Der Erinnerungsarbeiter
Elf Jahre alt war Otto Dov Kulka, als er 1943 nach Auschwitz deportiert wurde. Nach dem Krieg wurde er Historiker. Doch zwischen seiner Arbeit als Wissenschaftler und seiner Erfahrung als Holocaust-Überlebender zog er eine scharfe Trennlinie. In seinem Buch "Privatmythologie" hat er die "Landschaften der Metropole des Todes" festgehalten.
Es ist heiß, aber die Luft ist trocken – das typische Jerusalemer Klima. Das Wochenende steht bevor. Am Haupteingang des weitläufigen Edmund Safra Campus der Hebräischen Universität geht es schon ruhiger zu. Otto Dov Kulka holt den Gast aus Deutschland mit dem Auto ab. Beim Fahren hört er laut Musik. Seine Lieblingskomponisten sind Bach und Mahler.
"Und jetzt steigen wir aus, und wohin gehen wir? – Mein Büro ist hier."
Otto Dov Kulka ist 80 Jahre alt. Er geht schon etwas gebeugt, die Haare sind rotbraun gefärbt, die Augen funkeln munter. Wir nehmen in seinem kleinen, aber gemütlichen Büro voller Bücher und Manuskripte Platz, nachdem er Kaffee gebracht hat. Seine Assistentin Keren schaut zur Tür herein - und wünscht ein schönes Wochenende.
"Assistentin Keren fragt auf Hebräisch, ob sie abschließen soll, und wünscht Schabbat schalom."
Mit 16 nach Israel ausgewandert
16 Jahre alt war Otto Kulka, als er kurz nach dem Krieg mit einer zionistischen Jugendgruppe nach Israel ausgewandert ist. Auf dem Schiff hat er sich seinen zweiten, hebräischen Vornamen ausgesucht.
"Ich wollte etwas Kurzes. Dann hab ich den Namen Dov gehört, wusste aber nicht, dass es ein Bär bedeutet. Es passt nicht zu meiner winzigen Figur, ich glaube."
Wenn er über sein neues Leben in Israel erzählt, berichtet Otto Dov Kulka mit fester und sicherer Stimme, auch wenn am Ende seiner langen deutschen Sätze manchmal die Verben fehlen. Wenn er über die Zeit der Verfolgung spricht, formuliert Otto Dov Kulka bedächtig und überlegt. Seine Stimme wird dann leise.
"Ich gehörte nie zu einer Organisation der Überlebenden und ich nehme auch nicht Teil an dem Gedenken. Nicht, weil ich mir der Bedeutung dessen nicht bewusst bin, aber weil ich mir bewusst bin, dass die enorme Bedeutung, fast unerklärliche Bedeutung und das Bedürfnis, darüber zu sprechen, fast zwangsläufig zu einer klischeehaften Sprache führt. Und diese Dissonanz kann ich nicht miterleben.
Liquidierung in Birkenau überstanden
Elf Jahre alt ist Otto, als er mit seiner Mutter aus Theresienstadt ins sogenannte Theresienstädter Familienlager in Auschwitz-Birkenau deportiert wird. Otto überlebt die erste Liquidierung des Lagers nur, weil er sich im Krankenblock befindet. Gut 20 Jahre später, am 30. Juli 1964, berichtet Otto Dov Kulka im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess über das Lager. Die Tonbandaufnahmen sind erhalten.
"Dann kam ich wieder zurück in den Kinderblock. Im Kinderblock, das ist vielleicht erstaunlich, blieb außer dem Fehlen einiger hundert Kinder dort alles beim alten. Das heißt, die Erzieher – teilweise sind sie geblieben, und auch ein Teil der Kinder ist dort geblieben – haben in derselben Art…"
Vorsitzender Richter [unterbricht]: "Weitergelebt und gehandelt, wie bisher auch."
Zeuge Otto Dov Kulka [unterbricht]: "Ja. Sogar die Kinder haben sie erzogen. Nur mit einem Unterschied: Von hier an wussten sie wie viele Tage ihnen noch geblieben sind. Trotzdem – und das kann ich nicht verstehen – wurden die Kinder erzogen."
Otto Dov Kulka hat sich zeitlebens mit jüdischer Sozialgeschichte beschäftigt, vom Mittelalter bis ins Jahr 1941. Über die Vernichtungslager hat er jedoch nur einen wissenschaftlichen Aufsatz publiziert. Er behandelt das Familienlager von Auschwitz anhand von Dokumenten. Seine eigenen Erlebnisse als Kind im Lager behielt er jedoch lange für sich. "Privatmythologie" nennt er seine Erinnerungen, die er in seinem Buch "Landschaften der Metropole des Todes" zuletzt doch noch aufgeschrieben hat.
"Ich lebe in diesen Gegenden in meinen Tagebüchern, in Träumen, in Tagesträumen oder Nachtträumen, aber ich bin auch dorthin zurückgekehrt. Und dieses Bild des unausweichlichen, von Horizont zu Horizont sich ausstreckenden riesigen Grabs, das ich es so empfunden habe, diese verödeten Landschaften behalte ich mir in meiner Erinnerung. Und ich finde dort, paradoxerweise wenn Sie wollen, meine persönliche Freiheit, weil es die Kindheitslandschaften sind."
Während Otto Dov Kulka erzählt, ist es still geworden im High Tech Village des Jerusalemer Campus, in dem sich sein Büro befindet. Wir sind die letzten, die noch da sind an diesem späten Freitagnachmittag. Otto Dov Kulka drängt zum Aufbruch, seine Frau erwartet ihn schon. Das Ehepaar will zu einem Vortrag in einer Galerie.
"Ach, hier ist der Autoschlüssel."