Unter der Toleranz sitzt immer noch der Hass
"Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt", so hieß der Film, den Schwulenaktivist Martin Dannecker in den 70ern mit Rosa von Praunheim drehte. Vieles habe sich seitdem verbessert, das sei aber kein Grund, sich auszuruhen.
"Wir bewegen uns in einem Viertel, was Deutschlands glaube ich größtes Wohngebiet für homosexuelle Männer und auch lesbische Frauen ist."
Martin Dannecker läuft mit mir durch den Nollendorfkiez in Berlin-Schöneberg. Hier befinden sich viele Kneipen und Restaurants, vor denen die Regenbogenflagge weht. Es gibt Buchläden mit homosexueller Literatur, Fetisch-Shops, aber auch Kitas und einen Biosupermarkt, in dem junge Familien einkaufen.
"Es ist gemischt. Ich finde es immer wieder ganz erfreulich, wenn man hier durchgeht, also als Repräsentanz viele schwule Männer sieht, die irgendwie scheinbar mit einer großen Selbstverständlichkeit auch den öffentlichen Raum besetzt haben und nicht nur die Wohnung hinter verhangenen Vorhängen."
Reporter: "Homosexualität sichtbar machen, ist ja auch immer Ihre Forderung gewesen. In den 70ern sind Sie ja als Student und Teil der jungen deutschen Schwulenbewegung auf die Straße gegangen. Aber einen Platz in der Mitte der Gesellschaft haben Sie nie angestrebt oder?"
Dannecker: "Ich finde es an den Rändern eigentlich viel interessanter. Also einerseits kann ich es natürlich verstehen, dass es so eine Sehnsucht der Außenseiter gibt in irgendeiner fiktiven Mitte anzukommen. Andererseits glaube ich ist das ein Holzweg."
Der Platz in der Mitte der Gesellschaft müsse mit einem hohen Preis bezahlt werden, so Dannecker. Nämlich: Anpassung.
"Das Nicht-Angriffsflächen-Bieten ist uralt. Das gab es schon in den grauenvollen Zeiten der offenen Schwulenverfolgung nach dem Zusammenbruch des Faschismus. Da gab es auch bei diesen Gruppen, die es gab, immer wieder die Haltung: 'Wir müssen so viel Anpassung wie möglich zeigen und müssen ein Bild des Schwulen pinseln, als ob die einzige Differenz wäre, dass man mit einem Mann ins Bett geht'."
Er besteht auf die Unterschiede
Verächtlich zieht der Sexualwissenschaftler an seiner Zigarette.
Er besteht auf die Unterschiede und ärgert sich, dass zum Beispiel weiblichere Schwule auch von anderen Homosexuellen diskriminiert würden.
"Wir haben das ja manchmal in den Diskussionen um den CSD herum, dass es da zu schrill zugeht und dass da ein falsches Bild der Schwulen gezeigt wird. Ja, aber das sind doch Schwule, die sich da zeigen! Wieso soll das ein falsches Bild sein? Die Anpassung führt zur Anpassung und nicht zur Freiheit."
Martin Dannecker rührt in einem Milchkaffee. Er hat seine schwarze Sonnenbrille abgenommen. Der emeritierte Professor erzählt mir von seiner Jugend in einem Schwarzwaldstädtchen. Von Konflikten mit den Eltern, vom Nicht-Verstanden-werden, von der Enge kleinbürgerlicher Verhältnisse.
"Es war, als ich dann mit siebzehneinhalb weggegangen bin ein großes Glück der Befreiung. Ich wusste, ich komme hier nie wieder zurück. Ich hatte irgendwie einen kleinen Koffer, da war nicht sehr viel drin. Ein paar Bücher, wenige Kleider. Und ich bin dann nach Stuttgart gegangen."
Dort besucht Dannecker eine Schauspielschule. Zu selben Zeit wird ihm klar: Ich bin schwul. In Büchern versucht er, Antworten auf seine Fragen zu finden und ist schockiert. Seine Sexualität soll eine Krankheit sein.
"Ich konnte nichts Pathologisches an mir finden, ich war immer schon ein bisschen verrückt, aber das war ein Teil meiner Persönlichkeit. Und da war natürlich die Frage, wie entstehen diese pathologisierenden Konstrukte. Welche Funktion hat das Zuschreiben von Krankheit?"
Die Homosexuellen von ihrer Angst befreien
Er will widerlegen, dass Homosexualität behandlungsbedürftig sei und somit auch irgendwie auslöschbar. Dannecker holt das Abitur nach und studiert Psychologie und Soziologie. Parallel entsteht Anfang der 70er der Film "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt". Gemeinsam mit Schwulen-Ikone Rosa von Praunheim schreibt er das Drehbuch.
"Wir waren uns ja in einem einig, dass wir nicht so etwas wie einen Werbefilm für schwule Männer machen wollten. 'Die muss man doch verstehen und das sind doch auch Menschen.' Also das ist doch unerhört, als ob das irgendwie eine Frage wäre!"
Das Werk gilt als Initialzündung für die deutsche Schwulenbewegung, vielleicht gerade weil es sehr schonungslos und selbstkritisch ist. Dannecker wollte aufrütteln, damit sich die Homosexuellen von ihrer Angst befreien und in die Öffentlichkeit gehen.
Seit dem Film und Martin Danneckers erster wissenschaftlicher Arbeit über schwule Männer sind Jahrzehnte vergangen. Als wir uns vor dem Café verabschieden, küssen sich neben uns zwei Männer. In Danneckers Jugend wäre das undenkbar gewesen. Vieles hat sich für Homosexuelle in Deutschland zum Besseren gewendet. Das sei aber kein Grund, sich darauf auszuruhen, wie der Sexualwissenschaftler stets betont.
"Wir haben eine viel, viel größere Toleranz. Aber diese Toleranz ist, glaube ich, ein Stück weit oberflächlich. Drunter und tiefer verdrängt, ist ein Stück der alten Furcht und des alten Hasses gegenüber Schwulen und Lesben."