Das Interview zum Nachhören in voller Länge und französischer Sprache.
"Viel wichtiger als der Tag des Mauerfalls"
Am 12.September 1990 wurde der Zwei-plus-Vier-Vertrag unterzeichnet - und so der Weg für die Wiedervereinigung geebnet. Hubert Védrine, damals außenpolitischer Berater des französischen Präsidenten François Mitterrand, erinnert sich.
Am 12. September 1990 wurde in Moskau der Zwei-plus-Vier-Vertrag unterzeichnet. Damit gewann Deutschland formell seine Souveränität von den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges zurück. Der Weg für die Wiedervereinigung war geebnet. Ein entscheidendes Datum in der deutschen Geschichte. Darüber sprechen wir mit Hubert Védrine. Er war damals außenpolitischer Berater des französischen Präsidenten François Mitterrand.
Burkhard Birke: Wie hat man den 12. September 1990 im Elysée wahrgenommen?
Hubert Védrine: Wir waren erleichtert und stolz. Erleichtert, weil jahrzehntelang die Wiedervereinigung Deutschlands unmöglich schien oder nur um den Preis eines fürchterlichen Kriegs in Europa. Das war eines der großen Probleme in den Ost-West-Beziehungen, allerdings zu einem viel früheren Zeitpunkt. Als wir diese Phase hinter uns gelassen hatten, stellte sich jedoch selbst für jemanden wie Mitterand, der die Wiedervereinigung vorhergesehen hatte, die Frage: Wie können wir das bewerkstelligen?
Mitterrand hatte schon 1981 zu Helmut Schmidt gesagt, dass die Sowjetunion spätestens in 15 Jahren so geschwächt wäre, dass sie die Wiedervereinigung Deutschlands nicht verhindern könnte. Helmut Schmidt sagte damals, dass er Mitterand gerne glauben wolle, das wohl aber nicht mehr erleben werde. Da hat er sich wohl geirrt.
Mitterrand hatte sich nie die Frage gestellt, ob er für oder gegen die Wiedervereinigung wäre. Das wäre dumm gewesen. Er sah sie als eine normale Entwicklung an, sie würde kommen, sollte aber reibungslos laufen.
Burkhard Birke: Präsident Mitterrand ist jedoch im Dezember 1989 noch in die DDR und später in die Sowjetunion gereist, da hatte man doch den Eindruck, dass er bezüglich einer raschen Wiedervereinigung Deutschlands sehr zögerlich war.
"Mitterand hatte die Wiedervereinigung sehr früh kommen sehen"
Hubert Védrine: Man darf die Position François Mitterrands nicht mit der von Frau Thatcher verwechseln. Mitterand hatte die Wiedervereinigung sehr früh kommen sehen. In Absprache mit Bundeskanzler Helmut Kohl hatte er Reisen durch ganz Osteuropa geplant, auch in die DDR.
Natürlich hatte er sich die Frage gestellt, ob er angesichts der sich überschlagenden Ereignisse fahren sollte. Damals sah es jedoch so aus, als würde die DDR noch einige Jahre existieren. Deshalb erschien es sinnvoll, Deutschland beim Übergangsprozess zu helfen. Präsident Mitterrand fährt also nach Ostberlin und der amerikanische Präsident Bush findet das so sinnvoll, dass er seinen Außenminister James Baker wenige Tage später ebenfalls losschickt, um dieselben Leute zu treffen, und ihnen das Gleiche zu erzählen. Im Dezember 1989 rechnen alle noch mit einem eher langwierigen Übergangsprozess.
Erst im Januar nimmt die Entwicklung so richtig Fahrt auf. Deshalb ist die Kritik an Mitterrand völlig unberechtigt. Lächerlich ist, seinen Besuch in Moskau bei Gorbatschow zu kritisieren. Er ist doch nicht nach Russland gefahren, um einen Plan gegen die Wiedervereinigung zu schmieden. Gorbatschow, der eigentliche Vater der Wiedervereinigung, wurde nervös. Gorbatschow hatte 1986/87 entschieden, nie mehr Gewalt einzusetzen, um ein kommunistisches Regime in Osteuropa zu erhalten. Als sich 1989 die Ereignisse überschlugen, geriet er in Panik und er hat allen – nicht nur Mitterrand auch anderen Politikern – gesagt: "Wenn es zu schnell geht, kommt es zu einem Putsch und ich werde von einem Marschall ersetzt. Das liegt nicht in Ihrem Interesse." Das hat Mitterrand zur Kenntnis genommen.
Seine Politik hat das jedoch nicht verändert. Für ihn war die Wiedervereinigung ein legitimes Anliegen, solange sie friedlich und demokratisch abliefe. Es gab allerdings eine Nuance zwischen Bush und Mitterrand: Mitterrand wollte, dass Europa dadurch gestärkt würde. Bush indes war der Auffassung, dass die Nato nicht geschwächt werden dürfte.
"Später folgten Attacken der rechten Presse"
Burkhard Birke: Welches waren aus französischer Sicht die wichtigsten Punkte, die es im Rahmen der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zu lösen galt – wobei der französische Außenminister Dumas immer von Vier-plus-Zwei-Verhandlungen sprach, eine Nuancierung sicher nicht nur semantischer Natur?
Hubert Védrine: Die beiden deutschen Staaten konnten diese Verhandlungen nicht abschließen, weil die internationalen Verträge diese Vollmacht den vier Siegermächten, den USA, der UDSSR, Großbritannien und Frankreich eingeräumt hatten. Dumas hatte also Recht, aber nach einiger Zeit hat man beide Formeln benutzt aus psychologischen und politischen Überlegungen heraus. Am Ende hat sich Zwei-plus-Vier durchgesetzt, was das damalige Klima am besten umschrieb.
Entscheidend war aus französischer Sicht, dass der Prozess demokratisch ablief, mit Wahlen in beiden Teilen Deutschlands, dass er friedlich von statten ging, dass das vereinte Deutschland weiterhin keine ABC-Waffen besitzen würde. Europa sollte gestärkt werden. Das war der Kern der Abmachung zwischen Kohl und Mitterrand über die Währungsunion.
Bezüglich der Oder-Neiße-Grenze gab es ernste Spannungen, weil François Mitterrand gesagt hatte, diese Frage müsse vor der Wiedervereinigung geregelt sein. Die konservative Presse und dann die konservativen Politiker in Deutschland attackierten ihn deshalb. Später folgten Attacken der rechten Presse in Frankreich, die von Mitterand nach acht, neun Jahren Amtszeit genug hatte.
Burkhard Birke: Hubert Védrine, es heißt auch, Frankreich hatte Angst vor einem neutralen Deutschland. Wie konnte Gorbatschow überzeugt werden, das vereinte Deutschland Mitglied der Nato werden zu lassen. Und wollte Mitterrand nicht, dass das vereinte Deutschland zwar Mitglied der Nato, nicht aber der Militärstrukturen bliebe – so wie Frankreich?
"Unvorstellbar, dass Deutschland unter Kohl neutral würde"
Hubert Védrine: Den Vorschlag gab es, aber er war nie mehrheitsfähig. Und ich habe nicht den Eindruck, dass Mitterand ihn ernsthaft umsetzen wollte. Er hat nie auf ein neutrales Deutschland gesetzt, andererseits hat er aber auch nie Angst vor einem neutralen Deutschland gezeigt. Es war unvorstellbar, dass Deutschland unter Kohl neutral würde.
Es ist allerdings richtig, dass François Mitterrand und Roland Dumas – unabhängig von der deutschen Frage – der Auffassung waren, dass man die Nato nicht unbedingt erhalten müsste, da die Sowjetunion und der Warschauer Pakt im Auflösungsprozess begriffen waren.
Das Bündnis sollte erhalten, aber die Organisation, die Militärstruktur, die zu Friedenszeiten schon auf Krieg ausgerichtet war, hielten sie für überflüssig.
Das Bündnis sollte erhalten, aber die Organisation, die Militärstruktur, die zu Friedenszeiten schon auf Krieg ausgerichtet war, hielten sie für überflüssig.
Diese Militärstruktur ist ja nicht zur Gründung der Allianz, sondern erst nach dem Koreakrieg geschaffen worden. Die Idee war, die Allianz als lockeren Verbund mit einem Status wie Frankreich ohne Integration in die Militärstruktur und Beitrittsmöglichkeiten für die Osteuropäer zu erhalten. Die Struktur, die Nato an sich wäre jedoch überflüssig. Das war jedoch kein Schachzug mit Blick auf Deutschland.
Burkhard Birke: Es war jedoch entscheidend, dass auf ostdeutschem Territorium keine Nato-Truppen stationiert werden durften. Das war eine der Zusagen, um Gorbatschow zu überzeugen, das vereinte Deutschland in die Nato zu lassen. Gab es damals auch die Zusage, die Nato nicht auf Osteuropa auszudehnen? Erinnern Sie sich, ob Gorbatschow ein solches Versprechen gegeben wurde?
Hubert Védrine: Ich kenne diese Argumentation, aber Frankreich spielt dabei keine zentrale Rolle. Entscheidend ist, welche Zusagen der amerikanische Präsident Bush, der Vater, der gute Bush, und Außenminister James Baker Gorbatschow gegeben haben. Gorbatschow behauptet, dass ihm versprochen wurde, dass die Nato sich nicht erweitern würde oder zumindest, dass wenn die Nato formell erweitert würde, keine Truppen und keine Militärausrüstung in Ostdeutschland stationiert würden. Das behauptet Gorbatschow.
Die Amerikaner wiederum sagen, man habe über das Thema gesprochen, aber nicht abschließend. Es gebe auch nichts Schriftliches. Das ist jedoch eine Angelegenheit zwischen Russland und den USA, keine französische.
"Deutschland hätte wohl am Ende die D-Mark behalten"
Burkhard Birke: Glauben Sie, Hubert Védrine, dass Deutschland ohne die Wiedervereinigung und ohne den Druck von Präsident Mitterrand jemals die Mark aufgegeben hätte?
Hubert Védrine: Das ist heute schwer zu sagen. Ich glaube, ohne die besonderen Umstände hätte Deutschland wohl am Ende die D-Mark behalten.
Burkhard Birke: Was bedeutet das Datum des 12. September 1990 aus heutiger Perspektive, Hubert Védrine?
Hubert Védrine: Dieses Datum ist viel wichtiger als der Tag des Mauerfalls. Dieser Tag war natürlich sehr bewegend, ein Augenblick, über den alle Welt spricht, aber historisch und international betrachtet hat er wenig zu bedeuten. Es war ein sehr emotionaler Moment. Im Übrigen fiel die Mauer damals nicht, sondern sie wurde nur geöffnet.
Die entscheidenden Daten sind der Tag, an dem die deutsche Wiedervereinigung vertraglich vereinbart wurde, und der Tag, an dem sich die Sowjetunion aufgelöst hat. Das war Ende 1991. Das sind die entscheidenden Stichtage.
Wie ist das heute zu bewerten? Als Erfolg! Als bemerkenswerter Erfolg für Deutschland, in der deutschen Geschichte, und als gemeinsamer Erfolg, der durch teilweise harte Verhandlungen zustande kam, aber es war ein Erfolg! Davon gibt es nicht viele. 2015 befinden wir uns in einer Welt, wo man das Gefühl hat, keiner kontrolliert noch etwas. So betrachtet war es ein wirklich bemerkenswerter Erfolg.