Von Lederstiefeln bis Tee-Service
Der Unterstrich im Titel "Homosexualität_en" des Deutschen Historischen Museums in Berlin signalisiert den Anspruch der Ausstellung: die Vielfalt von Geschlechteridentitäten zu präsentieren. Die queere Community ist damit dort angekommen, wo einige nie hinwollten: in der Mitte.
Der "Rosa Winkel" als stigmatisierende Kennzeichnung von Homosexuellen im KZ. Berlin – das Dorado für gleichgeschlechtliche Außenseiter in den Roaring Twenties der Weimarer Republik. Der bis in die Achtziger währende Kampf gegen den diskriminierenden § 175. Das kennt man, das erwartet man von einer Ausstellung über "Homosexualitäten" im DHM. Und dann dies: "Dildo", "Mösenmobil" oder "Tittendominanz" lauten Stichworte in der Abteilung "Wildes Wissen".
Dorothée Brill: "Es ist wirklich eine irrsinnige Breite an Objekten: von rosa Dingen zu Lederstiefeln, zu einer Karnevalsuniform, zu einem Tee-Service, zu Fotos, Flyern. Und eben zwischendrin auch Kunst: Louise Bourgeois, Lee Lozano, Elmgreen & Dragset und – ganz wichtig – Cassils, Heather Cassils."
Künstlerische Positionen setzt Kuratorin Dorothée Brill ein, um zu zeigen, was "Geschlecht" bedeuten kann. Oder besser noch: Posituren eines Trans-Bodybuilding-Künstlers. Cassils führt schon auf dem Ausstellungsplakat seinen / ihren Muskelbalg vor als "von gesellschaftlichen Erwartungen geformte Skulptur". Dieser gar nicht zarte Hauch von Theorie weht auch im Titel "Homosexualität_en" – mit einem Unterstrich vor der Plural-Endung.
Birgit Bosold: "Der Unterstrich – gender-gap genannt – kommt aus der queer-feministischen Linguistik und verweist auf die Vielfalt der Geschlechter. Er verweist darauf, dass es eben nicht nur Männer und Frauen gibt, sondern vieles dazwischen. Und auf dieses 'Dazwischen' wird über diesen Gender-Gap aufmerksam gemacht."
Die LGBTIQ-Szene und abstrakt-akademische Thesen
Für die so eingeführte LGBTIQ-Szene der lesbian, gay, bisexual, transgender, intersex und "questioning", der Unentschlossenen, dürfte Mangel an Aufmerksamkeit das geringste Problem sein. Nur soll eben über den Unterstrich auch das ganz gewöhnliche Museumspublikum der abstrakt-akademischen These nähertreten, dass Homosexualitäten seit ihrer ersten Erwähnung im Jahre 1868 facettenreich konstruierte Identitäten waren und sind. Eine pure "Erfindung" der Moderne also. Die hat neuerdings bemerkenswerte Konsequenzen: Bei Facebook etwa offeriert bei der Anmeldung die Wahl zwischen über 50 Geschlechtern. Derart Anekdotisches aus der "queeren" Welt trifft auf eindrückliche Interviewfilme, Hörstationen und eine Überfülle historischer Dokumente. Eine Vielzahl von Belegen also für jene große Sache, die Birgit Bonsold als Initiatorin dieser Ausstellung endlich auch im Deutschen Historischen Museum vertreten sehen wollte:
"Nämlich den Beitrag der Homosexuellen-Bewegung zur Demokratisierung der Gesellschaft aus historischer Objektivität heraus: Die Geschichte der Sexualitäten und auch die sexuellen Revolutionen des 20. Jahrhunderts sind mit die größten sozialen Veränderungen, die überhaupt passiert sind in den letzten 100 Jahren."
"Objektiv" und "wertfrei" soll es sein. Selbst zum anspruchsvollen Thema "Sozialgeschichte der Homosexuellen" sind einfach nur Fotos wie Schüttgut angepinnt, ohne jeden Kommentar, ohne eine Erklärung. Nach dem DHM geht es weiter im Schwulen Museum, wo Birgit Bosold in Petersburger Hängung, also wandfüllend, das unüberschaubare Konvolut des Kunsthistorikers Andreas Sternweiler ausgebreitet hat. Um zu zeigen:
"Wie man gegen diese Zensur und Selbstzensur ansammeln kann. Um diesen Prozess oder das Nachdenken darüber anzuregen, was ist eigentlich Geschichte, was landet denn dann eigentlich im Museum – und was auch nicht? – haben wir diese Sammlung nicht als Steinbruch um irgendetwas damit zu kommentieren, sondern die Sammlung selber als kulturgeschichtliche Leistung zu würdigen und überhaupt erst einmal sichtbar zu machen."
In der Mitte angekommen
Vieles allerdings bleibt unsichtbar – oder unerhört: Wenn etwa die Direktorin der Bundeskulturstiftung als generöse Geldgeberin den Identitätswechsel des Künstlers Marcel Duchamp mit der bürokratischen Formel "Feminisierung" belegt. Als Madame Duchamp wählte sie das Pseudonym "Rrose Selavy". Rrose mit zwei "R", um sie auf der Zunge zergehen zu lassen: ER-Ros, c'est la vie! Eros lebt, aber nicht durch plump-anschauliche Muskel-, sondern nur durch subtile Wort-Spiele. Nichts für Museumsplakate. Und DHM-Direktor Alexander Koch hatte ohnehin ganz andere Probleme:
"Das Schwule Museum: eine Einrichtung von Spezialisten für Spezialisten. Es war also ein gegenseitiger Prozess auch des Lernens und sicherlich auch des Ringens um den richtigen Kurs, wie wir dieses Thema in der Mitte der Gesellschaft auch verankern."
Und so sind die einst "sehr speziellen" Homosexualität_en per Kulturförderung angekommen, wo einige nie hinwollten: in der Mitte, im Mainstream.