Holocaust-Quellenedition

Gegen Mythen und Legenden

Eine Frau mit buntem Hut steht am 09.12.2013 in Berlin im Nieselregen zwischen den Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin.
Eine Frau steht zwischen den Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin. © picture alliance / dpa / Teresa Fischer
Von Philipp Gessler |
Mit einem editorischen Großprojekt werden Dokumente zur Judenverfolgung und zum Judenmord 1933-45 zusammengetragen. Bis 2019 sollen 16 Quellenbände erscheinen, die Opfer, Täter und Zeitzeugen zu Wort kommen lassen.
Ein weitläufiges Grundstück mit vielen alten Bäumen, darauf ein Backsteinbau mit großen Fenstern in Berlin-Lichterfelde. Hier entsteht eine Quellenedition, die die Schrecken des vergangenen Jahrhunderts noch einmal gegenwärtig macht:
"Vorwärts, laufen" heißt’s nun und die fünf Mann werden in ihr offen stehendes Grab getrieben. Der letzte, ein alter, ziemlich krummer Jude erhält noch einen Tritt in das Achterteil und landet mit Schwung im Graben. Hier und da ertönt ein rohes Lachen. Hier und dort recken sich Hälse, um nur ja nicht etwas von diesem Schauspiel zu entbehren. Die fünf Delinquenten stehen nun mit dem Kopf Gesicht an der Grabenwand. … Ein SS-Feldwebel gibt das Kommando. "Fertigmachen!" Zehn Gewehre richten sich auf die Nacken der Verurteilten."
Tagebucheintrag eines Wehrmachtsangehörigen vom 15. Juli 1941. Er beobachtet die Massenerschießung von Juden im lettischen Liepāja, auf Deutsch: Libau. Mit solchen Quellen hat Susanne Heim jeden Tag zu tun. Die Historikerin leitet ein knapp 20-köpfiges Team, das 16 Quellenbände herausgibt zur "Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland" – so der Titel. Bis 2019 soll die Edition komplett sein. Das ganze Projekt wird rund acht Millionen Euro kosten.

300 Quellen pro Band

"'Feuer.' Wie ein scharfer Peitschenknall hören sich die Schüsse an. Das Peloton tritt zurück. Man sieht, wie einige der Schützen sich sofort umdrehen, einige andere schauen interessiert in den Graben; in dem die Delinquenten zusammengesunken sind."
Die riesige Sammlung an Quellen, die Susanne Heim mit ihrem Team zusammenträgt, soll zeitlich und örtlich geordnet das Geschehen von 1933 bis 1945 widerspiegeln. Anhand von Notizen, Erlassen und auch Tagebucheintragungen der Opfer, Täter und Zeitzeugen. Pro Band sind es stets rund 300 Quellen, oft erstmals veröffentlicht. Für Susanne Heim geht es nicht zuletzt darum, den Mythen und Lügen im Internet etwas entgegen zu setzen:
"In einer Situation, wo immer mehr unkommentiert durchs Internet geistert, eine repräsentative Zusammenstellung von kommentierten Quellen zu machen, so dass man die einzelnen Schreiben nicht einfach aus dem Zusammenhang reißen kann, um dann da rein zu interpretieren, was einem gerade so passt. Das ist schon mit die Idee dabei."

Die Zeitzeugen sterben allmählich

Adolf Hitler: "Ich habe am 3. September im deutschen Reichstage schon ausgesprochen, und ich hüte mich vor voreiligen Prophezeiungen, dass dieser Krieg nicht so ausgehen wird, wie die Juden es sich's vorstellen, nämlich dass die europäischen, arischen Völker ausgerottet werden, sondern dass das Ergebnis dieses Krieges die Vernichtung des Judentums ist (Jubel)."
Notorische Holocaust-Leugner wird man mit einer Quellenedition nicht beeindrucken. Auch nicht das Leugnen und Lügen im Internet verhindern.
Susanne Heim: "Es geht darum, Dokumente zusammenzustellen zur Judenverfolgung in einer Zeit, in der einerseits die Zeitzeugen allmählich sterben, und auf der anderen Seite die Diskussion über die NS-Vergangenheit und die Judenverfolgung unter der nationalsozialistischen Regierung sich zunehmend entfernt von den eigentlichen Quellen und zu einer Diskussion über den Umgang mit der NS-Vergangenheit wird. Es geht uns bei der Edition auch darum, die Aufmerksamkeit auf das eigentliche Geschehen zu lenken - und um die Auseinandersetzung mit den Dokumenten, die wir dazu haben."

Gleichgültigkeit und Befriedigung

"Alles geht ruckzuck. Die ganze Exekution hat nur wenige Minuten gedauert. Das Peleton steht zusammen, erzählend und rauchend. Ich studiere die Gesichter der Umstehenden. Teilnahmslosigkeit, Gleichgültigkeit oder Befriedigung steht in ihnen geschrieben."
Der am 23. Februar im Centrum Judaicum unter der goldenen Kuppel der Neuen Synagoge in Berlin-Mitte vorgestellte achte Band der Edition schildert vor allem die Verfolgung und Ermordung der Juden in Weißrussland und der Ukraine. Das Ausmaß der Verbrechen gerade in diesen Ländern ist bis heute kaum in unser Bewusstsein gedrungen. Besonders eindrucksvoll und erhellend sind die Quellen, die den Holocaust aus der Sicht der Verfolgten beschreiben: heimliche Notizen auf der Flucht vor den Mördern, Aussagen zum Widerstand gegen die Verfolgung, verzweifelte Rachegedanken. Im starken Kontrast dazu die Quellen, die die Kaltblütigkeit beschreiben, mit der die deutschen Besatzer ihr Morden betrieben.
Susanne Heim: "Wenn man sich dann vor Augen hält, dass die Leute, die daran beteiligt waren, ja zum großen Teil auch aus dem Krieg wieder gekommen sind und dieses Land aufgebaut haben, dann kann es einem auch gruseln."
Mehr zum Thema