Holocaust

Vergeben ist ein langer Prozess

Die Auschwitz-Überlebende Eva Kor sitzt am 21.04.2015 im Gerichtssaal in Lüneburg (Niedersachsen)
Auschwitz-Überlebende Eva Kor © picture alliance / Julian Stratenschulte
Von Astrid von Friesen · 01.07.2015
Die Holocaust-Überlebende Eva Kohr hat dem früheren SS-Mann Oskar Gröning die Hand zur Versöhnung gereicht. Doch bis es zu einer solchen Geste kommt, durchlebt ein Opfer einen langen und schmerzhaften Prozess, meint die Journalistin und Trauma-Therapeutin Astrid von Friesen.
Verzeihen, Versöhnen, Vergeben, Ausgleichen! Wie funktioniert das? Warum gibt Eva Kor, eine Überlebende des Konzentrationslagers Auschwitz, einem früheren SS-Mann noch im Gerichtssaal die Hand, nachdem er seine Schuld eingeräumt hat?
Diese Frage gehört zu den existenziellen im Zusammenleben der Menschen. Denn bereits im "Codex Hammurapi", in einer der ältesten Rechtssammlungen der Welt, steht etwas über einen Täter-Opfer-Ausgleich. Bis ins Spätmittelalter war er die gängige Art, Gesetzesverstöße zu bestrafen. Erst 1990 wurde sein Grundgedanke wiederentdeckt und fand Eingang ins deutsche Jugendstrafrecht.
Religiös gesehen werden dabei Sünden gesühnt, bestenfalls das Opfer oder die Gemeinschaft mit dem Täter versöhnt, was jedoch nur durch Reue geschehen kann. Beiden Seiten soll damit geholfen werden. Dieses Leitmotiv spricht aus bekannten Texten, mit denen wir aufgewachsen sind.
Jesu Christi wollte per se die Menschen entsündigen, indem er Gott aufforderte: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun". Und entsprechend bitten die Christen im "Vater unser": "Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern".
Auf ähnliche Weise kennt die Hawaiische Tradition 800 Jahre alte Rituale zur geistigen Reinigung, um keine - wie wir heute sagen würden - "posttraumatischen Störungen aus Verbitterung" entstehen zu lassen. Denn diese vergällen das Leben des Opfers manchmal stärker als die Tat selbst.
Das Prinzip "Auge um Auge, Zahn um Zahn" galt in früheren Zeiten und gilt in manchen Kulturen bis heute als fairer Maßstab. Von einer neuzeitlichen Strafrechtspflege wird er dagegen als brutal, primitiv und willkürlich abgelehnt. Das ergänzende Instrument allerdings, dem Herrscher zu erlauben, aus Großmut Vergebung oder Begnadigung aussprechen, findet sich durchaus im modernen Recht wieder.
Opfer sehen sich oftmals nicht gesehen
Eine Regierung, allemal ein Gericht, kann unter bestimmten Voraussetzungen, Schuldvorwürfe und Strafen modifizieren, sie aussetzen oder ganz auf sie verzichten. Das hat rein gar nichts mit Vergessen, Nachsicht oder Billigung der Taten bzw. deren Verleugnung, Nivellierung oder Rechtfertigung zu tun.
Eher schon folgt dieses Vergeben der Einsicht, dass selbst schwerste Strafen folgenschweres Unrecht nicht wiedergutmachen können, weshalb das Recht oder die Politik sich besser in den Dienst eines schmerzhaften Prozesses stellen sollte, belastende Ereignisse aufzuarbeiten.
Beim Opfer-Täter-Ausgleich nach kriminellen Akten, bei der Vergangenheitsbewältigung des Holocaust oder bei "Versöhnungskommissionen" nach politischen Konflikten geht es immer um dasselbe, um Zeugenschaft und um öffentlich ausgesprochene Entschuldigung.
Opfer fühlen sich oftmals nicht gesehen und wahrgenommen, damit ein zweites Mal zutiefst und chronisch geschädigt. Unbewusst werden sogar die Kinder damit beauftragt, die Toten und die Leiden im Gedächtnis zu behalten, auf Sühne und Reue zu pochen. Schwere Traumatisierungen verteilen sich so über drei Generationen.
Es braucht einen langen Dialog zwischen Opfer und Täter, zwischen Nachkommen beider Seiten, um jenes Verständnis aufzubauen, das Versöhnung und Vergebung ermöglicht.
Wir wissen nicht, welchen Prozess Eva Kor durchlaufen hat, auch nicht warum andere Auschwitz-Überlebende ihr beim Verzeihen nicht folgen wollen. Möglicherweise handeln sie jeder für sich aus Selbstschutz, weil Trauma und Hass das eigene, immer kürzer werdende Leben zu verzehren drohen.
Darum wäre gemeinsames Aufarbeiten jenseits des Strafens eine erstrebenswerte Praxis, die wohl am besten helfen würde, mit Folgen auch kriminellen Tuns fertig zu werden.
Astried von Friesen, Jahrgang 1953, ist Journalistin, Erziehungswissenschaftlerin, sowie Gestalt- und Trauma-Therapeutin in Dresden. Sie unterrichtet an der Universität in Freiberg, macht Lehrerfortbildung und Supervision. Außerdem schreibt sie Bücher, zuletzt: "Ein Erziehungsalphabet: Von A bis Z - 80 pädagogische Begriffe" (2013, auch als ebook).
Astrid von Friesen
Astrid von Friesen© privat
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