Holocaust

Wie soll man sich nach 70 Jahren verhalten?

Der Historiker Ulrich Herbert
Der Historiker Ulrich Herbert © Imago / Gerhard Leber
Von Philipp Schnee |
Erst die Verdrängung, dann die Auseinandersetzung, gepaart mit dem Entsetzen über die Dimensionen des Verbrechens. Die Brutalität sei in vielen Fällen bestialischer gewesen, sagt Historiker Ulrich Herbert. Es sei wichtig, dass die Deutschen wissen, wie der Großteil der europäischen Juden ermordet wurden.
Themenabende über Auschwitz, die Reichspogromnacht, öffentliche Veranstaltungen, unzählige Bücher – es scheint, als ob unsere Gesellschaft sich intensiv mit der Geschichte des nationalsozialistischen Judenmordes auseinandersetzt. Der Historiker Ulrich Herbert entgegnet:
"Salopp formuliert: Viel Meinung, aber keine Ahnung."
Ulrich Herbert hat die faktenorientierte Erforschung des Holocaust vorangetrieben. Bei seinen öffentlichen Vorträgen hat er festgestellt:
"... dass viele Zuhörer, und das sind ja schon besonders interessierte Menschen, weil sie ja zu so einem solchen Vortrag kommen, der Meinung sind, es handelte sich überwiegend um deutsche Juden, oder jedenfalls zu einem großen Teil. Und wenn man dann sagt, der Anteil der deutschen Juden unter den getöteten Juden liegt bei unter zwei Prozent, sind sie verdattert oder überrascht, weil sich das mit ihrem Bild, sagen wir der Reichskristallnacht von 1938 oder mit den Bildern der Judenverfolgung in Deutschland, die man oft im Fernsehen sieht, überhaupt nicht in Übereinstimmung bringen lässt."
Nur eines von vielen falschen öffentlichen Bildern über den Holocaust. Eine weitere verbreitete Fehleinschätzung ist die, dass der Holocaust vor allem ein relativ unblutiger, beinahe "sauberer" "industrialisierter Massenmord" durch Gas gewesen sei, so Ulrich Herbert:
"Zum Beispiel sind viele Menschen der Überzeugung, die Juden sind alle vergast worden. .... und zwar alle in Auschwitz, viele, die meisten. Und wenn sie dann die Information bekommen, dass die Zahl der in Auschwitz mit Gas umgebrachten bei etwa 950.000 liegt, ... dann wird gefragt, ja und die anderen? (...) Die anderen sind auf ganz herkömmliche Weise erschossen worden, insbesondere, aber auch erschlagen, oder in Rumänien auf ganz viehische Weise niedergeknüppelt worden oder erstickt worden in Gaswagen, in Dieselautos. Die Brutalität in den Einzelfällen ist enorm."
Besonders zu Beginn des Krieges in Osteuropa. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik war nicht von Anfang an der eine große, monströse Plan.
Moral kann nicht Unwissenheit nicht ersetzen
Es waren zunächst viele Einzeltaten, die auch von normalen Bürgern mit dem rassistisch-ideologischen Grundgerüst der NS-Zeit gerechtfertigt werden konnte: Wohnungsnot, Seuchenbekämpfung, Nahrungsmittelknappheit, Schwarzhandel.
"In jede Problematik, die es gibt, wird der Jude als Passepartout eingefügt. (...) Wenn die militärische Entwicklung schlecht ist, dann hängt das damit zusammen, dass die Stellungen der deutschen Einheiten durch die Juden verraten worden sind. Warum durch die Juden? Na, weil die durch ihren Glauben mit ihren Glaubensbrüdern überall verbunden sind. Das heißt, man kann sich eine jede Situation heranziehen, die schlecht ist für die Deutschen, um einen Begründungszusammenhang zu finden, dass man, wenn man Juden bekämpft, diese Situation los wird. Im Grunde ist das immer die gleiche Grundstruktur, wir haben eine nicht erklärbare Problematik, sei es die Inflation 1923 oder die Seuchen im Ghetto Warschau. Und wir lösen sie dadurch, dass wir die biologischen Träger ausschalten oder eben dann umbringen. Die Rationalität derjenigen, die an diesen Verschwörungszusammenhang glaubt."
Erst nach und nach wird aus vielen kleineren Mordtaten, eine zusammenhängende, geplante Vernichtungspolitik.
"Es ist so, dass selbst bei den Multiplikatoren, bei Lehrern, sogar bei Kollegen, bei Historikern, die das nicht als Schwerpunkt haben, ein enormes Maß an Überzeugtheit und auch an moralischer Emphase da ist, aber auf die Frage, in meinem eigenen Freundeskreis, was glaubt ihr denn, wie hoch war denn der Anteil der Deutschen an den Konzentrationslagerhäftlingen am Ende des Krieges? Da sagen viele, naja, das werden schon ein paar Millionen gewesen sein. Aber es gab nur 700.000 KZ-Häftlinge am Ende des Krieges und der Anteil der Deutschen lag unter fünf Prozent, alle anderen waren Ausländer."
Moral kann nicht mangelndes Wissen ersetzen.
"Wenn man dort nicht zumindest um ein gutes Gerüst an Grundkenntnissen verfügt, sondern nur über Moral, oder nur über eine Meinung, dann läuft man Gefahr, das passiert ja auch massenhaft, dass man auch nur durch kleine Irritationen von Sachaussagen, und seien sie noch so verrückte, dass die eigene Meinung oder moralische Positionen in Frage gestellt wird. Weil man ihr nicht wirklich was entgegenzustellen hat, außer, sagen wir, good will. (...) Was wird von den Deutschen erwartet? Ganz bestimmt keine Zerknirschung oder irgendwelche Schuldgeschichten, was ja auch immer wieder von rechts unten postuliert wird, wir müssten in Sack und Asche oder in Schuld gehen, alles Quatsch."
Nicht zuletzt seine Erfahrungen, die er als Hochschullehrer in Israel hat ihm gezeigt:
"Worauf es ankommt, ist, dass die Deutschen, so jedenfalls die israelischen Studenten, sie sollen Bescheid wissen. Sie sollen wissen, worum es geht und zwar nicht nur grob, sondern in wesentlichen Zügen. Das ist dasjenige, was gegenüber politischen Verschwörungstheorien und ähnlichem immunisiert, nicht besonders viel moralisch hochstehende Emphase. Einfach, präzise wissen, was dort geschehen ist. Und that´s it."
Die Fakten des nationalsozialistischen Massenmordes – sie sprechen für sich.
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