Huber: Evangelische Kirche braucht einen Mentalitätswandel
Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, hat einen Mentalitätswandel im Erneuerungsprozess seiner Kirche gefordert. Gemeinden, Landeskirchen und die gesamte Gemeinschaft des Protestantismus müssten "eine Zuwendung zu den Menschen, eine Öffnung der Fenster" in Gang setzen, sagte Huber.
Deutschlandradio Kultur: Bischof Huber, Sie haben vor wenigen Tagen in Leipzig folgenden Satz gesagt: "Wenn die Christen früher so innovationsfeindlich gewesen wären wie wir heute, hätte es die Musik Johann Sebastian Bachs gar nicht gegeben." Wo sind sie denn die Defizite?
Bischof Huber: Also, das war eine Bemerkung zum Thema Musik. Da ging es um die Frage, welche Musikrichtungen in Kirchen heute erlaubt seien und welche nicht. Dazu habe ich diesen Satz gesagt. Ich habe schon gemerkt, der Satz wird aus dem Zusammenhang herausgeholt und als eine generelle Aussage über die Innovationsfeindlichkeit unserer Kirche ausgewertet. So ist das natürlich falsch. Ein solches Pauschalurteil wäre weder angebracht, noch käme es mir über die Lippen, denn wir sind ja in Bewegung. Aber gleichzeitig merken wir, der entscheidende Punkt im Erneuerungsprozess unserer Kirche ist der notwendige Mentalitätswandel. Es reicht nicht, an der einen oder an der anderen Stelle organisatorisch-strukturell etwas zu verändern. Wenn wir wirklich eine Kirche bei den Menschen sein wollen, wenn die missionarische Situation, in der wir auch in Deutschland Kirche sind, ernst nehmen wollen, dann muss von den Gemeinden an über die Landeskirchen bis zur Gemeinschaft des Protestantismus eine Zuwendung zu den Menschen, eine Öffnung der Fenster sozusagen stattfinden. Erst dann werden wir auch die Fähigkeit entwickeln, Menschen auf die Fragen zu antworten, die sie heute wirklich haben.
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir bei den Strukturveränderungen. In Deutschland gibt es heute zwischen 3,5 Millionen und fünf Millionen evangelisch Getaufte, die nicht mehr der Kirche angehören. Und die Zahl der kirchlichen Trauungen hat sich in den letzten zehn Jahren halbiert. Leiten Sie demnächst unter Umständen als Bischof eine kleine radikale Minderheit?
Bischof Huber: Man muss doch den Rechnungen, die Sie jetzt aufgemacht haben, auch Gegenrechnungen gegenüberstellen. Die heißen zum Beispiel: Die Evangelische Kirche hat in den letzten fünf Jahren im Vertrauen der Menschen, der Kirchenmitglieder wie der anderen, deutlich zugenommen. Wir haben den Rückgang der kirchlichen Trauungen gehabt, aber wir haben von 2004 auf 2005 eine Zunahme der kirchlichen Trauungen um zehn Prozent. Das heißt, wir merken, dass der Rückgang in kirchlichen Beteiligungsformen keine Einbahnstraße ist. Wir erleben nicht einen unumkehrbaren Prozess der Entkirchlichung oder des Verfalls von kirchlicher Beteiligung. Wir erleben Bereiche, in denen sich das umkehrt und die Teilnahme am Leben der Kirche wieder zunimmt. Und es ist nach meiner Meinung ein kluger Rat, wenn ich allen rate auf diese Seite zu schauen und dabei noch stärker darauf zu achten, wie man solche Stärken stärken und weiterentwickeln kann.
Deutschlandradio Kultur: Würden Sie sagen, dass das schon eine richtige Trendwende ist?
Bischof Huber: Trendwende ist so ein riesengroßes Wort. Bei Trendwende denkt man an eine Kehre um 180°.
Deutschlandradio Kultur: … aber die Richtung hat sich geändert.
Bischof Huber: Dass die Richtung sich geändert hat und dass wir von daher eine große Chance als Kirche haben, das ist ganz deutlich zu spüren. Wir wissen, dass wir in den drei Jahrzehnten zwischen 1970 und 2000 in der westdeutschen Gesellschaft eine erhebliche Abwendung von der Kirche und ein wachsendes Desinteresse an ihr erlebt haben. Das ist 1990 mit der besonderen Form von Entkirchlichung, die wir in der DDR gehabt haben, zusammengetroffen. Und wir spüren – und das ist ein gesicherter Trend seit der Jahrtausendwende – eine neue Zuwendung zu Fragen des Glaubens, zu Fragen der Religion, eine neue Beschäftigung der Menschen mit Sinnfragen. Das kommt nicht automatisch der Kirche zugute, aber wir spüren ganz deutlich auch höhere Erwartungen an die Kirche.
Deutschlandradio Kultur: In Ihrem Impulspapier haben Sie einen Begriff verwendet, der aufhorchen lässt, Sie sprechen von einem "kirchlichen Marktverlust im Kerngeschäft". Ist die Kirche denn, wenn man das ganz nüchtern betrachtet, ein Unternehmen, vergleichbar mit dem VW-Konzern oder mit der Bahn-AG?
Bischof Huber: Gerade nicht. Das Wort Unternehmen kommt bei uns auch überhaupt nicht vor. Aber dass die Kirche nicht die Aufgabe hat, Güter oder Dienstleistungen bereitzustellen, für die sie sich bezahlen lässt, sondern dass die Kirche die Aufgabe hat, sich um das Heil der Menschen zu sorgen, und ihnen deshalb nahe zu sein, weil es um ihr Heil geht, das muss ja nicht dahin führen, dass sie in handwerklichen Fragen schlechter ist als andere, dass sie unaufmerksamer mit den Menschen umgeht, als andere mit den Menschen umgehen. Deswegen heißt der Grundsatz, die Eigenständigkeit des kirchlichen Auftrags hoch – und ich sage mit Bedacht – hoch und heilig halten, die Unverwechselbarkeit der Kirche gegenüber jedem Unternehmen deutlich herausstreichen, aber in der Frage der Qualität kirchlichen Handelns sich nicht etwas in die Tasche lügen, indem man sagt, die Qualität kirchlichen Handelns ist ja gar nicht messbar, deswegen brauchen wir an dieser Qualität auch nicht zu arbeiten. Nein, wir müssen an der verlässlichen Qualität kirchlichen Handelns, kirchlicher Angebote, kirchlicher Vollzüge arbeiten. Das ist für die kirchlich Mitarbeitenden ein großer Mentalitätswandel, den wir jetzt brauchen.
Deutschlandradio Kultur: Noch mal nachgefragt: Was ist denn aber konkret die kirchliche Kernkompetenz? Herrscht darüber unter den Beteiligten Einigkeit?
Bischof Huber: Die kirchliche Kernkompetenz ist die Verkündigung des Evangeliums von Gottes freier Gnade, so dass sie die Menschen erreicht. Die kirchliche Kernkompetenz ist in der Barmer theologischen Erklärung 1934 in einer für unsere Kirche ganz maßgeblichen Weise ausdrücklich formuliert worden. Es sei der Auftrag der Kirche, die Botschaft von Gottes freier Gnade auszurichten an alles Volk – und jetzt übersetzen Sie Volk: an alle Menschen, so dass niemand außerhalb des Bereichs dieser Verkündigung und dieser Botschaft ist. Und wenn wir dann feststellen, dass bei bestimmten Dingen, die wir für Grundvollzüge kirchlichen Handelns gerade in der Verkündigung des Evangeliums halten, dass wir da Einbrüche erleben, dass wir nicht mehr sicher sind, dass jeder evangelisch getaufte Mensch, der bis zu seinem Tod Mitglied der evangelischen Kirche war, auch evangelisch bestattet wird, das darf doch eine Kirche nicht ruhen lassen, wenn man so etwas feststellt. Deswegen sage ich auch: Ganz gewiss ist das Evangelium nicht quantifizierbar. Aber es gibt sogar bestimmte kirchliche Handlungsvollzüge, wo man auch in Quantitäten angeben kann, warum sich was verändern kann. Dann ärgert sich jemand, weil wir dann das Wort Taufquote verwenden, aber das inhaltliche Ziel, dass Kinder evangelischer Eltern auch getauft werden sollen, und wenn die Taufe aufgeschoben wird, es dann jedenfalls auf Seiten der Eltern eine Begleitung zur Taufe und nicht eine Gleichgültigkeit ihr gegenüber ist, das muss doch jeden Pfarrer und jede Pfarrerin innerlich packen, dass er oder sie im Bereich der eigenen Gemeinde auch einen Beitrag dazu leistet, dass das erreicht wird und dass die potentielle Taufbereitschaft, die wir ja auch haben in unserer Kirche, dass die in größerem Maß umgesetzt wird, als das bisher der Fall ist.
Deutschlandradio Kultur: Was heißt das denn für die konkrete Arbeit in nächster Zukunft? Mehr Bibelarbeit beispielsweise, mehr an dem Glauben arbeiten oder stärkeres soziales Engagement?
Bischof Huber: Die Kirche als Ganze bleibt, gerade weil sie glaubt, sozial engagiert. Aber die Frage heißt: Wer macht was? Und Pfarrerinnen und Pfarrer müssen sich weit stärker darauf konzentrieren, dass die Botschaft des Evangeliums die Menschen erreicht, dass die Bildungsprozesse in Gang kommen, durch die junge Leute das nötige Glaubenswissen erwerben, dass missionarische Initiativen in ihren Gemeinden tatsächlich zustande kommen, in denen Glaube auch geweckt wird, was die Voraussetzung dafür ist, dass das Glaubenswissen dann auch eine notwendige Basis hat. Sie müssen viel mehr Aufmerksamkeit darauf verwenden, dass Menschen heute in höherem Maße als früher in anlassbezogene Gottesdienste gehen und deswegen auch das gottesdienstliche Angebot zu besonderen Gelegenheiten verstärken, weil das ein ganz wichtiger Bezugspunkt für das Beteiligungsverhalten von Menschen heute in unserer mobilen Gesellschaft ist. Diese Konzentration möchte ich gerne haben. Und das wird dann Christen im Alltag ihres Lebens dazu befähigen, sich deutlicher aus ihrem Glauben heraus sozial zu engagieren. Und da brauchen nicht wir Pfarrerinnen und Pfarrer zu denken, dass wir alle machen müssten. Christen stehen auch ihren Mann und ihre Frau im Alltag ihres Lebens.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt aber auch rückblickend, dass möglicherweise in den vergangenen Jahren oder Jahrzehnten irgendwas nicht in die richtige Richtung gelaufen ist.
Bischof Huber: Wir haben hier eine ganz außerordentliche Chance gehabt als Kirche, die historisch, soweit wir das überschauen, auch nicht so schnell wiederkommen wird. Wir haben – und zwar sowohl im Westen als auch im Osten Deutschlands – den Umfang beruflich getragener kirchlicher Arbeit, sagen wir es mal grob und vereinfacht, innerhalb weniger Jahrzehnte verdoppeln bis verdreifachen können. Das hat ungeheure Chancen in sich geborgen. Wir sind in gesellschaftliche Bereiche hineingekommen, die uns vorher verschlossen waren. Wir konnten in vielen Bildungsbereichen – von den Kindertagesstätten bis zur Seniorenarbeit – Dinge machen, die wir so vorher noch nie machen konnten. Aber ein bisschen nüchtern betrachtet müssen wir zugleich zweierlei feststellen. Das eine ist, die Bindungskraft des Evangeliums haben wir dabei nicht durchgängig verstärkt. Und zweitens, an vielen Stellen, an denen Dinge noch glaubwürdiger von Ehrenamtlichen gemacht werden können, haben wir diese ehrenamtliche Arbeit ein stückweit auch durch berufliche Arbeit ersetzt. Und an beiden Stellen brauchen wir jetzt eine Veränderung. Wir müssen uns auch deutlicher selber klar machen, es geht um die Bindungskraft des Evangeliums. Es geht darum, dass Menschen zum Glauben finden. Es reicht nicht zu sagen, Leute haben sich an diesem oder jenem beteiligt, wie es mit ihrem Glauben steht, haben wir sie gar nicht gefragt. Das interessiert uns auch nicht. Nein, es muss uns interessieren. Und das andere: Wir müssen wieder verstärkt auf eines der guten und wichtigen Merkmale von evangelischer Kirche setzen, nämlich dass es eine Kirche des Priestertums aller Glaubenden ist, dass sie auf die Kompetenz von Menschen setzt, die als Christen im Alltag ihres Lebens verschiedenen Berufen oder Aufgaben nachgehen und ein stückweit sich in ihrer Kirche einbringen. Und die berufliche Mitarbeit muss ganz stark daran ausgerichtet sein, solche ehrenamtliche Arbeit zu fördern, zu motivieren, Menschen zu qualifizieren und zu begleiten und das, was sich dann entwickelt, in einer guten Weise zu koordinieren.
Deutschlandradio Kultur: Herr Ratsvorsitzender, in Ihrer Studie heißt es: "Auch die innerkirchlichen Strukturen müssen überprüft werden." Sie machen den Vorschlag und sagen ganze Landeskirchen müssen zusammengelegt werden. Welche schweben Ihnen denn da vor?
Bischof Huber: Zunächst mal bin ich Ihnen ganz dankbar dafür, dass Sie die Frage erst jetzt stellen, weil unser Gespräch auf diese Weise ganz klar zeigt, die inhaltliche Konzentration, die geistliche Profilierung hat für uns den Vorrang vor organisatorischen Fragen. Niemand anders als die Landeskirchen selber können solche Fusionsprozesse in die Hand nehmen und zu einem guten Ergebnis führen. Wir rechnen damit, dass im Jahr 2030 nicht mehr 23 Landeskirchen existieren werden, sondern acht bis zwölf. Wir haben keinen Vorschlag gemacht, welche Landeskirche mit welcher Landeskirche zusammengehen soll. Vor kurzer Zeit waren wir noch 24 Landeskirchen. Jetzt sind wir 23. Wir haben zwei Verhandlungsvorgänge im Augenblick, wo Landeskirchen zusammengehen. Das sind Thüringen und die Kirchenprovinz Sachsen einerseits und Mecklenburg und Pommern andererseits. Nehmen Sie mal an, das führt zum Erfolg, dann haben wir eine weitere Reduzierung in relativ kurzer Zeit. Und wenn Sie das hochrechnen auf die nächsten 25 Jahre, dann werden Sie zu dem Ergebnis kommen, dass die Prognose nicht so falsch ist. Aber Sie kriegen von mir keinen Namen außerhalb der Beschreibung dessen, was gegenwärtig im Gang ist.
Deutschlandradio Kultur: Wenn keinen Namen, dann vielleicht aber doch eine Zustandsbeschreibung, denn die Kirchen, die Sie erwähnt haben, sind sozusagen die Kirchen der kleinen Habenichtse, auch noch in den neuen Bundesländern angesiedelt.
Bischof Huber: Unterschätzen Sie nicht, dass es in der Kirche um geistliche Werte geht. Die können auch in Kirchen mit weniger Geld vorhanden sein.
Deutschlandradio Kultur: Sicherlich, auf jeden Fall, aber in den anderen Bundesländern, in den alten Bundesländern ist nach unserer Ansicht die Reformbereitschaft, die Zusammengehbereitschaft sehr viel schwächer entwickelt als in den genannten.
Bischof Huber: Dann ist es doch ein gutes Zeichen, dass aus dem Zwang der Not und vor allem aus der Betrachtung der ungleichen demographischen Entwicklung zwischen Ost und West in den östlichen Gliedkirchen beherzter Konsequenzen gezogen werden. Die relativ hohe Stabilität der Kirchenmitgliederzahlen in manchen westdeutschen Landeskirchen erklärt sich zu einem erheblichen Anteil auch daraus, dass seit 1989 insbesondere Menschen aus den östlichen Gliedkirchen der EKD in den Westen gewandert sind. Und dabei wissen wir, dass der Anteil der Christen an dieser Wanderungsbewegung überproportional groß ist. Es geht um eine aufgabenorientierte Diskussion und nicht um Fragen der Machtverteilung.
Deutschlandradio Kultur: Ich möchte gerne auf einen inhaltlichen Schwerpunkt der Kirche zu sprechen kommen. Den gibt es seit Jahren und der wird in Zukunft auch da sein: die Kernkompetenz im Bereich Bildung und Familie. "Im Jahr 2030 ist Bildungsarbeit eines der wichtigsten Arbeitsfelder der evangelischen Kirche", heißt es in dem Impulspapier. Wo wollen Sie den Schwerpunkt, wo wollen Sie den Hebel ansetzen?
Bischof Huber: In allen Bildungsfragen gilt grundsätzlich, dass man den Hebel gar nicht früh genug ansetzen kann. Deswegen ist die Tatsache, dass die Hälfte der Kindertageseinrichtungen, die es in Deutschland gibt, in kirchlicher Trägerschaft sind, in katholischer oder in evangelischer, ein ungeheurer Pluspunkt für die anstehenden Überlegungen. Da haben wir schon eine Basis, die wir nutzen, an manchen Stellen auch ausbauen müssen. Ausbauen meine ich dabei gar nicht nur quantitativ, nicht in erster Linie, sondern qualitativ. Das heißt, dass religionspädagogische Profil dieser Einrichtungen stärken, die Entwicklung von Kindertageseinrichtungen zu Familienhäusern, Mehrgenerationeneinrichtungen stärken, weil das Miteinander der Generationen ohnehin eine besondere Stärke unserer Kirche ist und auch die Tatsache, dass von den Kindern her Eltern in einen Bildungsprozess reingezogen werden, unglaublich wichtig ist. Es ist eine sensationelle Geschichte, was sich im Bereich der evangelischen Schulen in den letzten Jahren abgespielt hat. Die Schulgründungsinitiativen, die Art, in der Eltern sich daran beteiligt haben, die pädagogischen Innovationen, die da zustande kommen, die werden dahin führen, dass wir im Blick auf das evangelische Schulwesen im Jahr 2030 in einer ganz anderen – und da sage ich ganz zuversichtlich – sehr erfreulichen Situation sein werden.
Deutschlandradio Kultur: Andererseits wird beispielsweise Religionsunterricht in Berlins Schulen nicht mehr angeboten, sondern Ethikunterricht ist verpflichtend. Das müsste Sie dann richtig schmerzen.
Bischof Huber: Ich bin ganz sicher, dass es im Jahr 2030 in Berlin Religionsunterricht als ordentliches Unterrichtsfach an den Schulen geben wird. Ich hätte das gerne sehr viel früher, wie Sie wissen. Ich habe in den letzten zwölf Jahren beharrlich darum gekämpft. Ich habe das bisher nicht erreicht, aber ich habe nicht den Eindruck gewonnen, dass das deswegen nicht erreicht wurde, weil auf der anderen Seite wirklich die starken Argumente wären, sondern weil wir da eine Nachwirkung derjenigen Situation erleben, die zwischen 1970 und 2000 geherrscht hat, in einer Stadt wie Berlin noch mal überproportional, und die sich politisch jetzt immer noch auswirkt, obwohl man eigentlich auch in Berlin spüren kann, dass der Wind in einer ganz anderen Richtung weht.
Deutschlandradio Kultur: Im Frühjahr hat die Bundesfamilienministerin von der Leyen gemeinsam mit der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland das "Bündnis für Erziehung" ins Leben gerufen. Aber die Kirchen repräsentieren ja nur noch Teile der Gesellschaft. Also, ein beträchtlicher Teil der Deutschen gehört nicht der christlichen oder gar keiner Religionsgemeinschaft an. Wie soll dieses Bündnis für Erziehung funktionieren? Wollen Sie die – spitz gefragt – alle missionieren?
Bischof Huber: Das wäre ja bestimmt nicht die Aufgabe des Staates dafür zu sorgen, dass wir alle missionieren. Insofern – so wichtig mir das Thema Mission ist, an dieser Stelle wäre das Stichwort fehl am Platz. Der Ausgangspunkt des Bündnisses für Erziehung ist ja gewesen, dass das Erziehungsthema vor allem im Blick auf Kinder im Primarbereich, also null bis sechs Jahre, thematisiert werden sollte. Für diesen Bereich gilt, dass die Kirchen, die beiden größten Träger von Einrichtungen für diesen Bereich sind. Wenn man weiter überlegt hätte, hätte man als erstes die Kommunen noch dazu holen müssen, die ein großer Träger in diesem Bereich sind, während der Hinweis – bei allem großen Respekt – auf die jüdische Gemeinschaft oder muslimische Organisationen in diesem thematischen Zusammenhang nicht so richtig zielführend war, wie man das heute nennt. Denn sie sind als Trägereinrichtungen in diesem Bereich gar nicht vertreten. Trotzdem haben wir uns dafür eingesetzt, so schnell wie nur irgend möglich von einem Ausgangspunkt aus, dass wir zunächst einmal an einem Strategiepapier für diesen Bereich gearbeitet und Eckpunkte formuliert haben, möglichst schnell die Basis zu verbreitern. Verantwortung für Erziehung tragen alle. Und selbstverständlich ist dabei auch der Dialog mit anderen Religionsgemeinschaften, insbesondere auch mit muslimischen Organisationen, sinnvoll und angezeigt, so schwierig er auch im konkreten Fall immer durchzuführen ist.
Deutschlandradio Kultur: Nun mal konkret nachgefragt: Vor allen Dingen in Großstädten ist der Migrantenanteil von Kindern in Kindergärten hoch und er wird höher werden. Wie wollen Sie da christliche Werte einbringen? Ist das überhaupt vorstellbar?
Bischof Huber: Wenn Kinder mit Migrationshintergrund in evangelischen Kindergärten angemeldet werden, dann wird ihnen ganz klar gesagt: Wir freuen uns, dass ihr kommt, aber ihr kommt in eine christlich geprägte Einrichtung, in der das Kirchenjahr das Zusammenleben prägt, in der christliche Werte vermittelt, biblische Geschichten erzählt werden, in der wir auf ein achtsames Umgehen miteinander Wert legen. Das heißt auch, ihr könnt euch drauf verlassen, dass mit euren Kindern achtsam und auch mit Respekt für die in ihnen wachsenden religiösen Überzeugungen umgegangen wird. Aber man muss auch sagen, es gibt Situationen, in denen wir dabei auf Grenzen stoßen. Wenn in manchen Teilen Berlins es evangelische Kindertageseinrichtungen gibt, in denen 80 Prozent der Kinder aus einem ganz anderen als einem christlichen Hintergrund kommen, dann ist die Aufgabe der Erzieherinnen und Erzieher schon ganz schön schwer. Deswegen bin ich dafür, auch nüchtern zu fragen, was man eigentlich verkraften kann und welche Zusammensetzung der Gruppen noch vereinbar ist mit der christlichen Aufgabenstellung dieser Einrichtungen.
Deutschlandradio Kultur: Es gibt gerade bei den muslimischen Menschen im Lande und weltweit größte Reizbarkeiten und Sensibilitäten. Im Augenblick steht der Papst ja bei vielen Muslimen im Verdacht ein diskriminierender Theologe zu sein, wenn er kritische Stimmen zu Mohamed zitiert und eine Erklärung des Gewaltbegriffs und des Vernunftbegriffs anmahnt. Muss sich nach Ihrer Ansicht der Papst eigentlich für seine Bemerkungen in Regensburg entschuldigen?
Bischof Huber: Papst Benedikt XVI. hat gesagt und deutlich gemacht, dass er betroffen und betrübt ist über die Auswirkungen seiner Vorlesung, die vielleicht stärker unter akademischen Gesichtspunkten konzipiert war als unter dem Gesichtspunkt ihrer medialen und politischen Wirkungen. Aber ich sage ausdrücklich dazu: Auch wer Gründe sieht, sich mit diesem Text kritisch auseinander zu setzen, muss sagen, dass die Reaktion unverhältnismäßig gewesen ist. Ich habe immer große Zweifel, wenn man für religiöse Überzeugungen die Mechanismen der Erregungskultur benutzt und in Anspruch nimmt. Das ist hier genauso geschehen, wie es ein halbes Jahr vorher aus Anlass des Karikaturenstreits geschehen ist. Bei jeder Diskussion über dieses Thema muss man, finde ich, ausdrücklich klar machen, dass man diese Instrumentalisierung nicht gut heißen kann. Es ist selbstverständlich, der Papst hat da nicht ex cathedra gesprochen. Insofern ist sein Text auch für Katholiken kritisierbar, für alle anderen ohnehin. Mit allem schuldigen Respekt kann man das tun. Aber man kann es erst dann tun, wenn es zunächst mal herausgenommen worden ist aus diesem Zusammenhang, in dem es in Wahrheit darum ging, einen Anlass zum Instrument massenhaft erzeugter Erregung zu machen. Ich missbillige das ganz außerordentlich. Das muss ich doch sagen. Ich glaube nicht, dass das dem Dialog der Religionen und der Kulturen dient. Da gibt es mehrere, die etwas zu bedauern haben, nicht allein Papst Benedikt XVI.
Deutschlandradio Kultur: Man hat aber den Eindruck, als ob sich Christen manchmal schwer tun mit Muslimen im Gespräch. Das mag viele Gründe haben, aber mit den Christen untereinander klappt der Dialog manchmal auch nicht so richtig schön. So begrüßte beispielsweise Papst Benedikt bei seiner Reise durch Bayern die Mitglieder der evangelischen Kirche als "Repräsentanten einer anderen christlichen Tradition". Das Trennende scheint irgendwie weitaus größer zu sein als das Gemeinsam. Oder haben wir das etwas falsch verstanden?
Bischof Huber: Wer die katholische Lehrtradition kennt, wird nicht damit gerechnet haben, dass er die Reise nach Bayern benutzt, um in aller Form die Kirchen der Reformation als Kirchen anzuerkennen. Unsere Kirche hängt vielmehr von der Anerkennung Jesu Christi ab und wir verstehen uns als evangelische Kirche als eine Kirche, die die Rechtfertigung des Sünders nicht nur anderen gegenüber verkündigt, sondern selber auch braucht. Der einzige Punkt, um den es mir geht im Zusammenhang dieser Diskussion, ist, dass niemand sich Fortschritte in der Ökumene erhoffen soll am Respekt für das Kirchesein des ökumenischen Partners vorbei. Das habe ich Papst Benedikt XVI. auch selber gesagt bei der Begegnung in Köln. Daran halte ich auch fest. Wir brauchen – gerade wenn wir in einer überzeugenden Weise näher zusammenrücken wollen, gerade wenn wir glaubhaft machen wollen, dass das, was uns verbindet, wichtiger, stärker, tragender ist als das, was uns trennt – auch eine Form, in der die Menschen um uns her sehen können, sie respektieren sich wechselseitig als Kirche, die Unterschiede im Amt der jeweiligen Kirche eingeschlossen.
Bischof Huber: Also, das war eine Bemerkung zum Thema Musik. Da ging es um die Frage, welche Musikrichtungen in Kirchen heute erlaubt seien und welche nicht. Dazu habe ich diesen Satz gesagt. Ich habe schon gemerkt, der Satz wird aus dem Zusammenhang herausgeholt und als eine generelle Aussage über die Innovationsfeindlichkeit unserer Kirche ausgewertet. So ist das natürlich falsch. Ein solches Pauschalurteil wäre weder angebracht, noch käme es mir über die Lippen, denn wir sind ja in Bewegung. Aber gleichzeitig merken wir, der entscheidende Punkt im Erneuerungsprozess unserer Kirche ist der notwendige Mentalitätswandel. Es reicht nicht, an der einen oder an der anderen Stelle organisatorisch-strukturell etwas zu verändern. Wenn wir wirklich eine Kirche bei den Menschen sein wollen, wenn die missionarische Situation, in der wir auch in Deutschland Kirche sind, ernst nehmen wollen, dann muss von den Gemeinden an über die Landeskirchen bis zur Gemeinschaft des Protestantismus eine Zuwendung zu den Menschen, eine Öffnung der Fenster sozusagen stattfinden. Erst dann werden wir auch die Fähigkeit entwickeln, Menschen auf die Fragen zu antworten, die sie heute wirklich haben.
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir bei den Strukturveränderungen. In Deutschland gibt es heute zwischen 3,5 Millionen und fünf Millionen evangelisch Getaufte, die nicht mehr der Kirche angehören. Und die Zahl der kirchlichen Trauungen hat sich in den letzten zehn Jahren halbiert. Leiten Sie demnächst unter Umständen als Bischof eine kleine radikale Minderheit?
Bischof Huber: Man muss doch den Rechnungen, die Sie jetzt aufgemacht haben, auch Gegenrechnungen gegenüberstellen. Die heißen zum Beispiel: Die Evangelische Kirche hat in den letzten fünf Jahren im Vertrauen der Menschen, der Kirchenmitglieder wie der anderen, deutlich zugenommen. Wir haben den Rückgang der kirchlichen Trauungen gehabt, aber wir haben von 2004 auf 2005 eine Zunahme der kirchlichen Trauungen um zehn Prozent. Das heißt, wir merken, dass der Rückgang in kirchlichen Beteiligungsformen keine Einbahnstraße ist. Wir erleben nicht einen unumkehrbaren Prozess der Entkirchlichung oder des Verfalls von kirchlicher Beteiligung. Wir erleben Bereiche, in denen sich das umkehrt und die Teilnahme am Leben der Kirche wieder zunimmt. Und es ist nach meiner Meinung ein kluger Rat, wenn ich allen rate auf diese Seite zu schauen und dabei noch stärker darauf zu achten, wie man solche Stärken stärken und weiterentwickeln kann.
Deutschlandradio Kultur: Würden Sie sagen, dass das schon eine richtige Trendwende ist?
Bischof Huber: Trendwende ist so ein riesengroßes Wort. Bei Trendwende denkt man an eine Kehre um 180°.
Deutschlandradio Kultur: … aber die Richtung hat sich geändert.
Bischof Huber: Dass die Richtung sich geändert hat und dass wir von daher eine große Chance als Kirche haben, das ist ganz deutlich zu spüren. Wir wissen, dass wir in den drei Jahrzehnten zwischen 1970 und 2000 in der westdeutschen Gesellschaft eine erhebliche Abwendung von der Kirche und ein wachsendes Desinteresse an ihr erlebt haben. Das ist 1990 mit der besonderen Form von Entkirchlichung, die wir in der DDR gehabt haben, zusammengetroffen. Und wir spüren – und das ist ein gesicherter Trend seit der Jahrtausendwende – eine neue Zuwendung zu Fragen des Glaubens, zu Fragen der Religion, eine neue Beschäftigung der Menschen mit Sinnfragen. Das kommt nicht automatisch der Kirche zugute, aber wir spüren ganz deutlich auch höhere Erwartungen an die Kirche.
Deutschlandradio Kultur: In Ihrem Impulspapier haben Sie einen Begriff verwendet, der aufhorchen lässt, Sie sprechen von einem "kirchlichen Marktverlust im Kerngeschäft". Ist die Kirche denn, wenn man das ganz nüchtern betrachtet, ein Unternehmen, vergleichbar mit dem VW-Konzern oder mit der Bahn-AG?
Bischof Huber: Gerade nicht. Das Wort Unternehmen kommt bei uns auch überhaupt nicht vor. Aber dass die Kirche nicht die Aufgabe hat, Güter oder Dienstleistungen bereitzustellen, für die sie sich bezahlen lässt, sondern dass die Kirche die Aufgabe hat, sich um das Heil der Menschen zu sorgen, und ihnen deshalb nahe zu sein, weil es um ihr Heil geht, das muss ja nicht dahin führen, dass sie in handwerklichen Fragen schlechter ist als andere, dass sie unaufmerksamer mit den Menschen umgeht, als andere mit den Menschen umgehen. Deswegen heißt der Grundsatz, die Eigenständigkeit des kirchlichen Auftrags hoch – und ich sage mit Bedacht – hoch und heilig halten, die Unverwechselbarkeit der Kirche gegenüber jedem Unternehmen deutlich herausstreichen, aber in der Frage der Qualität kirchlichen Handelns sich nicht etwas in die Tasche lügen, indem man sagt, die Qualität kirchlichen Handelns ist ja gar nicht messbar, deswegen brauchen wir an dieser Qualität auch nicht zu arbeiten. Nein, wir müssen an der verlässlichen Qualität kirchlichen Handelns, kirchlicher Angebote, kirchlicher Vollzüge arbeiten. Das ist für die kirchlich Mitarbeitenden ein großer Mentalitätswandel, den wir jetzt brauchen.
Deutschlandradio Kultur: Noch mal nachgefragt: Was ist denn aber konkret die kirchliche Kernkompetenz? Herrscht darüber unter den Beteiligten Einigkeit?
Bischof Huber: Die kirchliche Kernkompetenz ist die Verkündigung des Evangeliums von Gottes freier Gnade, so dass sie die Menschen erreicht. Die kirchliche Kernkompetenz ist in der Barmer theologischen Erklärung 1934 in einer für unsere Kirche ganz maßgeblichen Weise ausdrücklich formuliert worden. Es sei der Auftrag der Kirche, die Botschaft von Gottes freier Gnade auszurichten an alles Volk – und jetzt übersetzen Sie Volk: an alle Menschen, so dass niemand außerhalb des Bereichs dieser Verkündigung und dieser Botschaft ist. Und wenn wir dann feststellen, dass bei bestimmten Dingen, die wir für Grundvollzüge kirchlichen Handelns gerade in der Verkündigung des Evangeliums halten, dass wir da Einbrüche erleben, dass wir nicht mehr sicher sind, dass jeder evangelisch getaufte Mensch, der bis zu seinem Tod Mitglied der evangelischen Kirche war, auch evangelisch bestattet wird, das darf doch eine Kirche nicht ruhen lassen, wenn man so etwas feststellt. Deswegen sage ich auch: Ganz gewiss ist das Evangelium nicht quantifizierbar. Aber es gibt sogar bestimmte kirchliche Handlungsvollzüge, wo man auch in Quantitäten angeben kann, warum sich was verändern kann. Dann ärgert sich jemand, weil wir dann das Wort Taufquote verwenden, aber das inhaltliche Ziel, dass Kinder evangelischer Eltern auch getauft werden sollen, und wenn die Taufe aufgeschoben wird, es dann jedenfalls auf Seiten der Eltern eine Begleitung zur Taufe und nicht eine Gleichgültigkeit ihr gegenüber ist, das muss doch jeden Pfarrer und jede Pfarrerin innerlich packen, dass er oder sie im Bereich der eigenen Gemeinde auch einen Beitrag dazu leistet, dass das erreicht wird und dass die potentielle Taufbereitschaft, die wir ja auch haben in unserer Kirche, dass die in größerem Maß umgesetzt wird, als das bisher der Fall ist.
Deutschlandradio Kultur: Was heißt das denn für die konkrete Arbeit in nächster Zukunft? Mehr Bibelarbeit beispielsweise, mehr an dem Glauben arbeiten oder stärkeres soziales Engagement?
Bischof Huber: Die Kirche als Ganze bleibt, gerade weil sie glaubt, sozial engagiert. Aber die Frage heißt: Wer macht was? Und Pfarrerinnen und Pfarrer müssen sich weit stärker darauf konzentrieren, dass die Botschaft des Evangeliums die Menschen erreicht, dass die Bildungsprozesse in Gang kommen, durch die junge Leute das nötige Glaubenswissen erwerben, dass missionarische Initiativen in ihren Gemeinden tatsächlich zustande kommen, in denen Glaube auch geweckt wird, was die Voraussetzung dafür ist, dass das Glaubenswissen dann auch eine notwendige Basis hat. Sie müssen viel mehr Aufmerksamkeit darauf verwenden, dass Menschen heute in höherem Maße als früher in anlassbezogene Gottesdienste gehen und deswegen auch das gottesdienstliche Angebot zu besonderen Gelegenheiten verstärken, weil das ein ganz wichtiger Bezugspunkt für das Beteiligungsverhalten von Menschen heute in unserer mobilen Gesellschaft ist. Diese Konzentration möchte ich gerne haben. Und das wird dann Christen im Alltag ihres Lebens dazu befähigen, sich deutlicher aus ihrem Glauben heraus sozial zu engagieren. Und da brauchen nicht wir Pfarrerinnen und Pfarrer zu denken, dass wir alle machen müssten. Christen stehen auch ihren Mann und ihre Frau im Alltag ihres Lebens.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt aber auch rückblickend, dass möglicherweise in den vergangenen Jahren oder Jahrzehnten irgendwas nicht in die richtige Richtung gelaufen ist.
Bischof Huber: Wir haben hier eine ganz außerordentliche Chance gehabt als Kirche, die historisch, soweit wir das überschauen, auch nicht so schnell wiederkommen wird. Wir haben – und zwar sowohl im Westen als auch im Osten Deutschlands – den Umfang beruflich getragener kirchlicher Arbeit, sagen wir es mal grob und vereinfacht, innerhalb weniger Jahrzehnte verdoppeln bis verdreifachen können. Das hat ungeheure Chancen in sich geborgen. Wir sind in gesellschaftliche Bereiche hineingekommen, die uns vorher verschlossen waren. Wir konnten in vielen Bildungsbereichen – von den Kindertagesstätten bis zur Seniorenarbeit – Dinge machen, die wir so vorher noch nie machen konnten. Aber ein bisschen nüchtern betrachtet müssen wir zugleich zweierlei feststellen. Das eine ist, die Bindungskraft des Evangeliums haben wir dabei nicht durchgängig verstärkt. Und zweitens, an vielen Stellen, an denen Dinge noch glaubwürdiger von Ehrenamtlichen gemacht werden können, haben wir diese ehrenamtliche Arbeit ein stückweit auch durch berufliche Arbeit ersetzt. Und an beiden Stellen brauchen wir jetzt eine Veränderung. Wir müssen uns auch deutlicher selber klar machen, es geht um die Bindungskraft des Evangeliums. Es geht darum, dass Menschen zum Glauben finden. Es reicht nicht zu sagen, Leute haben sich an diesem oder jenem beteiligt, wie es mit ihrem Glauben steht, haben wir sie gar nicht gefragt. Das interessiert uns auch nicht. Nein, es muss uns interessieren. Und das andere: Wir müssen wieder verstärkt auf eines der guten und wichtigen Merkmale von evangelischer Kirche setzen, nämlich dass es eine Kirche des Priestertums aller Glaubenden ist, dass sie auf die Kompetenz von Menschen setzt, die als Christen im Alltag ihres Lebens verschiedenen Berufen oder Aufgaben nachgehen und ein stückweit sich in ihrer Kirche einbringen. Und die berufliche Mitarbeit muss ganz stark daran ausgerichtet sein, solche ehrenamtliche Arbeit zu fördern, zu motivieren, Menschen zu qualifizieren und zu begleiten und das, was sich dann entwickelt, in einer guten Weise zu koordinieren.
Deutschlandradio Kultur: Herr Ratsvorsitzender, in Ihrer Studie heißt es: "Auch die innerkirchlichen Strukturen müssen überprüft werden." Sie machen den Vorschlag und sagen ganze Landeskirchen müssen zusammengelegt werden. Welche schweben Ihnen denn da vor?
Bischof Huber: Zunächst mal bin ich Ihnen ganz dankbar dafür, dass Sie die Frage erst jetzt stellen, weil unser Gespräch auf diese Weise ganz klar zeigt, die inhaltliche Konzentration, die geistliche Profilierung hat für uns den Vorrang vor organisatorischen Fragen. Niemand anders als die Landeskirchen selber können solche Fusionsprozesse in die Hand nehmen und zu einem guten Ergebnis führen. Wir rechnen damit, dass im Jahr 2030 nicht mehr 23 Landeskirchen existieren werden, sondern acht bis zwölf. Wir haben keinen Vorschlag gemacht, welche Landeskirche mit welcher Landeskirche zusammengehen soll. Vor kurzer Zeit waren wir noch 24 Landeskirchen. Jetzt sind wir 23. Wir haben zwei Verhandlungsvorgänge im Augenblick, wo Landeskirchen zusammengehen. Das sind Thüringen und die Kirchenprovinz Sachsen einerseits und Mecklenburg und Pommern andererseits. Nehmen Sie mal an, das führt zum Erfolg, dann haben wir eine weitere Reduzierung in relativ kurzer Zeit. Und wenn Sie das hochrechnen auf die nächsten 25 Jahre, dann werden Sie zu dem Ergebnis kommen, dass die Prognose nicht so falsch ist. Aber Sie kriegen von mir keinen Namen außerhalb der Beschreibung dessen, was gegenwärtig im Gang ist.
Deutschlandradio Kultur: Wenn keinen Namen, dann vielleicht aber doch eine Zustandsbeschreibung, denn die Kirchen, die Sie erwähnt haben, sind sozusagen die Kirchen der kleinen Habenichtse, auch noch in den neuen Bundesländern angesiedelt.
Bischof Huber: Unterschätzen Sie nicht, dass es in der Kirche um geistliche Werte geht. Die können auch in Kirchen mit weniger Geld vorhanden sein.
Deutschlandradio Kultur: Sicherlich, auf jeden Fall, aber in den anderen Bundesländern, in den alten Bundesländern ist nach unserer Ansicht die Reformbereitschaft, die Zusammengehbereitschaft sehr viel schwächer entwickelt als in den genannten.
Bischof Huber: Dann ist es doch ein gutes Zeichen, dass aus dem Zwang der Not und vor allem aus der Betrachtung der ungleichen demographischen Entwicklung zwischen Ost und West in den östlichen Gliedkirchen beherzter Konsequenzen gezogen werden. Die relativ hohe Stabilität der Kirchenmitgliederzahlen in manchen westdeutschen Landeskirchen erklärt sich zu einem erheblichen Anteil auch daraus, dass seit 1989 insbesondere Menschen aus den östlichen Gliedkirchen der EKD in den Westen gewandert sind. Und dabei wissen wir, dass der Anteil der Christen an dieser Wanderungsbewegung überproportional groß ist. Es geht um eine aufgabenorientierte Diskussion und nicht um Fragen der Machtverteilung.
Deutschlandradio Kultur: Ich möchte gerne auf einen inhaltlichen Schwerpunkt der Kirche zu sprechen kommen. Den gibt es seit Jahren und der wird in Zukunft auch da sein: die Kernkompetenz im Bereich Bildung und Familie. "Im Jahr 2030 ist Bildungsarbeit eines der wichtigsten Arbeitsfelder der evangelischen Kirche", heißt es in dem Impulspapier. Wo wollen Sie den Schwerpunkt, wo wollen Sie den Hebel ansetzen?
Bischof Huber: In allen Bildungsfragen gilt grundsätzlich, dass man den Hebel gar nicht früh genug ansetzen kann. Deswegen ist die Tatsache, dass die Hälfte der Kindertageseinrichtungen, die es in Deutschland gibt, in kirchlicher Trägerschaft sind, in katholischer oder in evangelischer, ein ungeheurer Pluspunkt für die anstehenden Überlegungen. Da haben wir schon eine Basis, die wir nutzen, an manchen Stellen auch ausbauen müssen. Ausbauen meine ich dabei gar nicht nur quantitativ, nicht in erster Linie, sondern qualitativ. Das heißt, dass religionspädagogische Profil dieser Einrichtungen stärken, die Entwicklung von Kindertageseinrichtungen zu Familienhäusern, Mehrgenerationeneinrichtungen stärken, weil das Miteinander der Generationen ohnehin eine besondere Stärke unserer Kirche ist und auch die Tatsache, dass von den Kindern her Eltern in einen Bildungsprozess reingezogen werden, unglaublich wichtig ist. Es ist eine sensationelle Geschichte, was sich im Bereich der evangelischen Schulen in den letzten Jahren abgespielt hat. Die Schulgründungsinitiativen, die Art, in der Eltern sich daran beteiligt haben, die pädagogischen Innovationen, die da zustande kommen, die werden dahin führen, dass wir im Blick auf das evangelische Schulwesen im Jahr 2030 in einer ganz anderen – und da sage ich ganz zuversichtlich – sehr erfreulichen Situation sein werden.
Deutschlandradio Kultur: Andererseits wird beispielsweise Religionsunterricht in Berlins Schulen nicht mehr angeboten, sondern Ethikunterricht ist verpflichtend. Das müsste Sie dann richtig schmerzen.
Bischof Huber: Ich bin ganz sicher, dass es im Jahr 2030 in Berlin Religionsunterricht als ordentliches Unterrichtsfach an den Schulen geben wird. Ich hätte das gerne sehr viel früher, wie Sie wissen. Ich habe in den letzten zwölf Jahren beharrlich darum gekämpft. Ich habe das bisher nicht erreicht, aber ich habe nicht den Eindruck gewonnen, dass das deswegen nicht erreicht wurde, weil auf der anderen Seite wirklich die starken Argumente wären, sondern weil wir da eine Nachwirkung derjenigen Situation erleben, die zwischen 1970 und 2000 geherrscht hat, in einer Stadt wie Berlin noch mal überproportional, und die sich politisch jetzt immer noch auswirkt, obwohl man eigentlich auch in Berlin spüren kann, dass der Wind in einer ganz anderen Richtung weht.
Deutschlandradio Kultur: Im Frühjahr hat die Bundesfamilienministerin von der Leyen gemeinsam mit der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland das "Bündnis für Erziehung" ins Leben gerufen. Aber die Kirchen repräsentieren ja nur noch Teile der Gesellschaft. Also, ein beträchtlicher Teil der Deutschen gehört nicht der christlichen oder gar keiner Religionsgemeinschaft an. Wie soll dieses Bündnis für Erziehung funktionieren? Wollen Sie die – spitz gefragt – alle missionieren?
Bischof Huber: Das wäre ja bestimmt nicht die Aufgabe des Staates dafür zu sorgen, dass wir alle missionieren. Insofern – so wichtig mir das Thema Mission ist, an dieser Stelle wäre das Stichwort fehl am Platz. Der Ausgangspunkt des Bündnisses für Erziehung ist ja gewesen, dass das Erziehungsthema vor allem im Blick auf Kinder im Primarbereich, also null bis sechs Jahre, thematisiert werden sollte. Für diesen Bereich gilt, dass die Kirchen, die beiden größten Träger von Einrichtungen für diesen Bereich sind. Wenn man weiter überlegt hätte, hätte man als erstes die Kommunen noch dazu holen müssen, die ein großer Träger in diesem Bereich sind, während der Hinweis – bei allem großen Respekt – auf die jüdische Gemeinschaft oder muslimische Organisationen in diesem thematischen Zusammenhang nicht so richtig zielführend war, wie man das heute nennt. Denn sie sind als Trägereinrichtungen in diesem Bereich gar nicht vertreten. Trotzdem haben wir uns dafür eingesetzt, so schnell wie nur irgend möglich von einem Ausgangspunkt aus, dass wir zunächst einmal an einem Strategiepapier für diesen Bereich gearbeitet und Eckpunkte formuliert haben, möglichst schnell die Basis zu verbreitern. Verantwortung für Erziehung tragen alle. Und selbstverständlich ist dabei auch der Dialog mit anderen Religionsgemeinschaften, insbesondere auch mit muslimischen Organisationen, sinnvoll und angezeigt, so schwierig er auch im konkreten Fall immer durchzuführen ist.
Deutschlandradio Kultur: Nun mal konkret nachgefragt: Vor allen Dingen in Großstädten ist der Migrantenanteil von Kindern in Kindergärten hoch und er wird höher werden. Wie wollen Sie da christliche Werte einbringen? Ist das überhaupt vorstellbar?
Bischof Huber: Wenn Kinder mit Migrationshintergrund in evangelischen Kindergärten angemeldet werden, dann wird ihnen ganz klar gesagt: Wir freuen uns, dass ihr kommt, aber ihr kommt in eine christlich geprägte Einrichtung, in der das Kirchenjahr das Zusammenleben prägt, in der christliche Werte vermittelt, biblische Geschichten erzählt werden, in der wir auf ein achtsames Umgehen miteinander Wert legen. Das heißt auch, ihr könnt euch drauf verlassen, dass mit euren Kindern achtsam und auch mit Respekt für die in ihnen wachsenden religiösen Überzeugungen umgegangen wird. Aber man muss auch sagen, es gibt Situationen, in denen wir dabei auf Grenzen stoßen. Wenn in manchen Teilen Berlins es evangelische Kindertageseinrichtungen gibt, in denen 80 Prozent der Kinder aus einem ganz anderen als einem christlichen Hintergrund kommen, dann ist die Aufgabe der Erzieherinnen und Erzieher schon ganz schön schwer. Deswegen bin ich dafür, auch nüchtern zu fragen, was man eigentlich verkraften kann und welche Zusammensetzung der Gruppen noch vereinbar ist mit der christlichen Aufgabenstellung dieser Einrichtungen.
Deutschlandradio Kultur: Es gibt gerade bei den muslimischen Menschen im Lande und weltweit größte Reizbarkeiten und Sensibilitäten. Im Augenblick steht der Papst ja bei vielen Muslimen im Verdacht ein diskriminierender Theologe zu sein, wenn er kritische Stimmen zu Mohamed zitiert und eine Erklärung des Gewaltbegriffs und des Vernunftbegriffs anmahnt. Muss sich nach Ihrer Ansicht der Papst eigentlich für seine Bemerkungen in Regensburg entschuldigen?
Bischof Huber: Papst Benedikt XVI. hat gesagt und deutlich gemacht, dass er betroffen und betrübt ist über die Auswirkungen seiner Vorlesung, die vielleicht stärker unter akademischen Gesichtspunkten konzipiert war als unter dem Gesichtspunkt ihrer medialen und politischen Wirkungen. Aber ich sage ausdrücklich dazu: Auch wer Gründe sieht, sich mit diesem Text kritisch auseinander zu setzen, muss sagen, dass die Reaktion unverhältnismäßig gewesen ist. Ich habe immer große Zweifel, wenn man für religiöse Überzeugungen die Mechanismen der Erregungskultur benutzt und in Anspruch nimmt. Das ist hier genauso geschehen, wie es ein halbes Jahr vorher aus Anlass des Karikaturenstreits geschehen ist. Bei jeder Diskussion über dieses Thema muss man, finde ich, ausdrücklich klar machen, dass man diese Instrumentalisierung nicht gut heißen kann. Es ist selbstverständlich, der Papst hat da nicht ex cathedra gesprochen. Insofern ist sein Text auch für Katholiken kritisierbar, für alle anderen ohnehin. Mit allem schuldigen Respekt kann man das tun. Aber man kann es erst dann tun, wenn es zunächst mal herausgenommen worden ist aus diesem Zusammenhang, in dem es in Wahrheit darum ging, einen Anlass zum Instrument massenhaft erzeugter Erregung zu machen. Ich missbillige das ganz außerordentlich. Das muss ich doch sagen. Ich glaube nicht, dass das dem Dialog der Religionen und der Kulturen dient. Da gibt es mehrere, die etwas zu bedauern haben, nicht allein Papst Benedikt XVI.
Deutschlandradio Kultur: Man hat aber den Eindruck, als ob sich Christen manchmal schwer tun mit Muslimen im Gespräch. Das mag viele Gründe haben, aber mit den Christen untereinander klappt der Dialog manchmal auch nicht so richtig schön. So begrüßte beispielsweise Papst Benedikt bei seiner Reise durch Bayern die Mitglieder der evangelischen Kirche als "Repräsentanten einer anderen christlichen Tradition". Das Trennende scheint irgendwie weitaus größer zu sein als das Gemeinsam. Oder haben wir das etwas falsch verstanden?
Bischof Huber: Wer die katholische Lehrtradition kennt, wird nicht damit gerechnet haben, dass er die Reise nach Bayern benutzt, um in aller Form die Kirchen der Reformation als Kirchen anzuerkennen. Unsere Kirche hängt vielmehr von der Anerkennung Jesu Christi ab und wir verstehen uns als evangelische Kirche als eine Kirche, die die Rechtfertigung des Sünders nicht nur anderen gegenüber verkündigt, sondern selber auch braucht. Der einzige Punkt, um den es mir geht im Zusammenhang dieser Diskussion, ist, dass niemand sich Fortschritte in der Ökumene erhoffen soll am Respekt für das Kirchesein des ökumenischen Partners vorbei. Das habe ich Papst Benedikt XVI. auch selber gesagt bei der Begegnung in Köln. Daran halte ich auch fest. Wir brauchen – gerade wenn wir in einer überzeugenden Weise näher zusammenrücken wollen, gerade wenn wir glaubhaft machen wollen, dass das, was uns verbindet, wichtiger, stärker, tragender ist als das, was uns trennt – auch eine Form, in der die Menschen um uns her sehen können, sie respektieren sich wechselseitig als Kirche, die Unterschiede im Amt der jeweiligen Kirche eingeschlossen.