Ein Stück vom traditionellen Haiti
In Port-au-Prince, der Hauptstadt von Haiti, liegen noch immer viele Gebäude in Trümmern. Aber im Zentrum ragt ein Gebäude mit großen Türmchen und Säulen empor: das Hotel Oloffson. Viele Berühmtheiten stiegen hier ab - allen voran der Schriftsteller Graham Greene.
Müll am Straßenrand, immer wieder Berge von Müll. Es riecht nach Fäulnis und Moder. Im Zentrum von Port-au-Prince, der Hauptstadt von Haiti, liegen noch immer viele Gebäude in Trümmern.
Die Avenue Christophe führt auf eine Anhöhe − und plötzlich wirkt alles eine Spur gepflegter. Aus dem Halbdunkel der späten Nachmittagsstunden ragt ein großes, weißes Gebäude empor mit runden, großen Torbogenfenstern, Türmchen und Säulen. Zwei Bodyguards in Tarnanzügen und kugelsicheren Westen fuchteln demonstrativ mit ihren Gewehren herum, grinsen verschmitzt. Der Weg durch die Eingangstür führt schnurgrade auf den hölzernen, abgegriffenen Tresen einer Hotelrezeption zu − die Rezeption des Hotel Oloffson.
"Oui, des touristes, des hommes d'affaires aussi, oui, des ONG."
Hinter dem Tresen steht eine junge Farbige. Das Hotel ist gut belegt, sagt sie. Touristen, Geschäftsleute und Vertreter von Hilfsorganisationen sind da. Dann deutet sie nur noch schräg nach rechts, von wo die Musik kommt − Richtung Hotelbar:
"Rum-Punch, Rum-Punch − c'est la specialité de l'hôtel."
Leicht morbider Charme
Den Rum-Punch mixt Marie-Eve, die hinter der wuchtigen Bar aus Mahagoniholz steht. Die Spiegel hinter dem Tresen sind längst matt geworden, das ganze Interieur hat einen leicht morbiden Charme. Auf einem der abgewetzten Barhocker sitzt Michelle Lacozy und nippt an ihrem Glas. Sie ist in San Francisco zuhause, trägt ein helles, sommerliches Kleid. Seit dem schweren Erdbeben vor zwei Jahren arbeitet sie im Auftrag einer amerikanischen Hilfsorganisation auf Haiti. Nach Feierabend sitzt sie oft hier, in der Bar im Oloffson:
"Die Atmosphäre hier ist fantastisch. Vor allem ist es ein wundervoller Ort, um die unterschiedlichsten Menschen zu treffen. Ich habe hier Leute von der Presse getroffen, Politiker; Leute, die wichtige Dokumente ausstellen − ja wirklich, alle nur denkbaren Typen. Wenn man hier herkommt, weiß man nie, wen man als Nächstes trifft."
Ein wenig verzückt blickt Michelle Lacozy nach oben, auf die vergilbten Schwarz-Weiß-Fotos an den Wänden, die Einblicke geben in die traurige, bewegte Geschichte Haitis. Dann schaut sie auf die Menschen um sie herum:
"Dieses Hotel hier ist ein Stück vom alten, traditionellen Haiti. Das ist nicht Amerika. Das hat hier wenig mit Luxus zu tun. In den Zimmern haben sie hier nicht einmal Fernseher. Aber ich will hier ja gar nicht fernsehen. Ich will mit Leuten in Kontakt kommen, mit ihnen sprechen. Und wenn Sie mit Leuten sprechen wollen, dann ist das hier genau der richtige Ort, wo man das tun kann."
Durch die Palmen auf der Veranda sieht man den Präsidentenpalast, wie ein erlegtes Tier liegt er da. Und drumherum liegen zwei Jahre nach dem Beben noch immer ganze Straßenzüge in Trümmern, Tausende leben in Zeltstädten. Und hier, mitten in der kaputtesten Stadt der Welt, dann plötzlich diese Bar, an der Michelle und jetzt auch Rick aus Florida ihren Rum-Punch schlürfen.
Rick erklärt, wie das zusammen geht:
"Direkt nach dem Erdbeben habe ich in den Elendsvierteln gelebt, wo man die Erdbebenopfer untergebracht hat. Ich habe bei Amputationen mitgeholfen. Ich habe die Armut miterlebt. Alles war traurig. Dann dieser Geruch in der Luft, der Geruch des Todes. Manchmal, da bist du einfach zu müde, so erschöpft, dann musst du dich einfach hinlegen und schlafen. Und, ganz ehrlich: Da ist das Oloffson eine gute Möglichkeit für mich, von all dem Schlimmen da draußen einfach mal Abstand zu gewinnen."
"Juis d'orange ..."
Während Barkeeperin Marie-Eve erklärt, wie sie mit Rum, Grenadinensirup, Orangensirup und etlichen anderen Zutaten den nächsten Rum-Punch mixt, betritt ein groß gewachsener Mann die Bar: Franz Large. Er gehört zur dünnen Oberschicht, zum Bildungsbürgertum Haitis. Deshalb kennt er auch die Geschichte des Hotels Oloffson ganz genau. Die beginnt Anfang des 20. Jahrhunderts:
"Es war das Haus von zwei haitianischen Präsidenten, Domesthenes Sam und seinem Bruder. Und wenn heute jemand hier kommt, dann fühlt er das Besondere. Es ist really, wirklich etwas besonders ... unique."
Allerdings wurden die Sams schnell wieder aus dem Amt gefegt, einer von ihnen sogar vom aufgebrachten Mob erschlagen. Die Amerikaner schickten die Marines nach Haiti; das Oloffson wurde erst zum amerikanischen Militärhospital, dann später zum Hotel. Benannt ist es nach dem ersten Pächter, dem deutsch-schwedischen Kapitän Werner Gustav Oloffson.
Ein späterer Pächter machte sich einen Spaß daraus, mit seinem Gewehr auf Krokodile zu schießen, die er sich im Pool des Hotels hielt.
Viele Berühmtheiten im Oloffson
Large kann erzählen und die Geschichte des Hotels hört sich ja auch an wie im Film. Vielleicht schmückt er deshalb die Zeit Mitte der 50er-Jahre besonders aus. Damals stiegen besonders viele Berühmtheiten im Oloffson ab, allen voran der englische Schriftsteller Graham Greene.
Large hat dessen Buch "Die Stunde der Komödianten" gelesen und ist sich sicher: Die Vorlage für Greenes fiktives Hotel Trianon ist das Oloffson:
"Die Graham-Greene-Suite ist da... So, it has an atmosphere ..."
Diese schätzt auch Ben, ein stämmiger Däne im beigefarbenen Anzug, der etwas abseits an der Bar lehnt, eine Zigarre raucht und zwangsläufig mithört. Ben ist Reporter des dänischen Rundfunks, spricht mal englisch, mal deutsch, mal französisch.
Vor zwei Jahren hat er aus Port-au-Prince über das schwere Erdbeben berichtet und kommt seitdem immer wieder. Seine Beiträge tippt er draußen auf der Terrasse des Oloffson in seinen Labtop. Und das nicht nur, weil im Oloffson wie durch ein Wunder die Internetverbindung niemals abriss.
"Du kriegst Nachrichten hier. Die Legenden waren hier, die großen Journalisten waren hier. Alles passiert hier: Die Korrespondenten kommen hierher. Alles passiert hier in diesem Hotel."
"Hotels mit Geschichte" präsentieren wir in unserer Sommerreihe in "Studio 9". Hotels erzählen Geschichte und Geschichten, sind Erinnerungsorte und vermitteln Einblicke in den Alltag fremder Kulturen. Hotels regen nicht nur die Fantasie an, beispielsweise von Schriftstellern. Sie erzählen auch von großen Krisen, von Kriegen oder Konferenzen, in denen sich die Weltgeschichte spiegelte.