, in Israel mehr die Perspektive der Opfer eingenommen.
Noa Mkayton: "Das Ghetto ist zum Beispiel so ein Dreh- und Angelpunkt, an dem man sehr gut demonstrieren kann, was die jüdische Perspektive auf dieses historische Ereignis Shoah ist, also tatsächlich die Perspektive der Opfer. Denn das ist die andere Seite der Wahrnehmung. Wir sehen immer wieder, dass deutsche Pädagogen, pädagogische Lehrwerke immer noch sehr, sehr stark fokussiert sind auf die Perspektive der Täter."