Howard Jacobson: J
Aus dem Englischen von Friedhelm Rathjen
DVA (Deutsche Verlagsanstalt) 2015
410 Seiten, 22,90 Euro
Ein Pärchen im Paranoia-Staat
Ailinn faltet Papierblumen und verknallt sich in Kervern, der Liebesflöten baut. Klingt bezaubernd, ist aber trügerisch. In dem Roman "J" von Howard Jacobson offenbart sich hinter der kitschigen Fassade ein perfider Überwachungsstaat.
Ailinn und Kevern verlieben sich und leben ein hinreißendes, wenn auch fragiles Glück. Zum ersten Mal fühlen sich der Drechsler von Liebesflöten und die schöne Papierblumenherstellerin ein wenig aufgehoben in der Welt.
Allerdings wird Kevern das Gefühl nicht los, mit Ailinn aus unguten Absichten verkuppelt worden zu sein. Und er hat allen Grund, der Welt zu misstrauen, denn die beiden leben in einer unheimlichen Gesellschaft voller Kitsch und angeblicher Freundlichkeit, hinter der sich bald ein perfider Überwachungsstaat offenbart. Ähnlich wie in Orwells Roman 1984 wird hier nicht nur das Denken und Fühlen, sondern es wird auch die Erinnerung strikten Kontrollen unterworfen.
Die eigene Herkunft darf man so wenig kennen wie die Vergangenheit insgesamt, man kann nur noch ein primitives Servicetelefon für Ortsgespräche besitzen. Das Fernsehen sendet Programmschleifen. Alle anderen elektronischen Mittel waren eingestellt worden nach dem ominösen Ereignis, das nur mit: "Was geschehen war, falls es geschehen war" umschrieben wird. Man vermutet, dass sich die Gewalt auch dank der sozialen Medien so schnell und vernichtend ausgebreitet hatte.
Rätselhaft und unmissverständlich zugleich
Ailinn und Kevern fühlen sich seit je verfolgt. Und wissen nicht, woher die Furcht in ihnen rührt. Sie hat ein Flatterherz, er einen Tick. Jedes Mal, wenn er sein Cottage am Meer verlässt, muss er seine Tür mehrfach verriegeln und durchs Schlüsselloch linsen, ob auch alles so aussieht, als sei er daheim.
Manchmal merken die beiden, dass ihre Liebe von außen befördert wird. Nur, was steckt dahinter? Was für eine Vergangenheit spielt hinein in ihre unbedeutende Gegenwart?
Es ist ein so rätselhaftes wie unmissverständliches Buch, das der englische Booker Preisträger Howard Jacobson geschrieben hat. J heisst es, mit zwei QuerStrichen durch den Längsstrich. Keverns Vater hat sich immer zwei Finger über den Mund gelegt, wenn er ein "J"-Wort sprechen musste, hat den Buchstaben zermümmelt.
Die Rede ist offenbar von Post-Holocaust-Zeiten. Zumindest gab es einmal ein menschenauslöschendes Ereignis, in dessen Folge die überlebende Rasse einer Gewaltherrschaft des Gutgemeinten unterworfen wird. Es lauert der Ausbruch eines neuen Grauens.
Geheimagenten und Menschenausspäher
Der Staat braucht viele Geheimagenten und Menschenausspäher, um die Erinnerung an "Was geschehen war, falls es geschehen war" auszulöschen. Und ausgerechnet Esme, angeblich Ailinns mütterliche Freundin, erweist sich als teuflische Agentin des Systems. Da die Streitsucht im Land zugenommen hat, ist Esme auf die Idee gekommen, ein Gleichgewicht des Hasses herzustellen. Und dafür lässt sie nach Abkömmlingen von Überlebenden des einstigen Massakers fahnden, die sie zu einem neuen Volk heranzüchten will, damit der Hass ein Objekt und Ventil bekommt und die eigene Bevölkerung reinigt.
Und so hat Esme sich Ailinn ausgesucht, die als Nachfahrin der ausgerotteten Rasse nun als Urmutter der neuen Hassobjekte installiert werden soll.
J ist ein abgründig fantastisches Buch -aber nah genug an der Wirklichkeit, das man es nicht ohne seelentiefen Schrecken liest. Ein intellektuelles Lesevergnügen und harte Kost zugleich. Weil der Menschenfreund Jacobson einen entsetzten Roman über den Menschen geschrieben hat, in dem allein die Liebe in kleinen Momenten triumphieren kann über die große Resignation.