Eren Güvercin ist freier Journalist und Autor. Er schrieb unter anderem das Buch "Neo-Moslems – Porträt einer deutschen Generation". Er ist Gründungs- und Beiratsmitglied der Alhambra Gesellschaft e.V. und Mitbetreiber des Podcasts "Dauernörgler".
Was tun gegen Antisemitismus unter deutschen Muslimen?
04:28 Minuten
Antisemitismus ließe sich vor allem unter Muslimen in Deutschland finden, hat Philipp Amthor (CDU) gesagt und für Empörung gesorgt. Publizist Eren Güvercin kritisiert Amthor, fordert aber: Muslime müssen sich mit dem Thema selbstkritisch auseinandersetzen.
Wenn der deutsche CDU-Mann Philipp Amthor ausgerechnet am Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz davon spricht, dass Antisemitismus "vor allem in muslimisch geprägten Kulturkreisen besonders stark vertreten" ist, ist das ein sehr durchschaubares Entlastungsmanöver. Und dafür wird er zu Recht stark kritisiert. Über das Thema selbst sollte man durchaus reden.
Ein Thema, dem man aus dem Weg geht
Das ist gar nicht so einfach, denn Antisemitismus unter Muslimen ist für viele Muslime in Deutschland ein Thema, dem man lieber aus dem Weg geht. Manche reden es klein. Andere meiden es, weil sie unter dem Deckmantel der Israelkritik weiter antisemitische Ressentiments bedienen wollen.
Aber gerade als deutsche Muslime, die Deutschland längst als ihre Heimat betrachten, müssen wir uns der Verantwortung stellen. Dabei reicht es nicht zu sagen, dass es im Islam eigentlich keinen Antisemitismus gibt. Das sind Phrasen, die von Funktionären zwar oft wiederholt werden, aber einem Abgleich mit der Wirklichkeit nicht standhalten. Es gibt Muslime, die antisemitisch sind. Antisemitismus ist für ideologische Strömungen wie die Muslimbruderschaft und andere Formen des "politischen Islam" ein zentraler Bestandteil ihres Denkens.
Nicht mit Schuld, Gedenken und Aufarbeitung aufgewachsen
Wir brauchen eine offene Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus und eine klare Haltung. Dazu brauchen wir neue Konzepte, vor allem bei der Jugendarbeit. Denn man muss berücksichtigen, dass wir es mit Jugendlichen zu tun haben, deren Herkunftsbezug eben nicht nur Deutschland ist. Sie sind nicht mit der deutschen Erzählung von Schuld, Gedenken und Aufarbeitung aufgewachsen, die kennen sie nur aus dem Sozialkundeunterricht – sondern mit transnationalen Narrativen. Wenn man türkische, syrische oder iranische Großeltern und Eltern hat, hat man eine andere Herkunftsgeschichte. Und natürlich betrachtet man die deutsche Geschichte, insbesondere den Holocaust, das Dritte Reich und auch die Weimarer Zeit aus einer anderen Perspektive, wenn man einer Minderheit angehört und deshalb selbst Diskriminierung erfahren hat.
Keine kritische Erinnerungskultur
Damit möchte ich nicht dieses unselige "Wir Muslime sind die neuen Juden"-Lied anstimmen. Trotzdem muss man der anderen Ausgangslage Rechnung tragen. Kritische Erinnerungskultur ist etwas, was vielen Muslimen aus ihren Herkunftserzählungen fremd ist. Im türkischen Kontext zum Beispiel ist die Illusion weit verbreitet, das osmanische Reich sei ein multireligiöses Utopia gewesen, in dem alle gleichberechtigt und friedlich miteinander gelebt hätten. Vielen ist nicht bewusst, dass der Wandel vom Sultanat zum Nationalstaat auf Kosten religiöser Minderheiten vollzogen wurde.
Die Pogrome gegen jüdische Minderheiten Ende der 20er-, Anfang der 30er-Jahre in den Regionen Thrakien und nördliche Ägäis hatten handfeste, nationalstaatliche strategische Motive, wurden aber mit dem Instrument der religiösen Aufwiegelung betrieben. Gleiches gilt in Bezug auf die September-Pogrome gegen die christlichen Minderheiten in Istanbul 1955, denen auch Juden und Armenier zum Opfer fielen. Die politisch Verantwortlichen werden bis heute, und insbesondere unter dem jetzigen Regime, als Helden verehrt.
Ein Problembewusstsein, eine aktive Selbstkonfrontation mit historischer Schuld und Verantwortung ist nicht mal im Ansatz vorhanden. Sie muss daher politisch und gesellschaftlich vorgelebt und gelernt werden. Diese Erfahrung bringen Migranten aus ihren Herkunftsländern nicht mit.
Neue Zugänge schaffen
Genau hier müssen wir als deutsche Muslime ansetzen. Es ist in erster Linie unsere Verantwortung und unsere Bringschuld neue Zugänge zu schaffen, mit denen wir es schaffen, auch jungen Muslimen in Deutschland zu vermitteln, wie antisemitische Ressentiments entstehen, woher dieser Hass in der Community kommt und wohin er führen kann.