Autor: Michael Meyer
Sprecher: Tonio Arango und Robert Frank
Regie: Stefanie Lazai
Ton: Jan Fraune
Redaktion: Dorothea Westphal
Stilles Begehren und lauter Protest
29:46 Minuten
Homosexuelle Liebe und Gefühle begleiten die Literatur seit Jahrhunderten. Doch erst nach den Stonewall Riots - Aufständen, die Ende Juni 1969 in New York begannen - kamen in der Literatur verstärkt homosexuelle Charaktere vor.
Homosexuelle Liebe und Gefühle gibt es in der Literatur seit Jahrhunderten. Doch von homosexueller Literatur kann man erst seit Ende der 60er Jahre sprechen - als mit den "Stonewall Riots" in New York eine Schwulenbewegung entstand, die dazu führte, dass in der Literatur verstärkt homosexuelle Charaktere vorkamen.
Doch ist schwul-lesbische Literatur ein eigenes Genre?
"Wenn es einen riesigen Stapel von Büchern von schwulen Autoren gibt, die über schwule Themen schreiben, dann gibt es auch schwule Literatur, auch wenn man sich darüber bei sehr viel Weißwein trefflich streiten kann," sagt der Journalist und Autor Matthias Frings.
Thomas Sparr vom Suhrkamp Verlag hält dagegen: "Es gibt ein Genre von homosexueller Literatur, was die Themen angeht, was die Motive angeht, was die Figuren angeht. Dass wir sie aber als homosexuelle Literatur klassifizieren, klassifizieren müssen, halte ich für misslich. Ich würde lieber nur von Literatur sprechen."
Der Schweizer Autor Alain Claude Sulzer geht noch einen Schritt weiter: "Nein, das existiert nicht, würde ich sagen. Es gibt einfach gute Bücher, schlechte Bücher, gute Romane, schlechte Romane."
Die Meinungen darüber, ob homosexuelle Literatur ein eigenes Genre sei, sind also geteilt. Der britische Autor Alan Hollinghurst meint, dass es vor allem in den 70er und 80er Jahren eine Schwulenliteratur gab, die aus der Schwulen- und Bürgerrechtsbewegung geboren wurde. Und so haben die Stonewall Riots, die in der Nacht vom 27. auf den 28. Juni 1969 vor dem Stonewall Inn, einer bekannten Schwulen-Kneipe im New Yorker Stadtteil Greenwich Village, ausbrachen, nicht nur gesellschaftlich, sondern auch kulturell und literarisch vielverändert.
"Gay Pride" als Motiv für schwule Literatur
Das "Sichtbarmachen", "Gay Pride" und ein offenerer Umgang mit den Themen Sexualität und Homosexualität waren Motive in der Literatur jener Zeit. Der New Yorker Schriftsteller Edmund White, einer der profiliertesten Chronisten schwulen Lebens in den USA:
"Ich glaube, dass sie ihre Lektionen gelernt haben aus der Frauenbewegung, der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, den Protesten gegen den Vietnam-Krieg. All das waberte durch die Luft, bis dahin dachten Schwule, sie würden eine Sünde begehen oder ein Verbrechen oder hätten eine Geisteskrankheit. Aber das änderte sich plötzlich, und Homosexuelle sahen sich erstmals als eine eigene Minderheit, und das war etwas ganz Neues, niemand hatte jemals vorher so darüber gedacht."
Natürlich hatte es auch vorher Romane gegeben, die homosexuell konnotiert waren, deren Charaktere also entweder offen schwul waren oder sich so verhielten, dass dies von interessierten Lesern als homosexuell gedeutet werden konnte.
Die Liste der Beispiele ist lang: "Das Bildnis des Dorian Gray" von Oscar Wilde oder "Der Tod in Venedig" von Thomas Mann, "Maurice", von E. M. Forster oder "The city and the pillar" von Gore Vidal. Dieser Roman erschien 1948 in den USA und war für damalige Verhältnisse eine Sensation, da Vidal in aller Offenheit, zuweilen in etwas kitschigem Stil, von schwulem Begehren, Sex und Freundschaft erzählte.
Zwanzig Jahre später erschien sein Roman "Myra", der trotz aller Diskriminierungen in den USA anders rezipiert wurde, als das zu der Zeit in Deutschland möglich gewesen wäre:
"In Deutschland hätte man den wie einen schwulen Autor exkommuniziert und außen vor gelassen, in den USA hat man verstanden, das ist große Literatur, dem gebührt Respekt," so Thomas Sparr, der gerade ein Buch über homosexuelle Kulturgeschichte schreibt.
Film über die Homosexuellen-Bewegung
In Deutschland kamen vor 1969 schwule und lesbische Inhalte in der zeitgenössischen Literatur kaum vor. Hier war es ein Filmregisseur, der die Bewegung der Homosexuellen vorangebrachte: Rosa von Praunheim. Mit dem Film "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt", der 1971 herauskam und eine echte Provokation darstellte.
In den meisten Romanen, die in dieser Zeit sowohl in Deutschland als auch in den USA erschienen, ging es darum, zum eigenen Schwul- oder Lesbischsein zu stehen, das eigene Coming-Out zu beschreiben. Sie bedienten eher spezielle Interessen der Subkultur.
Inzwischen gibt es ein paar Schriftsteller, die man als "homosexuelle Romanciers" bezeichnen kann und die ein breiteres Publikum ansprechen. Der Amerikaner Michael Cunningham ist ein Beispiel. In seinen Romanen "Die Stunden" oder "Helle Tage" spielen homosexuelle Figuren allerdings nur am Rande eine Rolle.
In Frankreich wurde Edouard Louis als "Shooting-Star" der französischen Literatur gefeiert. In seinem Erstlingswerk "En finir avec Eddy Bellegueule" - auf Deutsch: "Das Ende von Eddy" - beschreibt Louis die Probleme eines jugendlichen homosexuellen Außenseiters in der französischen Provinz, der stark unter seinen Eltern, vor allem unter seinem Vater leidet.
Schwules Leben im Roman
Inzwischen haben sich gesellschaftliche Toleranz und Akzeptanz in Westeuropa noch einmal weiterentwickelt. Und es stellt sich die Frage: Sind Identitäts-, Gender- und Klassenfragen auch literarisch spannende Themen? "Ja, literarisch spannend, wenn‘s gut gemacht ist, ist alles spannend," findet Alain Claude Sulzer.
Dass explizit homosexuelle Literatur, so wie sie in den 70er und 80er Jahren entstand, überhaupt noch notwendig sei, findet Alan Hollinghurst eher nicht:
"Schwule Literatur ist als ein Genre nicht mehr so deutlich konturiert, man hört ja auch Leute nicht mehr von 'schwulen Romanen' sprechen. Mein neuester Roman handelt vom schwulen Leben genau wie meine früheren Bücher, aber niemand würde ihn mehr als einen 'schwulen Roman' bezeichnen. Aber das ist wohl mit allen Freiheitsbewegungen so: Das eigentliche Ziel ist, dass es sie nicht mehr geben muss."