Gedenktag

Was Jüngere über den Holocaust wissen

Im jüdischen Viertel in Wien, 1938. Beleidigungen und Drohungen stehen mit schwarzer Schrift über dem Schaufenster eines Geschäftes: "Bei Wegwaschung Urlaub in Dachau" und ein Männchen hängt an einem Galgen.
Beleidigungen und Drohungen an einem jüdischen Geschäft in Wien: Wie lässt sich dieses dunkle Geschichtskapitel Jüngeren vermitteln? © Getty Images / Corbis / Hulton Collection
Aktuelle Studien zeigen: Das Wissen um den Holocaust und die NS-Zeit ist unter den Millennials und der Generation Z teilweise erschreckend gering. Gleichzeitig haben sie ein großes Interesse daran, mehr darüber zu erfahren. Wie kann das gelingen?
Rozette Kats wurde 1942 in eine jüdische Familie in Amsterdam geboren. Sie überlebte die NS-Diktatur bei einem Ehepaar, das sie als ihr eigenes Kind ausgab. Ihre leiblichen Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Sie hat in diesem Jahr am 27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag, in der Gedenkstunde im Bundestag gesprochen.
Mittlerweile gehört Rozette Kats zu den wenigen noch lebenden Zeitzeugen des Holocausts. Zukünftige Generationen werden bei der Aneignung von Geschichte ohne ihre persönlichen Schilderungen auskommen müssen.

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Und schon jetzt tun sich laut Studien und Umfragen gerade unter Jüngeren große Wissenslücken in Bezug auf die NS-Geschichte und den Holocaust auf. Wie also steht es um das historische Verständnis der Millennials und der Generation Z? Und wie kann eine zeitgemäße Erinnerungskultur aussehen?

Was Jüngere im Ausland über den Holocaust wissen

Es steht schlecht um den Wissensstand über den Holocaust: Laut einer neuen Studie der Jewish Claims Conference in den Niederlanden sind Unwissen und Lügen über die Shoah weit verbreitet. 53 aller Befragten und 60 Prozent der Jüngeren sagen, der Holocaust habe nicht in den Niederlanden stattgefunden – und dies, obwohl 70 Prozent der jüdischen Bevölkerung der Niederlande deportiert worden ist.
Befragt wurden insgesamt 2000 Menschen ab 18 Jahren. Fast ein Viertel (23 Prozent) der niederländischen Millennials und der Generation Z glaubt, dass der Holocaust ein Mythos sei oder die Zahl der sechs Millionen getöteten Juden stark übertrieben werde. Die Wissenslücken sind also enorm.
Studien der Jewish Claims Conference in den USA, Kanada und Frankreich hatten ebenfalls große Informationsdefizite offenbart. Die Zahl der Befragten, die den Holocaust für einen Mythos halten, ist in den Niederlanden aber höher als in jedem anderen zuvor untersuchten Land.
Rüdiger Mahlo, Repräsentant der Jewish Claims Conference (JCC) Deutschland, nennt als Erklärung den fehlenden familiären Bezug der jüngeren Generationen zum Holocaust. Gleichzeitig stellt er die Frage, „ob wir es mit einer Generation zu tun haben, die unkritisch Quellen gegenübersteht, und nicht mehr unterscheiden kann, ist das wirklich Fakt und Wahrheit.“
Fakten hätten keine verbindliche Rolle mehr, alles sei eher Meinung. So besteht die Befürchtung, dass Geschichtslügen auf fruchtbaren Boden fallen.

Jüngere Deutsche und ihr Wissen um NS-Geschichte

Der Trend, dass jüngere Generationen weniger über den Holocaust wissen, gilt auch hierzulande, sagt Rüdiger Mahlo von der JCC. Das Interesse jedoch ist hoch. Die Generation Z interessiert sich deutlich mehr für die NS-Zeit als die Generation ihrer Eltern (75 Prozent bei den Jüngeren/66 Prozent bei den Eltern).
Das ist zentrales Ergebnis einer Studie aus dem Januar 2022 im Auftrag der Arolsen Archives. Das internationale Zentrum über NS-Verfolgung hat das weltweit umfassendste Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus. Die Studie sollte herausfinden, mit welchen Mitteln man die Generation Z heute für die NS-Zeit interessieren soll.

Gen Z fühlt sich frei von Schuld

Zum einen fühlt sich die Altersgruppe der 16-25-Jährigen frei von jeder persönlichen Schuld und geht damit recht unbefangen an das Thema Nationalsozialismus heran. Zum zweiten entdeckt diese Altersgruppe in der NS-Zeit ein gesellschaftliches Gegenbild zu ihrer eigenen Alltagskultur, so der an der Studie beteiligte Psychologe Stephan Grünewald. Die „monströse“ NS-Zeit werde für sie oft zu einer psychologischen Mutprobe, lautet das dritte zentrale Studienergebnis.
Ein grundlegend hohes Interesse an einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bestätigen auch die Vorab-Ergebnisse der MEMO-Jugendstudie der Universität Bielefeld, gefördert durch die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ).

Großes Interesse an Erinnerungskultur

Dazu wurden 2021 insgesamt 3485 repräsentativ ausgewählte junge Menschen zwischen 16 und 25 Jahren online zur deutschen Erinnerungskultur und der Geschichte des Nationalsozialismus befragt. Der größte Teil der Teilnehmenden (84,8 Prozent) empfindet es als „eher wichtig“ oder „sehr wichtig“, dass wir uns als Gesellschaft mit unserer Geschichte auseinandersetzen.
Grafik zu den Ergebnissen der MEMO-Jugendstudie, die zeigt, dass 51,5 Prozent der Befragten es "Sehr wichtig" halten, dass wir als Gesellschaft uns mit unserer Vergangenheit auseinandersetzen.
In den vorläufigen Ergebnissen der MEMO-Jugendstudie zeigt sich unter jungen Erwachsenen ein grundlegend hohes Interesse an einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.© IVZ / EKG
Doch während das Interesse an der Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte grundlegend hoch scheint, gaben viele Befragte an, sich mit der Geschichte ihrer eigenen Familie während der Zeit des Nationalsozialismus wenig bis gar nicht beschäftigt zu haben. Ob ihre eigenen Vorfahren in die Verbrechen des Nationalsozialismus involviert waren, wissen sie nicht.

Wie lässt sich Jüngeren Wissen über den Holocaust vermitteln?

Dem Internet kommt bei der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus als Informationsquelle wenig überraschend eine besondere Relevanz zu. Besonders häufig nennen die Befragten YouTube und Instagram.

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Zudem sind Spiel- und Dokumentarfilme und Serien wichtige Zugänge, um sich mit dem Nationalsozialismus zu beschäftigen. Diese hätten ihnen laut eigener Aussage persönlich bisher am meisten gebracht.

Musik als Teil der Erinnerungskultur

Welche neuen Wege in der Erinnerungskultur beschritten werden können, erforscht auch die Musikwissenschaftlerin Monika Schoop von der Leuphana Universität Lüneburg. Mit ihrem aktuellen Projekt „Musikalische und klangliche Erinnerungsräume in der Post-Witness Era“ geht sie der Frage nach, was Musik für eine Rolle in der Erinnerungskultur spielt.

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Als Beispiel nennt sie die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano, die mit der Rap-​Band Microphone Mafia auf Tournee ging. In Musik als Mittel zu gedenken, sieht sie großes pädagogisches Potenzial.
Oliver Figge, Projektleiter der Studie der Arolsen Archives, spricht von einem anderen Blickwinkel der Jüngeren. „Die Generation stellt sehr schnell Bezüge zu ihrer Alltagsrealität her.“ Dabei spielen Rassismus und Ausgrenzung eine Rolle – ein Viertel der Generation hat Migrationshintergrund – sowie Verschwörungsmythen und Fake News.
„Da geht es nicht nur um eine historische Betrachtung oder die klassische Schuldfrage der Familie“, sagt Figge. „Fast 60 Prozent sagen, fast jeder von uns hat eigentlich rassistische Tendenzen, und damit müssen wir uns auseinandersetzen.“ Sie wehren sich aber gegen eine zu starke Vorab-Moralisierung.
Selber zu denken und nicht nur etwas vorgesetzt zu bekommen, das ist ein Kernpunkt der Studienergebnisse. Es geht also darum, eine Verknüpfung zum Alltag der jüngeren Generationen herzustellen, so Figge. Zudem gilt es, den Overload an Informationen einzuhegen und sie einfacher zugänglich zu machen – in Form von „Snackable Content“, so der Wunsch der Probanden.

Aufklärungskampagne auf TikTok

Wissen über die Verfolgung und Ermordung der Juden in der Zeit des Nationalsozialismus muss heute also auch über Social-Media-Kanäle vermittelt werden.
„In unserer Bildungsarbeit mit jungen Menschen ist für uns immer zentral, dass wir die Geschichte anknüpfen an die Gegenwart, an die Erfahrungen und die Lebenswelt der Jugendlichen. Antisemitismus, Rassismus und andere Formen der Menschenfeindlichkeit sind noch immer fester Teil der Gesellschaft. Die Erfahrungen, die Jugendliche damit machen, ernst zu nehmen, ermöglicht ihnen einen anderen Zugang zur Geschichte, als der bloße Blick in Schulbücher“, sagt die Direktorin der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank, Deborah Schnabel.
Anne Frank auf einer schwarz-weiß-Aufnahme aus dem Jahr 1944
Eine Identifikationsfigur auch für die Millennials und die Generation Z: das jüdische Mädchen Anne Frank.© imago images / United Archives
Identifikationsfiguren sind wichtig - wie beispielsweise Anne Frank. So startete die Bildungsstätte beispielsweise eine Aufklärungskampagne gegen Antisemitismus auf dem Kurzvideodienst TikTok.
Der Holocaust hat im Schulunterricht nicht das Gewicht, das er haben müsste, sagt Schnabel. Auf Schulen und deren Unterrichtspraxis zu schauen und dort nachzusteuern, rät auch Rüdiger Mahlo von der Jewish Claims Conference.
Wenn die Zeitzeugen selbst nicht mehr da sind, lässt sich auch anhand von zurückgelassenen Habseligkeiten von den Verbrechen erzählen: Alltagsgegenstände, Briefe, wie sie beispielsweise in der Auschwitz-Gedenkstätte aufbewahrt werden, darunter Schuhe. Sie waren überlebenswichtig, da die Gefangenen gezwungen wurden, sich ständig im Laufschritt zu bewegen. So wird Zeitgeschichte für die jüngeren Generationen auch heute noch greifbar.
(cwu, epd)