Rahel soll leben
Rahel Mann, geboren 1937, verbrachte die Nazizeit in Berlin. Zunächst getarnt als "arisches" Kind bei Nachbarn, zuletzt versteckt in einem Keller in Schöneberg. Sie hat es geschafft trotz der widrigen Umstände ihr Leben nicht zu erleiden, sondern zu gestalten. Diese mutige Frau sagt, die Deutschen lehnen das Fremde, das Andersartige bis heute oft ab.
Rahel Mann: "Das hat für mich nichts mit Zurückgehen in die Kindheit zu tun, sondern damit, dass ich denke, solange ich lebe, ist es meine Aufgabe ein Stück dieser deutsch-jüdischen Geschichte weiterzugeben. Weil sonst alles Geschichtliche den Kindern der zweiten, dritten und vierten Generation zum Gegenstand wird, der weit weg ist. Durch einen lebendigen Menschen wird es ein bisschen näher. Aber eigentlich ist mein tiefster Gedanke, ich kann aufzeigen, dass man sich von solchen Situationen – egal ob Weltkrieg, Kampf oder Tod – nicht unterkriegen muss, man muss nicht krank werden, nicht verzweifeln, man ist aufgerufen, daraus ein lebendiges Leben zu formen und nicht schon von vornherein Gräber zu bauen."
Rahel Mann ist auf dem Weg zum Rathaus Schöneberg, dort wo einst Willy Brandt regierte und John F. Kennedy seinen Satz "Ich bin ein Berliner" in die Welt schickte. Ihr langer, roter Mantel weht im Wind, die grauen, nach hinten gekämmten Haare auch, die Augenlider sind hellblau geschminkt. Ein Lieferwagen stellt sich ihr in den Weg, Rahel Mann hält Kurs. Sie wird nicht übersehen: Nicht auf der Straße, nicht, wenn sie auf einem Podium oder vor einer Schulklasse als Zeitzeugin erzählt. Rahel Mann, vor 76 Jahren hier in Berlin-Schöneberg geboren, nimmt die Stufen der breiten, repräsentativen Treppe in einem beeindruckenden Tempo.
"Ich bin sozusagen hier großgeworden und früher immer Paternoster gefahren. Den gibt es da hinten, der darf aber nicht mehr benutzt werden..."
Der Goldene Saal, in dem gestern noch ein Paar getraut wurde, ist umgebaut und aufgestuhlt. Etwa ein Dutzend Zuhörer sind schon da, Rahel Mann wird herzlich begrüßt, man kennt sie hier.
"Da vorne, die haben das heute umgestellt. Ich grüße Sie! Herr grüßt ebenfalls: Da ist meine Frau. Rahel lacht: Immer hinterher"
Herr: "Es sind auch ein paar gekommen auf meine Ankündigung...."
Zum Glück wusste sie wenig
Seit 2010 ist die Dauerausstellung "Wir waren Nachbarn" im Parterre des Rathaus Schöneberg untergebracht. In rund 140 Fotoalben ähnlichen Mappen können Besucher blättern und die Lebens- und Leidensgeschichte jüdischer Bürger aus Berlin Schöneberg und Tempelhof erfahren. 1933 lebten rund 18 000 Juden in diesen beiden Bezirken, die Nazis ermordeten die meisten von ihnen. Auch Rahel Manns Album liegt unten aus, es dokumentiert das seltene Glück des Überlebens. Als Kind versteckten sie Nachbarn, zuletzt fast ein halbes Jahr allein in einem Kellerverlies. Rahels Mutter war diese Zeit über im Konzentrationslager und leistete Zwangsarbeit.
"Ich habe ja nie Sachen gesagt bekommen. Damals wusste ich das alles nicht, ich wusste auch nicht, dass ich Jüdin bin. Meine Mutter war arbeiten – vom Lager wusste ich auch nichts und andere mussten auf mich aufpassen. Das war so die neutrale Version, die man mir gesagt hatte, damit ich mich nicht verquatsche."
Die Stuhlreihen im Raum füllen sich, vorne zwei Sessel, Scheinwerfer und Mikrofone. Rahel Mann bahnt sich den Weg zum Licht, sie hat hier schon oft als Zeitzeugin gesprochen. Nervös ist sie nicht, im Gegenteil, sie genießt es. Nur würde es sie langweilen, sich immer zu wiederholen:
"Wenn ich immer alles erzähle, würde ich acht Stunden reden. Da sortiere ich auch aus, aber das mache ich alles intuitiv. Und dann bleibt immer Einiges am Rande liegen und Leute, die mich schon gehört haben sagen, dann: Aber damals da haben sie zu dem und dem, und dann sage ich: Naja...."
Veranstalterin: "Wir müssen relativ pünktlich anfangen, weil die Leute heute noch auf Führung wollen...
Die Veranstalterin drängt zur Eile, nimmt das Mikrofon:
Veranstalterin: "Guten Tag, meine Damen und Herrn, einen schönen Nachmittag, so wir wollen heute pünktlich anfangen. Rahel Mann haben einige von Ihnen schon zwei, drei Mal hier im Rathaus sprechen gehört, heute ist es aber ein ganz besonderer Schwerpunkt, nämlich aus Anlass des Buches "Uns kriegt ihr nicht'"
Das Unfassbare fassbar machen – mit einer subjektiven Erzählung
Rahel Mann hat in ihrem Sessel Platz genommen. Heute ist der Ablauf einmal ungewohnt. Bevor sie die viele Fragen zu ihrer Kindheit, den Verstecken und Helfern beantwortet, werde ich aus meinem Buch vorlesen. Es heißt "Uns kriegt ihr nicht". Zusammen mit einem Kollegen habe ich darin ihre und die Geschichte von 14 anderen versteckten Juden aufgeschrieben. In der Ich-Form. Es ist mein Versuch, das, was Rahel Mann passiert ist, an ihrer Stelle festzuhalten und für die später Geborenen lebendig zu machen - so wie sie es mir in vielen Gesprächen erzählt hat.
Rahel Mann lehnt sich bequem zurück, hört mir beim Lesen zu als sei es eine fremde Geschichte und nicht die eigene. Ich beginne am Anfang: 1937, das Jahr, in dem sie zur Welt kam - als uneheliches Kind. Ihre Mutter hatte mit Rahels Vater nur eine einzige Nacht verbracht. Sie wollte das Kind eigentlich nicht behalten.
Autorin liest: "Ich weiß von einer Freundin meiner Mutter, dass meine Mutter versucht hat mich loszuwerden, als sie mit mir schwanger war. Das ist ihr nicht gelungen. Sie hat mich nie gewollt. Das war mein Glück. Ich habe als kleines Kind keine heile Familie, keine zärtliche Mutter, kein geborgenes Zuhause gekannt. Deswegen hat es mir im Versteck auch nicht gefehlt."
Ein paar Tage zuvor bin ich mit ihr in Schöneberg unterwegs. Wir suchen das Wohnhaus, in dem ihre Mutter eine Wohnung zugewiesen bekam und in dem Rahel später im Keller versteckt wurde – von einer Nachbarin. Rahel ist gut gelaunt. Sie hat ein Kleid mit roten Mohnblumen angezogen, ich kann kaum mit ihr Schritt halten.
"Also wir gehen jetzt die Eisenacher, bis über die Ampel. Ich glaube in die nächste rein, ist die Lindauer und dann stoßen wir schon auf die Starnberger..."
Sie kennt das Viertel gut, weiß, wo welche Häuser weggebombt, wo welche neu gebaut wurden. Denn auch nach dem Krieg bleibt Rahel Mann lange hier. Mit 60 wandert sie nach Israel aus, für zehn Jahre, kehrt aber nach Berlin zurück. Wieder nach Schöneberg, in eine Wohnung ganz in die Nähe des Hauses, in dem sie als Kind versteckt war.
"Ich bin gerne hier wieder und ich gehe hier rum als die, die ich mal war und als ganz Neue. Also ich kann das beides erleben, so alte flüchtige Erinnerungen. Aber das Heutige ist mir viel wichtiger, was sich hier entwickelt hat mit den Geschäften. Mit den Menschen. Ich wohne ja im sogenannten Schwulenviertel. Und als ich Kind war, durfte ich in diese Gegend nicht gehen, weil es bekannt war als das Nuttenviertel. "
Erste Erinnerungen
Ihre ersten paar Lebensjahre wuchs Rahel Mann, wie sie 2007 aus Akten erfuhr, bei einer Pflegefamilie auf. Erst als Vierjährige holt ihre Mutter sie zu sich in die Starnbergerstraße 2, in die sie zusammen mit einer anderen jüdischen Familie zwangseinquartiert werden.
"Ja, meine erste Erinnerung ist von 1941 in der Starnbergerstraße. Relativ spät, da war ich schon vier. Da gab es einen Tannenbaum, ich habe eine Puppe geschenkt bekommen, die ich später Nuckelpuppe getauft habe. Und ich hatte die ausgepackt und da war irgendetwas, dass meine Mutter die wegriss. Aber die genauen Zusammenhänge weiß ich nicht. Ja, das ist so eine der ersten Erinnerungen, die ich habe. Und die ist erst später wieder aufgetaucht."
Über der Starnberger steht jetzt die Mittagssonne, es ist eine kurze Straße, acht Wohnhäuser nur. Vor einem weißen Gründerzeit-Haus, aus dessen Fassade sich schöne Erker erheben, bleibt Rahel Mann stehen. Als Kind lebt sie im Hinterhaus, seit damals war sie nur zweimal wieder hier.
"Ich bin aus der Nummer 2, hier waren die Röttchers, die Familie mit den drei Töchtern, die meine Mutter verraten haben."
Rahel ist fünf, als Nachbarn ihre Mutter verraten und diese nach Oranienburg ins Lager deportiert wird. Daran kann sie sich nicht mehr erinnern - aber, dass ein paar Wochen später die jüdische Familie, die mit ihnen in der Sternwohnung lebt, von der Gestapo abgeholt wird.
"Dabei wurde ich fast mitabgeholt. Aber die hatten auf ihrer Liste nur das Ehepaar und die vier Kinder. Das muss so '42/'43 gewesen sein, wahrscheinlich schon 42. Und ich wäre das 5. Kind gewesen. Und Frau Vater kam und rettete mich und sagte: Die gehört zu mir, ohne Erklärung weiter. Irgendwann hat sie mal gesagt: Dat ist meine Nichte oder irgend sowas. Und die hat mich da weggeholt und zu einer Witwe im Parterre gebracht, im Vorderhaus. Und da habe ich mitgekriegt, wie die abtransportiert worden sind. Mit der grünen Minna."
Mann: "Hier ist jetzt ein Anwalt drin und das ist jetzt das Fenster, wo ich zugeguckt habe, als die Familie abgeholt wurde..."
Vor dem Wohnhaus in der Starnberger wachsen Rhododendron-Büsche im Vorgarten. Rahel Mann biegt die Äste zur Seite, tritt ganz dicht an das Balkonfenster im Erdgeschoss. Vor der Deportation gerettet wurde sie damals von der Frau des Blockwarts im Haus, ein Frau mit dem Namen "Vater". Sie bringt Rahel zu einer Nachbarin. Vom Fenster aus muss sie mitansehen, wie die Familie verladen wird:
"Und da habe ich hinter der Gardine gestanden und ich war da alleine und sah die Szene. Hörte nicht, was gesprochen wurde. Kriegte nur mit, dass der eine die Mutter anschrie, der Vater und die älteren Kinder waren schon im Wagen und sie hatte das Jüngste auf dem Arm und da hat er ihr das Kind entrissen, es an den Wagen geschlagen, hat es da kräftig dagegen geschlagen. Dass das dann geschrien hat, habe ich gehört. Aber das Schlimmste für mich war, das war ja schon schlimm, drüben im Haus, gar nicht weit weg vis a vis, standen überall Leute hinter den Gardinen wie ich und es passierte nichts. Das habe ich überhaupt nicht verstanden als Kind."
Der Mann in der rettenden Wohnung
Bis Kriegsende bringt Frau Vater Rahel immer wieder bei wechselnden Helfern unter, am Ende versteckt sie sie hier im Keller des Hauses. Draußen wollten die Hausbewohner eine Gedenktafel für die verstorbene Retterin stiften. Rahel Mann geht Richtung Hauseingang, sucht danach, doch da ist keine. Sie drückt die Klinke der schweren Holztür, sie will in den Innenhof, um wenigstens die Fenster ihrer früheren Wohnung im dritten Stock zu sehen. Doch die Tür ist verschlossen.
"Wo finden wir denn vielleicht jemanden, wir klingeln jetzt einfach mal hier…Ich glaube nicht, dass hier jemand ist..."
Erst rührt sich länger nichts, doch dann:
Gegensprecher: "Ja bitte?"
Mann: "Hallo, mein Name ist Mann, können wir mal bitte ins Haus? Ich habe hier früher gewohnt."
Gegensprecher: "Sind Sie Frau Mann?"
Mann: "Ja, (Summer) Wer das jetzt war, weiß ich gar nicht, das war vielleicht Herr Köhler..."
Im Innenhof kommt uns ein schmaler Herr mit Brille entgegen, Andreas Köhler, früher hat er dieses Haus verwaltet, jetzt wohnt er hier. Er kennt Rahel Manns Geschichte. Beide haben sich auch schon einmal gesehen.
Köhler: "Hallo, ich muss Ihnen doch Guten Tag sagen."
Mann: "Hallo, sind Sie hier?"
K: "Wir sind im Hinterhaus."
M: "Das ist ja eine Überraschung, früher war hier ihr Büro"
K: "Ja, das Haus verändert sich."
Mann: "Und sie wohnen hier. Da? Das ist die ehemalige Wohnung von Frau Vater."
Köhler:" Ja, Ich habe gerade einen Freund aus Jugendtagen zu Besuch, und bitte sie gerne noch bei mir auf Balkon zu Glas Wein oder Aperitif. Wir essen gerade."
M: "Und Sie essen warm? Ja, dann sofort zurück...."
Spontan lädt er uns ein hereinzukommen, weil er jetzt in der Wohnung der einstigen Retterin Frau Vater wohnt. Ohne zu zögern folgt Rahel Mann ihm. Das letzte Mal war sie ein Kind, als sie in dieser Wohnung stand, fast 70 Jahre sind vergangen.
"Ich war noch einmal da mit meiner Mutter in der Nachkriegszeit mit einem Blumenstrauß, sollte ich mich bedanken, kriegte aber die Klappe nicht auf. Und als wir uns dann verabschiedeten, weiß ich, da habe ich mich bei der Frau angelehnt und sie umarmt und geheult und bin wortlos von dannen gegangen. Die war nicht sehr herzlich, aber die hat mich an sich gedrückt oder mich an die Hand genommen, da habe ich mich wohl gefühlt."
Drinnen geht sie voran, öffnet neugierig die Türen zu den lichten Räumen, Köhler hinterher. Er hat viel umgebaut: Dort wo einst das fensterlose Bad war, ist jetzt eine Essecke mit großem Fenster, dort wo das Nachbarhaus stand, führt eine Tür zur einer kleinen Terrasse, weil die Bombenlücke nie mehr bebaut wurde.
"Als ich hier so 1944 und auch 43 ab und zu mal hier war, das war für mich ein ganz dunkles Loch. Alle Räume sehr sehr dunkel, mit dunklen alten so massigen Möbeln. Dunkel."
Der Ehemann von Frau Vater war der Blockwart des Viertels, dazu angehalten, Juden zu melden und darauf zu achten, dass die schikanösen Vorschriften gegen Juden in den Sternwohnungen eingehalten werden.
"Aber der hat in mir keinen Eindruck hinterlassen, weil er nie mit mir gesprochen hat. Immerhin mich auch nicht verraten hat, er war ja Blockwart, war in der Partei..
Köhler: "Auch schizophrene Biografien, dass Menschen nach außen hin was vertreten haben, und dann sich im Privaten ganz anders verhalten haben.
M: "Ich glaube, der hatte neben seiner Frau nichts zu melden."
Ehemaliger KZ-Lagerleiter bittet sie um eine Therapie
Draußen auf der Terrasse am gedeckten Tisch sitzt der Besuch von Andreas Köhler, sein alter Schulfreund, ein Berufsschullehrer aus NRW. Es ist noch frisch, ein kalter Wind weht. Rahel merkt das gar nicht, weil sie so viel erzählt. Auch sie arbeitet - solange ihre eigenen Kinder noch klein sind - als Lehrerin. Später nimmt sie ihr Medizin- und Psychologie-Studium wieder auf und eröffnet eine Therapiepraxis. Einige ihrer Patienten sind selbst NS-Opfer, aber auch ein ehemaliger KZ-Lagerleiter kommt kurz vor seinem Tod zu ihr, bittet um Hilfe:
"Aber das wusste ich schon vom Hören-Sagen und dann habe ich gesagt: 'Nein, ich schmeiße Sie aber nicht raus. Sie brauchen jetzt meine Hilfe und sie kriegen sie auch. Und ich finde das ganz selbstverständlich.'"
Köhler hat ein Glas Wein und etwas Käse gebracht, er und sein Freund stellen Rahel Mann viele Fragen, vor allem über das Kellerversteck im Haus. Rahel Mann nimmt sich vom Käse.
"Der schmeckt lecker der Käse, hmm"
Köhler:" Hier kommt der Blaue."
Mann: "Danke!"
Sie isst und redet. Jetzt geht es darum, wie sie von November '44 bis zur Befreiung im Mai '45 durch die Russen als Siebenjährige alleine im Verschlag saß, versorgt von Frau Vater.
"Ich habe mich im Keller behütet gefühlt, aufgehoben. Das hat mir überhaupt keine Angst gemacht, aber Stiefel und Sirenen und Menschen mit Gewehrkolben – so was hat mir Angst gemacht."
Köhler: „Ab in den Keller, jetzt geht es los.“
Rahel Mann würde gerne den Keller sehen, verdrängen ist nicht ihre Sache. Also holt Köhler den Schlüssel, sie zieht sich vor dem Spiegel im Gang noch schnell die Lippen rot nach, dann führt sie fast fröhlich das kleine Grüppchen an, das ihr folgt, die Treppe im Hof hinunter:
Mann: "Ach schön frisch. War das Licht schon oder haben sie angemacht? Wo ist das Vorderhaus von dem Rechtsanwalt jetzt?"
K.: "Hier..".
Unten ist sie zuerst verwirrt, dann findet sie den ehemaligen Verschlag:
"Ach ja guck, hier ist ein Lichtschlitz. Dann stand hier der Kleiderschrank, dahinter meine Matratze und ich hatte beide Lichter im Blick sozusagen. Total anders jetzt. Tschuldigung. Das war der Raum, offensichtlich... "
Köhler: "Der jetzt ein Aktenkeller ist."
Allein im Keller, aber geborgen
Während sie sich umsieht, lächelt sie. Fast ein halbes Jahr verbringt sie damals hier unten. Verborgen zwischen Gerümpel und einem großen Schrank, hinter dem ihre schmale Matratze liegt. Tagsüber fällt etwas Licht durch die vernagelten Kellerfenster, die nun zwar offen, aber verstellt sind.
Der Raum kommt ihr noch kleiner vor als damals, mit drei-vier Schritten durchmisst sie ihn jetzt. Als Gefängnis hat sie ihn aber nie empfunden, eher als Schutzraum. Frau Vater versorgt sie, bringt ihr Essen und heißen Tee, leert den Eimer, der ihre Toilette ist. Meist ist Rahel aber allein hier unten, erinnert sie sich.
"Und ich hatte ein Kinderbuch, wo ich das her hatte, weiß ich nicht. Das hatte ich schon länger. Und da hatte ich mir von Frau Vater immer Vierzeiler vorlesen lassen, und habe so das auswendig gelernt und mir das zusammengesucht. Das war eine Förstergeschichte. Ich wollte als Kind auch immer einen Förster heiraten. Das Buch gab es hinterher nicht mehr, wahrscheinlich ist es im Keller auf der Matratze liegengeblieben und hinterher in Müll."
Heute lagert ein Rechtsanwaltskanzlei seine Akten hier. Regale - mit hunderten Leitz-Ordnern gefüllt - sind an die Wände gerückt.
Verändern heißt für sie nicht vergessen
Ihr gefällt, dass der Ort eine neue Funktion und Bedeutung bekommt. Das Leben einfach weitergeht. Denn verändern heißt für sie nicht vergessen. Rahel geht wieder nach oben ans Licht.
Mann: Manche werden auch aufs Leid trainiert.
Mann: So Dankeschön. Tschüss und vielen Dank.
Köhler: Hoffe dass sie noch öfter vorbeikommen.
Mann: Mal sehen!
Rahel ist sieben, als sie von der Sowjetarmee aus dem Keller befreit wird. Endlich darf sie zur Schule gehen. Sie ist eine eifrige Schülerin, wenn auch anfangs etwas still, ans Sprechen nicht gewöhnt. Ihre Mutter kehrt aus dem Lager zurück, am Leben, aber schwer TBC-krank und depressiv. Nur nicht so werden wie die Mutter, am Ende nicht doch noch ein NS-Opfer sein - das ist Rahel Mann sehr wichtig:
"Es gibt natürlich auch krisenhafte Momente. Mit siebzehneinhalb wollte ich mir das Leben nehmen, weil ich mich gefragt habe, warum sind die alle tot und warum habe ich überlebt? Ist doch alles schrecklich! Ich habe mit 14 Jahren angefangen Tagebuch zu schreiben und zwar kontinuierlich. Vom 14.bis zum 20. Lebensjahr. Und da habe ich mit Gedanken, Dialogen, Recherchen mit allem Möglichen versucht, alle diese Dinge für mich zu verarbeiten."
Im Gegensatz zur Mutter verdrängt Rahel Mann das Erlebte nicht, sondern thematisiert es. Zuerst in ihrem Tagebuch, später als Lehrerin für Deutsch und Geschichte.
"Manche waren da gar nicht so begeistert davon. Ich denke bis heute nicht. Es gab auch Elternhäuser mit sehr rechten Ansichten. Und im Unterricht war ich da sehr heftig mit meinen Ansichten auch in der Äußerung derselben. Aber ich habe dabei auch gelernt zu reden, die ersten acht Lebensjahre habe ich ja den Mund nicht aufgekriegt. In der Grundschule stand immer im Zeugnis: 'R. muss sich mehr am Unterricht beteiligen'. Und dann als ich dann Klassensprecherin war, musste ich reden, das habe ich immer als Schulung genommen. Später war ich mit einem Mann in der SPD, zehn Jahre lang, und da habe ich das Reden gelernt. Und da habe ich auch gelernt, wichtige Dinge zu sagen und unwichtige wegzulassen. Und die Genossen und so - es gibt ja immer das Vorurteil, Frauen schwatzen soviel - da konnten Sie erleben, dass das umgekehrt ist."
Und auch als Lyrikerin hat Rahel Mann in drei Gedichtbände immer wieder Autobiographisches festgehalten. Ihre vorerst letzte Rolle hat sie als Zeitzeugin vor Publikum gefunden, wie jetzt im Goldenen Saal des Rathaus Schöneberg.
Die deutsche Ablehnung des Fremden
Meine Lesung aus dem Buch ist zu Ende. Die Zuhörer haben viele Fragen an Rahel Mann. Kann sie nachts ohne Albträume schlafen? Warum hatte sie im Keller keine Angst? Besitzt sie das Kinderbuch mit dem Förster noch? Und vor allem: Was denkt sie heute über Deutschland? Fühlt sie sich hier wohl?
Rahel Mann überlegt ein paar Momente, bevor sie die letzte Frage mit Ja beantwortet. An Deutschland schätzt sie den aufgeklärten Umgang mit der NS-Zeit und ihren Verbrechen. Das Fremde aber lehnen die Deutschen zu sehr ab.
"Also manchmal denke ich: Haben wir den Krieg erlebt? Haben wir Erfahrungen gemacht? Haben wir neu auf die Dinge geguckt? Machen wir etwas anders? Nein! Das Fremde ist uns fremd, wird nicht geliebt, wird nicht beachtet, wird nicht so behandelt wie die sogenannten Nächsten, die nicht so wie die Verwandten sind."
„Eine Holocaust-Überlebende hatte ich mir immer anders vorgestellt, irgendwie schwer, traurig, gebrochen. Als ich Rahel Mann zum ersten Mal traf, hat sie mich sofort angesteckt mit ihrer wunderbaren Energie und ihrem Optimismus. Sie hat mich inspiriert, ein Buch zu schreiben."
Tina Hüttl