Wo war der Mensch?
Bei seiner Deportation nach Theresienstadt packte der Dirigent Rafael Schächter noch schnell ein paar Notenbände ein. Als Gegenentwurf zum brutalen Lager-Alltag organisierte er im Ghetto Konzerte - und gab den Häftlingen so neuen Lebensmut.
Das Notenheft liegt aufgeklappt vor ihr auf der Tischdecke des Bordbistros. Der Intercity, in dem Judith van Winkelen sitzt, schlängelt sich durch eine schneelose Winterlandschaft von Berlin an der Elbe entlang in Richtung Prag.
Judith, Chorsängerin im Jungen Ensemble Berlin, hält sich mit beiden Zeigefingern die Ohren zu – denn ein paar Stellen aus Verdis Requiem muss sie noch üben. Dabei wandern ihre Gedanken immer wieder zu den vielen hundert jüdischen Häftlingen, die vor 70 Jahren auch diese Totenmesse von Verdi im Ghetto Theresienstadt in einem kalten Keller probten.
Nach zwölf Stunden harter Arbeit kamen die Lager-Insassen täglich zusammen, hungrig, krank, gequält durch die Schergen der SS – und studierten, anfangs noch heimlich, verschiedenste Musikstücke ein. Für Judith ist das kaum zu fassen:
"Ich kann's mir echt nicht vorstellen. Ich geh vielleicht zum Chor abends und bin ein bisschen ausgelaugt von meinem Arbeitsalltag. Und merke dann, dass ich, wenn ich in die Flanken atme, dass mir dann irgendwann der Rücken weh tut. Oder dass ich nicht anders sitzen kann oder mich hinstellen kann. Diese Menschen haben, also, Prügel ertragen müssen, schwerste körperliche Arbeit gehabt. Und dann noch zu singen?"
Judith schüttelt ungläubig den Kopf, klappt das Notenheft zu. Der Zug nähert sich dem Prager Hauptbahnhof. Das Junge Ensemble Berlin hat Judith auf die Reise in das alte Ghetto Theresienstadt geschickt.
Sie soll den knapp 130 Chorsängern zumindest eine Ahnung davon vermitteln, wie die Ghetto-Häftlinge damals lebten und probten – denn zu deren Andenken wird das Junge Ensemble Berlin am 4. März Verdis Totenmesse im Konzerthaus Berlin aufführen. Judith will dazu mehr erfahren über den Dirigenten Rafael Schächter und begibt sich deshalb auf diese Reise.
Konzerte als Gegenentwurf zum brutalen Lager-Alltag
Schächter, das ist jener Mann, der zwischen 1941 und 1944 den Chor im Ghetto organisiert und leitet, der bei seiner Deportation nach Theresienstadt noch schnell ein paar Notenbände mit in seinen kleinen Koffer packt. Später, im Ghetto, veranstaltet der 36-Jährige als Gegenentwurf zum brutalen Lager-Alltag Konzerte und Opern für die Häftlinge, verleiht ihnen damit neuen Lebensmut.
Heute leben immerhin noch einige Menschen, die Schächter persönlich kannten. So wie Edgar Krasa, der im Lager einen Schlafraum mit Schächter teilte und heute in den USA lebt.
Oder wie den Tschechen Felix Kolmer. Ihn trifft Judith gleich nach ihrer Ankunft in der heutigen Gedenkstätte. Der 92-Jährige ist damals selber Insasse des Ghettos – hin und wieder sitzt er bei Schächters Aufführungen mit im Publikum.
Judith sitzt nun im Taxi, fährt auf den Marktplatz des ehemaligen Ghettos, das heute Terezin heißt. Schon von Weitem kann sie ihn sehen: Seinen gebückten Körper in einen olivgrünen Parker gehüllt, eine dicke Wollmütze auf dem schlohweißen Haar, steht Felix Kolmer vor dem alten Rathaus.
"Für die Zuhörer und Zuschauer war es eine große Stärkung"
Nach kurzer Begrüßung hakt er sich bei ihr unter, gemeinsam laufen sie so die Treppe zum großen Rathaussaal hinauf: Hier haben die Theresienstädter Häftlinge 1943 Verdis Requiem zum ersten Mal aufgeführt. Judith stellt nun ihre Fragen, laut und deutlich, denn Felix Kolmers Gehör hat nachgelassen – nicht so sein Verstand.
Judith: "Ich singe selber in einem Chor und ich weiß wie anstrengend das ist, Verdis Requiem zu singen. War das nicht unglaublich anstrengend für die Häftlinge?"
Kolmer: "Physisch war es für sie nicht so leicht. Aber psychisch wurden sie damit gestärkt. Und auch für uns, für die Zuhörer und Zuschauer war es eine große Stärkung. Und deshalb sagt man zu der Kultur in Theresienstadt sagt man ein Kulturwiderstand. Neben dem Militärwiderstand, der auch da war."
Judith nickt, schaut Kolmer fest in die hellblauen Augen. Sie versteht nun besser: Das Singen bedeutet für die Gefangenen damals sogar mehr als nur ein paar Stunden Flucht aus der grausamen Gegenwart. Es hieß auch Widerstand leisten - zumindest den inneren Widerstand gegen Gewalt und drohende Vernichtung zum Ausdruck zu bringen.
Grund genug für den jungen Dirigenten streng und fordernd mit seinen Mithäftlingen im Ghetto zu sein, wenn es um die Musik ging: So sollten die Häftlinge während der Proben keinen Moment lang die Augen von ihm abwenden.
Nur ein Durchgangslager gewesen
Schächters größter Feind sind jedoch: Die Transporte. Denn Theresienstadt ist nur ein Durchgangslager. So ist es für die meisten Häftlinge nur eine Frage der Zeit, bis sie nach Auschwitz deportiert und dort vergast werden.
In manchen Nächten geht in den überfüllten Räumen plötzlich das Licht an, die aus dem Schlaf gerissenen Menschen sind jedes Mal in heller Panik, dass diesmal der eigene Name vorgelesen wird - oder der Name eines Familienmitglieds. Die Künstler im Ghetto werden zunächst von den Nazis vor den Transporten bewahrt, doch viele melden sich freiwillig, um Kinder, Ehepartner oder Eltern nicht alleine nach Auschwitz fahren zu lassen.
Im Chor entstehen dadurch immer wieder große Lücken. Doch Rafael Schächter will auf keinen Fall aufgeben, sucht sich im Ghetto immer neue Sänger.
Wie er die Kraft dazu aufbringen konnte – das ist Judith ein Rätsel.
Judith: "Wie hat Herr Schächter das damals geschafft, drei Chöre immer wieder zusammenzustellen, nachdem es Abtransporte gab?"
Felix Kolmer: "Ja das war für ihn wirklich sehr schwer. Aber er war sehr geduldig. Weil er und wir alle haben uns daran gewöhnt, dass die Transporte abgehen. Es war also kein anderer Weg als wieder neue Leute reinzuführen. Und mit den neuen Leuten das versuchen bis zu der Realisation. Obwohl kurz vor der Realisation hat man wieder mit einem Transport wieder die jungen Leute, die gesungen haben, wieder abtransportiert. Er war sehr geduldig, weil er hatte dieses Ziel: Das Ziel war die Stärkung der anderen Häftlinge. Und für ihn war es wahrscheinlich auch eine Stärkung."
Heimlich im Keller geprobt
Felix Kolmer steht auf, er will Judith nun den Keller zeigen, in dem die Häftlinge damals, zunächst heimlich, geprobt haben. In einem Nebengebäude des Rathauses läuft er mit Judith langsam eine enge, steile Treppe aus Stein hinab.
Sie betreten ein graues Gewölbe mit niedriger Decke, es ist feucht und klamm, durch einen kleinen Schacht dringt nur wenig Licht. Judith atmet kräftig ein und aus, blickt auf den aufsteigenden Atemhauch und spricht wieder sehr deutlich, damit Felix Kolmer sie versteht.
Judith: "In diesem Raum ist es sehr kalt."
Felix Kolmer: "Ja."
Judith: "Wie war es damals möglich, da die Proben zu machen?"
Felix Kolmer: "Na, dann war es halt in der Kälte. Anders konnte man es nicht tun. Zuerst war die ganze Kultur geheim, das war nur in dem Keller gemacht. Oder unter dem Dach. Oder im Lager von den Kartoffeln. Aber später, als die SS das erfahren hat, die SS hat sich gedacht, es ist ganz gut, eine Kultur da zu haben, weil das ist eine gute Propaganda, wie die jüdischen Häftlinge leben."
Ein normales Ghetto-Leben vorgegaukelt
Es ist das Jahr 1944. Die Deutschen sind auf dem Rückzug, nach Stalingrad, nach der Landung der Alliierten in der Normandie. So wächst der Druck, der internationalen Öffentlichkeit ein normales Ghetto-Leben mit zufriedenen jüdischen Einwohnern vorzugaukeln. Vor dem Besuch einer Delegation des Schweizer Roten Kreuzes beschließt darum die SS: Das Ghetto Theresienstadt, in welchem jeder vierte Insasse durch Terror oder Krankheit stirbt, soll zum potemkinschen Dorf ausstaffiert werden.
Dazu deportieren die Nazis aus dem entsetzlich überfüllten Lager zunächst 17.500 Menschen nach Auschwitz – Alte und Kranke um das Elend zu camouflieren, die Jungen, um befürchtete Aufstände zu verhindern.
Am Tag des Besuchs der Schweizer Prüfungs-Kommission, am 23. Juni 1944, verteilt man Sardinenbüchsen und Schinken an die Kinder, platziert lesende Paare auf Parkbänken, lässt Familien in Wohnungen posieren, die man nachts zuvor noch mit Vorhängen, Bildern und Möbeln dekoriert hat. Plötzlich gibt es überall hübsche Einkaufsläden – deren Schaufenster sind geschmückt mit Dingen aus dem Gepäck der ankommenden Transporte. Keine Spur von Stacheldraht, Hochspannung oder bellenden Rottweilern. Die Lüge funktioniert.
Das idyllische Bild vom "selbstverwalteten jüdischen Siedlungsgebiet" gelingt den Nazis nahezu perfekt – paradoxerweise auch dank des krönenden Abschlusses mit Rafael Schächter und seinen übrig gebliebenen 60 Sängern. Sie müssen Verdis Requiem aufführen, vor der SS und deren Gästen.
Wut und Todesangst
Während der Vorstellung hoffen einige Sänger, dass die Kommission ihre Wut und Todesangst bemerkt. Doch die Choreografie ist zu perfekt, der verzweifelt gesungene Hilferuf verhallt ungehört. So ist die Musik, die den Häftlingen einst im Verborgenen psychisch hilft, nun Teil des offiziellen SS-Täuschungsmanövers, welches die Nazi-Greuel gänzlich kaschiert, sagt Kolmer:
"Das war auch der Grund, warum das internationale Rote Kreuz-Kommission so eine positive Nachricht über die Visite da geschrieben hat. Die haben geschrieben, dass das Leben da ist beinahe so, wie ein Leben in einer Heilstätte. Sie haben gar nicht gewusst, dass 35.000 Leute da starben, sie haben gar nicht gewusst, dass 87.000 Leute von hier in die Ausrottungslager kamen und dass nur drei Prozent die Ausrottungslager überlebt haben. Sie haben nur gesehen das Positive, sie wollten auch das Positive sehen – und deshalb war die Kultur, ich möchte sagen, sogar unterstützt durch die SS-Kommandantur."
Das Internationale Rote Kreuz verzichtet nach seiner Kontrollvisite in Theresienstadt auf Besuche von Konzentrationslagern im besetzten Polen – darunter auch Auschwitz. Und genau dorthin deportiert die SS im Herbst 1944 all die unfreiwilligen Darsteller des Propaganda-Spektakels – darunter auch alle Chormitglieder.
Die meisten dieser Menschen kommen in den Gaskammern um, nur wenige erleben das Ende des Krieges – und können heute noch über Personen wie Rafael Schächter erzählen:
"Rafael Schächter war ein sehr fröhlicher Mensch, mit ihm war wirklich sehr gut zu sprechen, weil er war sehr lustig und – er war sehr lebhaft ... Ich hab ihn das letzte Mal gesehen schon in Auschwitz. Weil wir waren im selben Transport ER am 16. Oktober abgegangen von hier – und ich hab ihn noch gesehen an der Rampe vor der Selektion. Und die Selektion an dem Tag hat der sehr bekannte Arzt Dr. Mengele gemacht. Ich bin also der letzte noch Lebende, der ihn in Auschwitz gesehen hat."
Eigene Totenmesse
Rafael Schächter kommt im Gegensatz zu Felix Kolmer schon direkt nach der Deportation in die falsche Schlange – der Dirigent, der mit seinem Engagement anderen über Jahre so viel Zuversicht schenkt, stirbt kurz vor Ende des Krieges – womöglich auf einem Todesmarsch.
Judith stehen Tränen in den Augen, sie blickt sich immer wieder um, in dem kalten Kellergewölbe, in welchem frierende Häftlinge, mit ihren nackten Füßen in bloßen Holzpantoffeln steckend, auf einem alten Klavier begleitet ein Requiem einstudieren, das zuletzt zu ihrer eigenen Totenmesse wird.
Felix Kolmer fasst Judith an den Händen, die jetzt in dicken Handschuhen stecken. Der Holocaust-Überlebende, der nach dem Krieg Physik studiert und später ein bekannter Akustikprofessor wird, will ihr noch etwas anderes über diesen Keller erzählen:
"Verdis Requiem braucht einen größeren Nachhall. Das haben sie in einem Konzertsaal. Dort ist ein Nachhall so zwischen zweieinhalb bis drei Sekunden. Und das erzielen sie gerade da in diesem Keller. Das können sie nicht woanders erzielen. Das war auch der Grund, warum da die Proben waren."
Spontan bittet er sie, aus dem Requiem zu singen, nur ein paar Takte, um die besondere Akustik hier unten demonstrieren zu können. Judith fährt sich mit einer Hand über den Hals, erst fällt es ihr schwer, dann versucht sie es doch.
"Es war alles so rührend"
Es ist Nachmittag geworden, Judith verabschiedet sich von Felix Kolmer, fährt nun in die Prager Innenstadt – und trifft dort Dagmar Lieblova in einem Café.
Die 84-jährige Tschechin wird 1941 für ein Jahr mit ihren Eltern, der Großmutter und der jüngeren Schwester in Theresienstadt inhaftiert – und singt in der Kinderoper "Brundibar" mit. Schwierig war für all die jungen Sänger damals: Alles ohne Noten einzustudieren und dann auswendig vorzuführen, sagt Lieblova heute.
Sie blickt auf ihre schmalen Hände und lächelt, als sie daran zurück denkt, wie erwachsen und gut sie sich fühlte, zum ersten Mal auch im Publikum zu sitzen, bei einer Oper, dirigiert von Rafael Schächter:
"Die Premiere der Verkauften Braut war sehr schön. Der Raum war voll von Leuten. Ich stand irgendwo in der Ecke und habe so geweint. Es war alles so rührend. Es ist schwer zu beschreiben. Die Atmosphäre, voller Raum, optimistische und schöne Musik ... Es war schön. Wenn man die Augen geschlossen hat, so konnte man sich in einem Theater vorstellen, nicht!? Aber natürlich: Das ging nicht ..."
"Alles was nach Theresienstadt kam, war noch viel schlimmer"
Aber wenigstens für kurze Zeit weg sein, sagt Lieblova nun bei einem Spaziergang durch das jüdische Viertel zu Judith, weg vom nagenden Hunger, ein paar Momente zurück im alten Leben – ein Leben – noch nicht in einem Schlafsaal mit 24 fremden Kindern, ganz ohne die eigenen Eltern, unter schrecklichsten Hygiene-Bedingungen:
"In dem Haus wo ich wohnte, also in dem Mädchenheim, da war unten, im Erdgeschoss war ein Waschraum mit kaltem Wasser. Nicht – und sonst nichts. Da musste man sich im kalten Wasser waschen, dann der ewige Kampf mit den Insekten – die Flöhe und die Wanzen und das alles. Die saßen in den Nähten der Matratzen. Wenn die Insekten beißen, so kratzt man sich. Die kleinste Wunde hat geeitert damals. Denn wir hatten ja keine Vitamine nicht – und waren unernährt und so. Aber es ist alles wie ich immer sage, relativ. Denn alles was nach Theresienstadt kam, war noch viel schlimmer."
Im Dezember 1943 wird die damals 14-Jährige plötzlich rausgerissen aus dem Theresienstädter Ghetto – und mit ihrer Familie nach Auschwitz deportiert. Die Premiere von Verdis Requiem, der ersten von insgesamt 16 Aufführungen Schächters, verpasst sie deshalb. Nur kurz vor ihrem Transport hört sie nachts noch ihrer Freundin zu – die als eine der Solistinnen des Requiems leise ein paar Arien auf der Nachbarpritsche übt. Dagmar Lieblová, einzige Überlebende aus ihrer Familie, empfindet die Musik damals wie heute als große Stütze.
Sie blickt in Judiths betroffenes Gesicht – und sagt dann: "Ich weiß, es ist schwer zu verstehen, dass dies irgendwie zusammen geht mit den Verhältnissen die sonst dort waren. Aber es war eben etwas, was, ich glaube, uns also sehr geholfen hat, überhaupt etwas aushalten zu können."
Gerne würde Judith noch eine Weile bei Dagmar Lieblova bleiben. Doch es ist Zeit, Judith muss aufbrechen. Mit einer Umarmung verabschiedet sie sich von der freundlichen und schüchternen alten Dame mit dem dezenten Parfum und der vornehm gelegten Frisur.
Zwischen den beiden Dirigenten liegen Jahrzehnte
Zwei Wochen später, Berlin, Gendarmenmarkt. Judith steht auf der Empore des Berliner Konzerthauses, linker Flügel, Mezzosopran. Mit der Vokalakademie sowie ihrem Chor, den 120 Kollegen des Jungen Ensembles Berlin, Chorleiter Frank Markowitsch und dem amerikanischen Dirigenten Murry Sidlin probt sie heute für das "Defiant Requiem", das hier am 4. März aufgeführt wird.
"Defiant" – das heißt soviel wie widerständig oder aufsässig. Mit dem Projekt, möchte Sidlin der Menschen in Theresienstadt gedenken - dazu verknüpft er in seiner Inszenierung Verdis Totenmesse mit Filmaufnahmen und Zeitzeugenberichten. Die Schauspieler Iris Berben und Ulrich Matthes sollen die Sprecherrollen übernehmen. Nach bereits 19 Konzerten in den USA, Tschechien, Ungarn und Israel wird das "Defiant Requiem" nun zum ersten Mal in Deutschland aufgeführt – mit Unterstützung des Konzerthausorchesters.
Murray Sidlin weiß, dass sein Konzert ein ganz anderes werden wird, als jenes von Schächter vor rund 70 Jahren. Zwischen den beiden Dirigenten liegen Jahrzehnte von Erzählung und Reflexion über den Holocaust, Sidlin hat das Stück wahrscheinlich ebenso eigens interpretiert, wie damals Rafael Schächter.
In der Proben-Pause erklärt Sidlin worum es ihm mit seinem Projekt geht:
"They did not have an orchestra in Terezin, it was all piano. But Schächter, the conductor said: Some day, we will see, all of this is a rehearsal, for when we go to Prague, in a beautiful concert hall with a grand orchestra, in freedom. He didn´t make it. So it´s our job now, it´s our job, to make sure, he´s the hero, he´s the model. And we go all over the world and show people what he did in Terezin. And what it did with the prisoners of Terezin."
Schächter ein Denkmal setzen
Sidlin und sein Orchester wollen Schächter ein Denkmal setzen. Allen vor Augen führen, was für ein Held und Vorbild er gewesen ist und was sein Tun für die Gefangenen im Ghetto bedeutete.
Murray Sidlin sieht sich um, die Pause ist fast vorbei, langsam füllen sich die Reihen auf der Empore wieder, die Musiker laufen zu ihren Plätzen. Auch er muss nun zurück – doch eine Sache möchte er noch erzählen, etwas, das ihn bei Gesprächen mit Überlebenden aus Theresienstadt immer wieder bewegt hat.
"You know, I´ve asked a few of the prisoners. I´ve asked them: Did you ever question the presence of God when you were in a concentration camp? And the people I asked in Terezin said something fascinating. Most of them said it just like this: No, I never questioned the presence of God. I knew God was with us. The question was not: Where was God. The question was: Where was men? Where was men? Thats the question. And that´s the question we must ask today."
Sidlin hält für eine Sekunde inne, so als ob er das "Wo war der Mensch?" nachwirken lassen will. Dann geht er zurück an sein Pult, das Gemurmel bei Chor und Orchester verstummt augenblicklich, es geht weiter. Vor allem den B eginn von "Dies irae", was übersetzt so viel heißt wie "Tag des Zornes" will Sidlin noch einige Male üben.
Folter, Not und Erniedrigungen
Eine Stunde später, die Proben sind vorbei, Judith hat jetzt großen Hunger, in der Konzerthaus-Kantine bestellt sie eine warme Suppe.
Die vielen Gespräche mit den Zeitzeugen, über deren erlebte Folter, Not und Erniedrigungen, musste Judith nach der Prag-Reise erst einmal verarbeiten. Doch nach ein paar Tagen hat sie ihre Erlebnisse mit den anderen Chormitgliedern geteilt.
"Also ich hab noch E-Mails an den Chor geschrieben, um ein bisschen so einzufangen, was überhaupt passiert ist. Und da kam ganz, ganz viel Resonanz zurück. Und eine Art Dankbarkeit, dass ich diese Eindrücke jetzt auch weitergeben kann. Weil das hilft dem Chor wiederum sich einzustimmen."
Nur noch zwei Tage bis zu der Aufführung des "Defiant Requiem". Aus den USA angereist ist nun auch der 92-jährige Edgar Krasa, jener Überlebende, der damals in Theresienstadt einen Schlafraum mit Schächter teilte und im Chor mitsang. Er hat "Rafi", so nannte er Rafael Schächter, gut gekannt, benannte später sogar einen seiner Söhne nach ihm. Krasas Kinder werden am 4. März in Sidlins "Defiant Requiem" mitsingen - so wie er selber damals bei Schächter in Theresienstadt.
"Er wollte allen Häftlingen das Leben lebbar machen. Wir waren sehr enge Freunde. Mein Leben war, sein Leben fortsetzen: Durch Bekanntmachen, über was er getan hat."
"Making our lifes feeling like a human"
Neben Krasa steht seine Frau Hana – mit der einen Hand stützt sie sich auf den Knauf eines Krückstocks, die andere ruht auf dem Arm ihres Ehemanns.
Die 90-Jährige war auch Gefangene in Theresienstadt. Vom Chor hatte sie damals im Ghetto schon viel gehört, doch Eintrittskarten waren schwer zu kriegen. Irgendwann steckt ihr eine Freundin ein Konzert-Ticket für Verdis Requiem zu.
Aus dem Publikum sieht sie ihren Mann, Edgar Krasa, zum ersten Mal: Zunächst nur von Weitem, als Sänger im Chor.
Schächter kannte sie nicht sehr gut, doch stünde der Dirigent heute vor ihr – Hana wüsste sofort, was sie ihm sagen würde:
"Thank you. I couldn´t say more than: Thank you. I would thank him for making our lifes feeling like a human."
Ariane von Dewitz: "Ich stand in diesem alten, dunklen Keller, der so kalt und trostlos war - und fand es unfassbar, dass hier damals verzweifelte Menschen - noch im Angesicht des Todes - den Mut und die Kraft aufgebracht haben, ein derart komplexes Musikstück wie Verdis Requiem zu proben - und dann sogar noch aufzuführen. All diese Schrecken, wie Hunger, Schmutz, Ungeziefer, permanente Angst vor Folter und Hinrichtung - und trotzdem kamen sie immer wieder in dieser Eiseskälte zusammen und haben gesungen. Das ist unvorstellbar - und so beeindruckend."