Arno Orzessek, geboren 1966 in Osnabrück, studierte in Köln Literaturwissenschaften, Philosophie und Kunstgeschichte. Er arbeitet als freiberuflicher Journalist vor allem für Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur und lebt in Berlin.
Für immer Homeoffice
Arbeiten, wann und wie man will - für Arno Orzessek macht auch das den Reiz des Homeoffice aus. © imago / fStop Images / Malte Müller
Im Gefängnis der Freiheit
Viele haben das Homeoffice erst während der Pandemie kennengelernt. Arno Orzessek hingegen ist als freier Autor gewissermaßen Homeoffice-Profi. Für ihn gibt es keinen besseren Ort zum Arbeiten.
Der Pseudo-Anglizismus "Homeoffice" kursiert noch nicht länger als 25 Jahre in der deutschen Sprache, und erst in der Corona-Pandemie wurde die Büroarbeit zu Hause ein Massenphänomen.
Arthur Schopenhauer hatte also ganz bestimmt kein modernes Homeoffice vor Augen, als er notierte: „Nur wenn man allein ist, ist man frei: Zwang ist der unzertrennliche Gefährte jeder Gesellschaft.“
Der Spruch hat, typisch Schopenhauer, einen misanthropischen Unterton. Davon abgesehen, drückt er jedoch ziemlich gut aus, was ich an häuslicher Schreibarbeit schätze. Dass mir nämlich kein Mensch und keine Pflicht jemals dazwischenfunkt, egal, ob ich gerade faul oder fleißig bin, ob ich tags oder nachts mein Pensum erledige, ob meine Kleidung okay ist oder ob ich noch nachmittags im Morgenmantel zur Espressomaschine schlurfe.
Nicht genug Selbstdisziplin fürs Büro
Menschen, die völlig anders arbeiten, mit festen Arbeitszeiten in geordneten Abläufen, mit allerlei fixen Terminen und obligatorischen Meetings, und vor allem: mit Vorgesetzten, verdächtigen mich gelegentlich ausgeprägter Selbstdisziplin.
Immerhin könnten freie Autoren im Prinzip solange prokrastinieren, bis der Gerichtsvollzieher klingelt.
Doch das mit der Selbstdisziplin ist gerade umgekehrt: Ich kann mir nicht vorstellen, genügend Disziplin aufzubringen, um jeden Morgen irgendwo im Büro zu erscheinen – jedenfalls nicht ohne dickes Minus in puncto Daseinsgenuss.
Allerdings rede ich, was das angeht, ins Blaue. Von handfesten Jobs als Schüler, Zivi und Student abgesehen, habe ich beruflich immer nur geschrieben.
Dazu gehört selbstverständlich, sich tüchtig in der Welt umzutun. Aber entscheidend war und ist die Arbeit an der Tastatur zu Hause.
Verzicht auf Karriere und Gestaltungsmacht
Nach dem Studium – Geisteswissenschaften, kein gerader Weg zu ordentlichem Einkommen erkennbar – stellte sich schnell heraus, dass es unter uns, die ein Faible für Sprache, Bücher, Journalismus und diese Dinge hatten, solche und solche gab.
Die meisten wollten eher früher als später etwas Festes, griffen rasch zu, sobald es in Reichweite kam – und gingen fortan morgens in ihr Büro in der Firma, im Verlag, im Sender, im Amt. Andere gründeten zumindest Bürogemeinschaften – die Schicksalsgenossenschaften derer ohne Festanstellung.
Nur wenige versuchten dauerhaft, als Solisten vom heimischen Schreibtisch aus ihre Claims im Wilden Westen der Publizistik abzustecken. Was im Übrigen bedeutet, auf institutionelle Karriere, Einfluss und Gestaltungsmacht zu verzichten.
Mein Urteil als freier Autor ist mir nun seit Langem bekannt, es lautet: lebenslänglich. Ich habe es selbst über mich gesprochen. Was könnte ich nach Jahrzehnten auch schon anderes wollen als Weitermachen?
Das Arbeitszimmer kann zur Folterkammer werden
Ich sitze also im Gefängnis meiner Freiheit, meinem Homeoffice und genieße dort ... Nein! Ich genieße nicht jeden Tag. Aber immerhin fast jeden.
Wenn sich Ideenlosigkeit mit Zeitdruck paart, kann das Arbeitszimmer zur Folterkammer werden. Für bloße Anwesenheit gibt es ja keinen Cent, für gedankliche Abwesenheit auch nicht.
Die Kunst besteht darin, im Moment der Krise ganz abzuschalten, ohne ganz abzuschalten – Fernsehen gucken, Blumen gießen, Kühlschrank plündern. Die Muse darf nicht merken, wie sehr man ihren Kuss benötigt – dann küsst sie.
Und dann winken im Gefängnis der Freiheit wahre Triumphe: Wenn die Finger plötzlich flotter formulieren, als die Gedanken folgen können – und Sätze dastehen, deren Autor man sein möchte, weil man nicht gemerkt hat, dass man es soeben geworden ist.
"Ich nehme meine Situation als Privileg wahr"
Ja, liebe Soziologen! Diese halb-metaphysische Freude fußt selbstverständlich auf konkreten empirischen Bedingungen. Man muss etwa genug Aufträge haben und keine Kinder, sonst wirds schwierig. Aber sofern die Bedingungen erfüllt sind, sind Freudentaumel möglich.
Ich schätze, viele Menschen, die in jüngster Zeit die Arbeit im Homeoffice kennengelernt haben, finden die ganze Angelegenheit weit profaner. Doch das irritiert mich nicht als lebenslänglich Freischaffender. Frei schaffen. Gibt es überhaupt zwei Wörter, die lustvoller klingen?
Ich nehme meine Situation als Privileg wahr: Das bezahlbare Produkt meiner Arbeit im Homeoffice ist der Text, das unbezahlbare die Lebenslust.