Schwestern im Schmerz
In Hamburg zeigt das Thalia Theater zwei Horváth-Klassiker in ungewöhnlicher Fassung und Form. Jette Steckel inszeniert "Kasimir und Karoline" und "Glaube, Liebe, Hoffnung" an einem Abend – dem zur Hälfte aber die Luft ausgeht.
Im Vorfeld grassierte die Sorge – hatte sich da womöglich nur eine überambitionierte Dramaturgie dazu verstiegen, zwei sehr vertraute Theatertexte des Volkstheater-Klassikers Ödön von Horvath in einen Premierenabend zu zwängen? Glaubhaft hat das Thalia Theater vermitteln können, dass es so nicht war – vielmehr habe Horvath selber in einer frühen Phase der Entstehung von "Kasimir und Karoline" sowie dem Schwester-Stück "Glaube, Liebe, Hoffnung" beide Texte zusammen gedacht. In der Geschichte der jungen Elisabeth, die schon zu Beginn aus lauter Verzweiflung über "die Zeitumstände", also die wachsende Armut am Ende der Weimarer Republik, den eigenen Körper als zukünftige Leiche an die Anatomie verkaufen will und danach den berühmten "kleinen Totentanz" bis zum Sterben im Wasser durchlebt und durchleidet, ist die Rummelplatz-Geschichte um den frisch entlassenen Chauffeur Kasimir und die trotz allem (und um jeden Preis) aufstiegswillige Karoline nur eine weitere Episode. Erst später habe auch Horvath beide Stücke einzeln zu Ende geschrieben. Und so sind sie Stammgäste geworden auf den Spielplänen.
Jetzt heißt das Stück also "Kasimir und Karoline - Glauben, lieben, hoffen", und die Rückführung ins frühe Doppel-Stück funktioniert in Hamburg durchaus − auch weil Regisseurin Jette Steckel, frisch ausgezeichnet mit dem Deutschen Theaterpreis, dem "Faust", abendfüllend die Drehbühne in Bewegung setzt. Auf ihr mischt sich das Personal um die Leidensfrauen Elisabeth und Karoline herum auf sehr produktive Weise; Doppel-Besetzungen sind extrem effektiv: wenn etwa Sebastian Rudolph zunächst Elisabeths hilfreicher Präparator ist (der dem Mädchen mit 150 Mark aushilft) und im Bühnen-Drehen zum Zuschneider Schürzinger wird, Karolines Ersatz-Lover, diesem Achterbahn-Abenteuer auf dem Oktoberfest. Auch die präsenilen Potenzprotze aus den Bierzelten dort, die die junge Karoline gegen Ende als altersgeile Knacker bedrängen, sind klug zurückgebunden an jene autoritären Figuren, die auch Elisabeth kennen und erdulden lernen musste.
Silberne Ballons über der Spielfläche
Zudem hat Florian Lösche eine ziemlich grandiose Raum-Idee realisiert. Bei ihm steht ja fast nie etwas auf der Bühne, bei ihm hängt oder fällt immer etwas von oben herab. Hier schweben gut ein Dutzend silbern glänzende Riesen-Ballons zunächst über der Spielfläche (wie Disko-Kugeln, auch wie der legendäre Zeppelin, der übers Oktoberfest schwebt), und dann fallen sie herab, um sich im Brummkreisel-Rhythmus mit zu drehen. Das eröffnet ganz erstaunliche Auftrittsmöglichkeiten für das jung und stark sortierte Ensemble um die Horvath-Schwestern Maja Schöne und Birte Schnöink.
So viel zu den positiven Aspekten. Zugleich aber fällt auf, dass Steckels Inszenierung nach der ziemlich streng und formal gebauten ersten Hälfte komplett alles Tempo und jede Kontur verliert. Der Grund ist klar: Jetzt geht's plötzlich nur noch ums Gesaufe und Gelalle und Gezeter und Gerammel auf dem Oktoberfest; Elisabeth taucht nur noch kurz auf, um ins Wasser zu gehen. Da wird plötzlich aber auch richtig "gespielt", wird Suff und Emotion beschworen; und das geht leider gar nicht – beziehungsweise nur bei Karin Neuhäuser im Part der lebensweisen Erna. Auch Horvaths goldene Regel allerdings (dass nämlich die berühmten Pausen im Text mitgespielt werden sollten) wird vollkommen ignoriert. Das rächt sich.
Ansehenswert ist das Stück der Schmerzensschwestern unbedingt, und aktuell ist es natürlich auch in diesen Zeiten kurz vor der gesellschaftlichen Explosion. Und doch scheitert Steckel auf hohem Niveau, weil ihr zu schnell die dramaturgische Luft ausging.
Informationen des Thalia Theaters Hamburg zur Produktion "Kasimir und Karoline – Glauben Lieben Hoffen"