Hubert Mingarelli: "Ein Wintermahl", Roman
Aus dem Französischen von Elmar Tannert
Ars Vivendi Verlag, Cadolzburg 2020
141 Seiten, 18 Euro
Der Versuch, dem Krieg zu entkommen
05:27 Minuten
Karg wie die Schneelandschaft ist die Sprache von Hubert Mingarelli. Der Roman "Ein Wintermahl" erzählt von drei Soldaten, die sich während des Zweiten Weltkriegs weigern, Erschießungen durchzuführen.
Es ist Winter. Auch der mehrfach um den Hals geschlungene Schal, Sturmhaube und langer Mantel helfen nicht, das Bibbern zu unterdrücken. Drei Männer, Anfang vierzig, treten mit den übrigen Angehörigen ihrer Kompanie auf dem Hof einer Turnhalle an - deutsche Soldaten im besetzten Polen während des Zweiten Weltkriegs. Sie kennen die Kälte und wissen, was bevorsteht: Der Leutnant kündigt an, "dass heute welche kommen würden, aber wahrscheinlich spät, sodass die Arbeit für den nächsten Tag vorgesehen wäre."
Die kommen: Zivilisten. Die Arbeit: sie zu erschießen. Die drei Männer, Bauer, Emmerich und der namenlose Ich-Erzähler, treten weg. Am Abend verlangen sie, den Kommandanten zu sprechen. Erklären ihm, dass ihnen "das Jagen" lieber sei, als Erschießungen vorzunehmen.
Jeder ist mit den Gedanken bei sich
Sie könnten Angehörige des vom Historiker Christopher Browning ausführlich untersuchten Polizeibataillons 101 sein. Unpolitische Handwerker des Krieges (Harald Welzer), die 38.000 Juden ermordeten und 45.000 in die Vernichtungslager deportieren ließen. Zwölf von vierhundert hatten sich geweigert an Erschießungen teilzunehmen. Den Männern geschah nichts.
Und auch in dem kurzen Roman von Hubert Mingarelli, einem hierzulande unbekannten, in Frankreich jedoch mehrfach ausgezeichneten und zuletzt für den International Booker Prize nominierten Autor, hat der Kommandant Verständnis. Er lässt die drei am nächsten Morgen in aller Frühe "zum Jagen" aufbrechen.
Karg wie die winterliche Schneelandschaft, die sie ziellos durchstreifen, sind ihre Dialoge. Man erfährt kaum etwas über sie, jeder ist mit seinen Gedanken bei sich, Emmerich besessen davon, dass sein halbwüchsiger Sohn in der Heimat nicht mit dem Rauchen anfängt. Klar ist, die drei Männer wollen niemanden erschießen und sie wollen auch niemanden finden. Sie wollen weg von der Schuld, die sie in der Vergangenheit bereits auf sich geladen haben. Aber ihnen ist auch klar, dass sie, falls sie ohne Beute zurückkehren, am folgenden Tag doch zu den Erschießungen eingeteilt werden.
Kälte und Hunger setzen ihnen ebenso zu wie die gefühlte Aussichtslosigkeit, der Vereinnahmung durch den Krieg zu entkommen. Ihre extrem reduzierte Erfahrungswelt spiegelt sich großartig in der minimalistischen Sprache des Autors.
Aussicht auf ein Essen
Und dann finden sie doch einen Juden in einem Erdloch am Waldesrand. Sie nehmen ihn mit, brechen in ein verlassenes Haus ein und versuchen dort, sich eine warme Mahlzeit zuzubereiten. Verheizt man die Stühle, worauf soll man sitzen? Ein Pole stößt zu ihnen und bietet Schnaps an, um mitessen zu dürfen. Was macht man, da es keinen Löffel für ihn gibt? Und der totgeweihte Jude, bekommt der etwas ab? Was überhaupt soll mit ihm geschehen?
Mit diesen Fragen zerbricht der Autor die Eintönigkeit seiner Geschichte. In einem Moment des Innehaltens, sich verbreitender Wärme und der Aussicht auf ein Essen, scheint es, tauen auch langsam die dumpfen Hirne aller Figuren wieder auf.
Es sind die kleinsten Gesten, Blicke oder Bemerkungen, die in diesem Roman Bedeutung bekommen und Wirkung entfalten. Die Atmosphäre ist ungemein dicht, beklemmend, spannend. Je näher das Ende des beglückend-bedrückenden Wintermahls rückt, desto aufdringlicher stellt sich die Frage: Wie geht es weiter?