Frédéric Martel: "Sodom. Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan"
Übersetzt von Katja Hald, Elsbeth Ranke, Eva Scharenberg und Anne Thomas
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019
672 Seiten, 26 Euro
Schweigen begünstigt Machtmissbrauch
11:10 Minuten
In seinem neuen Buch will der Journalist Frédéric Martel aufzeigen, wie stark der Vatikan von der unterdrückten Homosexualität vieler Kirchenmänner geprägt ist. Ihre Kultur des Schweigens habe die Vertuschung vieler Missbrauchsfälle begünstigt.
Anne Francoise Weber: Am Donnerstag ist in deutscher Übersetzung ein Buch erschienen, das schon vor einem halben Jahr in anderen Ländern für Aufsehen gesorgt hat – und vor allem im Vatikan. Der Titel lautet "Sodom: Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan". Geschrieben hat es der Journalist und Soziologe Frédéric Martel, der nun bei mir im Studio ist.
Herr Martel, Sie schreiben in Ihrem Buch, es gehe Ihnen nicht darum, Kardinäle oder Prälaten zu outen – tatsächlich bleiben viele in Ihrem Buch anonym, andere allerdings nennen Sie dann doch ziemlich deutlich beim Namen. Wenn es nun aber nicht ums Outing geht, worum geht es Ihnen dann, wenn Sie über die Sexualität dieser Kirchenmänner schreiben?
Frédéric Martel: Das ist eine sehr berechtigte Frage. Im Grunde geht uns das Privatleben eines Kardinals, eines Bischofs, eines Priesters nichts an. Ob sie nun Priester sind oder nicht - es ist nicht meine Aufgabe, zu sagen, ob sie homosexuell sind. Das ist eine Art Prinzip unter Homosexuellen: Man tut nicht anderen an, was man selbst nicht erleben möchte. Deswegen habe ich mich entschieden, keine Lebenden zu outen. Ich oute lang verstorbene Menschen, weil das Teil der Geschichte ist. Ich oute Menschen, bei denen es schon große Zeitungen auf seriöse Weise getan haben, oder solche, bei denen man durch Missbrauchsskandale erfahren hat, dass sie sich zu - häufig sehr kleinen - Jungs hingezogen fühlen. Aber wichtig ist mir, das System zu outen, zu erklären, nicht die Individuen.
Je homophober, desto eher homosexuell?
Weber: Dieses System trägt bei Ihnen den Namen Sodom, nach der verrufenen Stadt aus der hebräischen Bibel. Sie stellen im Lauf des Buchs 14 Regeln für Sodom auf. Eine davon lautet: Je mehr ein Prälat pro-schwul ist, desto weniger wahrscheinlich ist er selbst schwul, je homophober ein Prälat ist, desto wahrscheinlicher ist er homosexuell. Woher kommt diese verkehrte Welt, warum diese erklärte Homophobie – geht es darum, nur nicht in Verdacht zu geraten, selbst homosexuell zu sein?
Martel: Ja genau. Wenn man nur eine Sache von diesem Buch behalten sollte, dann wäre es das. Es ist eine alte Regel, schon in den Romanen von Marcel Proust oder Thomas Mann kann man feststellen, dass die kompliziertesten und öffentlich homophobsten Persönlichkeiten homosexuell sind. Das gilt bis heute, auch für manche deutschen Kardinäle, die der Homosexualität sehr feindlich gegenüberstehen und sich doch mit Liebhabern, One-Night-Stands oder sogar Prostituierten umgeben, wie man weiß. Wenn man seine Homosexualität verstecken will, dann übertreibt man die Homophobie und macht sich über die Schwulen lustig, weil man Angst hat, enttarnt zu werden.
Früher war das Priesteramt für Homosexuelle eine Lösung
Weber: Viele der Kardinäle, die Ihren Informationen zufolge ein Doppelleben führen und ihre homophilen oder homosexuellen Neigungen verstecken, sind heute sehr alt. Sie waren zu einer Zeit jung, als offenes Schwulsein gesellschaftliche Ächtung mit sich brachte, da war die Kirche ein Zufluchtsort. Heute lebt es sich als Schwuler außerhalb der Kirche vermutlich weitaus besser – wird sich dieses Problem der versteckten Homosexualität vielleicht einfach in ein paar Jahrzehnten biologisch erledigt haben?
Martel: Uns interessiert nicht, ob Bischof A, Kardinal B oder Priester C homosexuell ist, sondern es geht um Soziologie. Es geht darum, ein System zu verstehen, das seit so langem viele Homosexuelle angezogen, eingestellt und befördert hat. Warum? Wenn man in einem kleinen Dorf oder auch einer deutschen Großstadt wie Frankfurt, Berlin oder München lebt und seine Homosexualität entdeckt – oder vielleicht auch gar nicht weiß, was los ist: Man fühlt sich nicht zu Frauen hingezogen, will nicht heiraten, man mag manche femininen Kleider, hat eine etwas hohe Stimme und so weiter –, dann ist das Leben die Hölle. Und vor allem ist man die Schande der Familie. Ich spreche von den 40er- oder 50er-Jahren. Priester zu werden war zu dieser Zeit eine Lösung. Man konnte unter Männern leben und bekam zu hören, man dürfe keinen Sex mit Frauen haben – genau das wollte man ja.
Diese oft verdrängte, nicht angenommene Homosexualität – viele dieser homosexuellen Kardinäle, die deutschen eingeschlossen, praktizieren vielleicht nicht, sie sind vielleicht wirklich keusch geblieben, aber sie sind eben doch in einer homosexuellen Kultur. Natürlich hat mit der Schwulenbewegung diese verinnerlichte Homophobie abgenommen. Ich glaube, damit kann man den mangelnden Priesternachwuchs auch hier in Deutschland erklären. Warum? Ein normaler Heterosexueller will nicht mehr Priester werden, er akzeptiert Keuschheit und Zölibat nicht mehr. Ein Homosexueller hat immer mehr Möglichkeiten, etwas anderes zu werden als ein Priester.
Verdrängtes Begehren, Selbsthass und Erpressung
Weber: Nun sind Homosexualität, sexueller Missbrauch und Pädophilie wirklich ganz unterschiedliche Dinge, trotzdem wird da besonders von Seiten mancher kirchlicher Stellen ein Zusammenhang konstruiert im Sinne von: Schwule sind grundsätzlich des Missbrauchs verdächtig. Das teilen Sie natürlich nicht, aber Sie sehen doch da eine andere Verbindung zwischen dieser versteckten Homosexualität und den Missbrauchsskandalen?
Martel: Zuerst mal muss man daran erinnern, dass alle Studien zeigen, dass sexueller Missbrauch in der Gesellschaft vor allem von Männern an Frauen und Mädchen verübt wird, zunächst in der Familie, dann in Schulen und so weiter. Warum? Weil es wesentlich mehr Hetero- als Homosexuelle auf der Welt gibt. Wenn wir uns jetzt die katholische Kirche anschauen, dann sind die meisten Opfer Jungs und junge Männer. Zu 80 bis 85 Prozent, das ist eine sehr signifikante Zahl. Das heißt: Sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche ist homosexueller Art.
Das Problem ist dabei nicht die Homosexualität an sich, sondern die unterdrückte, verneinte, verdrängte Homosexualität, was bis zum Hass auf Homosexuelle und damit zum Selbsthass führt. Das geht soweit, dass man sexuelle Gewalt ausübt. Das Opfer ist oft ein Migrant, ein Kind oder ein Seminarist – also immer jemand, der nicht reden und nicht zur Polizei gehen kann. Das zentrale Problem ist also nicht die Sexualität, sondern das Verhältnis zur Lüge, das Doppelleben.
Daneben gibt es die Frage der Vertuschung des sexuellen Missbrauchs. Da weiß man, dass es viel Erpressung gibt: Viele Bischöfe oder Kardinäle, die homosexuell sind oder eine Frau haben, werden von pädophilen Priestern erpresst, die sie benutzen, um sich zu schützen. Die Verheimlichungskultur ist der Hauptgrund für diese wiederholten Missbrauchsfälle. Wir sprechen von tausenden Priestern, die heute in Australien, den USA, in Chile, Kolumbien, Mexiko angeklagt sind. In Deutschland sind ungefähr 1600 Priester seit dem Zweiten Weltkrieg beschuldigt worden. Es sind also keine Einzelfälle, sondern es ist ein System.
Weber: Ist es denn gewollt, dass Ihr Buch in Deutschland am gleichen Tag erschienen ist wie der Kinostart von François Ozons Film "Gelobt sei Gott"? Darin geht es um einen großen Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche in Frankreich.
Martel: Seltsamerweise ist das Buch auch schon in Frankreich am gleichen Tag herausgekommen wie der Film. Aber es ist beide Male ein Zufall. Sie wissen ja, dass Bücher sehr weit im Voraus geplant werden. Aber ich mag den Film von François Ozon sehr, er mag mein Buch sehr, und wir wurden oft zusammen eingeladen. Es sind nicht die gleichen Themen, aber es gibt tiefe Verbindungen zwischen einer Kultur der Lüge und des Geheimnisses in der katholischen Kirche und der Ablehnung von Homosexualität. Die katholische Kirche ist wahrscheinlich die Institution, die am meisten von Wahrheit redet – und eine von denen, die sie am wenigsten leben.
Hatte Benedikts Rücktritt mit Homosexualität zu tun?
Weber: Sie führen auch den Rücktritt von Papst Benedikt zwar nicht ausschließlich, aber doch in ganz großen Teilen auf das Themenfeld Homosexualität zurück. Reduzieren Sie da nicht komplexe Vorgänge auf das alte Skandalthema Sex?
Martel: Fakt ist: Ein Papst tritt zurück, zum ersten Mal seit Jahrhunderten. Da gibt es viele Faktoren, wie Sie sagen. Die Gesundheit hat eine Rolle gespielt, die Unfähigkeit von Staatssekretär Kardinal Bertone, die Schwierigkeiten, die er durch die Missbrauchsskandale erlebt, die Probleme, die er in Mexiko und Kuba entdeckt - kurz gesagt, viele Themen.
Aber ich beweise, dass auch eine Reihe von Fragen in Zusammenhang mit Homosexualität eine Rolle gespielt haben. Und warum? Ich halte Benedikt XVI. für einen aufrichtigen Mann, weitaus weniger heuchlerisch als andere. Er hatte einen sehr ehrlichen Umgang mit Sexualität und sagte den Homosexuellen: Wenn ihr dieses Problem habt, das euch als Sünde in die Hölle bringen kann, bleibt keusch. Für ihn ist eigentlich ein Heiliger, wer keusch lebt. Das ist doch wunderbar.
Ich mochte Benedikt XVI. immer, denn er spricht von sich selbst. Deshalb stelle ich – zusammen mit vielen anderen– die Hypothese auf, dass er homophil war, also Neigungen hatte. Er ist höchst wahrscheinlich keusch, aufrichtig und Junggeselle geblieben, aber er hat gegen die Homosexualität gekämpft, weil er gegen sich selbst kämpft. Das ist nun das Denken einer anderen Zeit. Er ist heute 92 Jahre alt. Das ist jemand, den man mit den Codes der 30er-, 40er- und 50er-Jahre verstehen muss, nicht mit denen von 2019.
Wege aus der Heuchelei
Weber: Papst Franziskus hat zum Thema Homosexualität den berühmten Satz gesagt: "Wer bin ich, dass ich urteile?" Ganz klar verurteilt hat er aber die Heuchelei, auch an der Kurie. Meinen Sie, dass er damit wirklich wird aufräumen können?
Martel: Die Homosexuellen wird er nicht loswerden, denn es gibt so viele, auch in seiner Umgebung. Dann gebe es nicht mehr viele Kardinäle, fast niemanden mehr im Vatikan. Nein, er will die Heuchelei loswerden und die Kirche reparieren. Da kommt er mit Kardinal Reinhard Marx zusammen und der deutschen Kirche, da sind sie sich ähnlich, weil sie alle die Rolle der Frauen und der Laien in der Kirche ändern wollen. Sie wollen, dass die Kirche eine fortschrittliche Kraft wird, was sie heute nicht mehr ist. Aber gerade mit seiner Umweltenzyklika Laudato Si hat der Papst gezeigt, dass die Kirche modern und fortschrittlich sein kann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.