Humanismus einer Dekonstruktivistin
Die kalifornische Philosophin Judith Butler ist der Schrecken jedes ordentlichen Humanismus. Anfang der neunziger Jahre störte sie die feministische Szene mit ihrem Buch "Gender Trouble" ("Das Unbehagen der Geschlechter") auf: Darin stellte sie nicht nur die Geschlechterrollen in Frage, sondern gleich die Zweigeschlechtlichkeit selbst. Weniger ging es Butler darum, Frauen (und Männer) aus irgendeinem System zu befreien. Vielmehr will sie untersuchen, was aus uns diversen, vielgestaltigen Menschenwesen überhaupt Subjekte macht, die man in die Schubladen Mann oder Frau einsortieren kann.
Auf ähnliche Weise "dekonstruiert" sie auch andere Kategorien wie "Mensch", "Moral" oder "Identität". Während es von Sigmund Freud oft heißt, er habe dem Menschen gezeigt, dass er nicht Herr im eigenen Hause ist, kann man von Butler sagen: Sie will beweisen, dass dieses Haus nicht einmal Wände hat.
Wer sich diese Vorgeschichte in Erinnerung ruft, kann die eigentümlichen Denkbewegungen leichter einordnen, die Butler in ihrem neuesten Buch macht: eine Sammlung aktueller Essays zu den Themen "Mensch", "Körper" und "Krieg", geschrieben von einer politisch wachen Berkeley-Professorin und Bush-Gegnerin. Entsetzt über die Bilder, die die Öffentlichkeit aus dem irakischen Abu Ghraib oder Guantanamo, von Särgen mit amerikanischen Flaggen und zerstörten afghanischen Häusern erreichten, fragt sie nach der Verantwortung der USA und des Westens. Sie klagt die Ungleichheit an, mit der Tote des eigenen Landes individuell betrauert werden, während die Toten anderer Bevölkerungen namenlos dem Vergessen anheimfallen.
Aber Butler fordert eben nicht universelle Gerechtigkeit für alle Erdbewohner, sondern sie fragt in gut dekonstruktivistischer Manier: Warum nehmen wir Menschen so unterschiedlich wahr? Warum scheinen einige mehr, andere weniger schützens- und beachtenswert? Was bedeutet es, wenn Soldatinnen und Soldaten ihre Gefangenen in Irak foltern und homosexuelle Vergewaltigungen mit ihnen durchspielen? Wie wird da der Andere, "der Araber", als machtloses und verwundbares Wesen inszeniert?
Verwundbar, gefährdet, auf andere angewiesen sind wir alle, schreibt Butler. Während die klassische Moralphilosophie von mündigen, unversehrten, autonomen Akteuren ausgeht, sieht Butler den Menschen vor allem als verletzlich. Auch hier wieder: als polymorph, also vielgestaltig, mit fließenden Grenzen. Auch hier: nicht Herr des ohnehin unbefestigten Hauses. Um auf der Basis solcher Verletzlichkeit eine Moralphilosophie zu begründen, benutzt Butler Gedanken von Hegel und der Psychoanalyse Melanie Kleins. Wir brauchen den Anderen, um ein Selbst zu werden. Wenn wir den Anderen zerstören, zerstören wir als soziale Wesen die Basis unseres eigenen Seins.
Die Grenze zwischen dem Selbst und dem Anderen wird im Grunde ständig überschritten, meint Butler: im Begehren, in der Kommunikation, in der Aggression. Auch die Aggression können wir nicht aus unserem Leben verbannen. Es kommt aber darauf an, wie wir sie praktisch wenden; ob wir ihr erlauben, unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. Butler fordert, Verletzungen zu reflektieren und auszuhalten, anstatt sie an andere weiterzugeben, sie gewaltsam auszutragen.
Am Ende steht ein Ideal der Gewaltlosigkeit, das weniger Tugend und moralisches Gebot ist, als vielmehr eine Form psychischer Reife. Und man fragt sich als Leser: War das den dekonstruktivistischen Umweg wert? Hätte dieses Ergebnis nicht auch ein Humanismus und Universalismus alter Schule erbracht? In Teilen vielleicht, im Gesamtbild jedoch nicht.
Zum Beispiel ist Butlers Blick auf die Folterszenen aus dem Irak außergewöhnlich luzide. Es gelingt ihr, insbesondere deren sexuellen Hintergrund so zu analysieren, dass der Zusammenhang zwischen solchen Gewaltexzessen zum ganz normalen Rassismus plausibel wird.
Sicher, bei Judith Butler wird der Humanismus erst zerstört, dann neu erfunden. Doch man gewinnt eben auch den Eindruck, dass das Resultat ein besonders sensibler, besonders menschlicher Humanismus ist.
Besprochen von Hilal Sezgin
Judith Butler: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen
Aus dem Amerikanischen von Reiner Ansén
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2010
180 Seiten, 19,90 Euro
Wer sich diese Vorgeschichte in Erinnerung ruft, kann die eigentümlichen Denkbewegungen leichter einordnen, die Butler in ihrem neuesten Buch macht: eine Sammlung aktueller Essays zu den Themen "Mensch", "Körper" und "Krieg", geschrieben von einer politisch wachen Berkeley-Professorin und Bush-Gegnerin. Entsetzt über die Bilder, die die Öffentlichkeit aus dem irakischen Abu Ghraib oder Guantanamo, von Särgen mit amerikanischen Flaggen und zerstörten afghanischen Häusern erreichten, fragt sie nach der Verantwortung der USA und des Westens. Sie klagt die Ungleichheit an, mit der Tote des eigenen Landes individuell betrauert werden, während die Toten anderer Bevölkerungen namenlos dem Vergessen anheimfallen.
Aber Butler fordert eben nicht universelle Gerechtigkeit für alle Erdbewohner, sondern sie fragt in gut dekonstruktivistischer Manier: Warum nehmen wir Menschen so unterschiedlich wahr? Warum scheinen einige mehr, andere weniger schützens- und beachtenswert? Was bedeutet es, wenn Soldatinnen und Soldaten ihre Gefangenen in Irak foltern und homosexuelle Vergewaltigungen mit ihnen durchspielen? Wie wird da der Andere, "der Araber", als machtloses und verwundbares Wesen inszeniert?
Verwundbar, gefährdet, auf andere angewiesen sind wir alle, schreibt Butler. Während die klassische Moralphilosophie von mündigen, unversehrten, autonomen Akteuren ausgeht, sieht Butler den Menschen vor allem als verletzlich. Auch hier wieder: als polymorph, also vielgestaltig, mit fließenden Grenzen. Auch hier: nicht Herr des ohnehin unbefestigten Hauses. Um auf der Basis solcher Verletzlichkeit eine Moralphilosophie zu begründen, benutzt Butler Gedanken von Hegel und der Psychoanalyse Melanie Kleins. Wir brauchen den Anderen, um ein Selbst zu werden. Wenn wir den Anderen zerstören, zerstören wir als soziale Wesen die Basis unseres eigenen Seins.
Die Grenze zwischen dem Selbst und dem Anderen wird im Grunde ständig überschritten, meint Butler: im Begehren, in der Kommunikation, in der Aggression. Auch die Aggression können wir nicht aus unserem Leben verbannen. Es kommt aber darauf an, wie wir sie praktisch wenden; ob wir ihr erlauben, unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. Butler fordert, Verletzungen zu reflektieren und auszuhalten, anstatt sie an andere weiterzugeben, sie gewaltsam auszutragen.
Am Ende steht ein Ideal der Gewaltlosigkeit, das weniger Tugend und moralisches Gebot ist, als vielmehr eine Form psychischer Reife. Und man fragt sich als Leser: War das den dekonstruktivistischen Umweg wert? Hätte dieses Ergebnis nicht auch ein Humanismus und Universalismus alter Schule erbracht? In Teilen vielleicht, im Gesamtbild jedoch nicht.
Zum Beispiel ist Butlers Blick auf die Folterszenen aus dem Irak außergewöhnlich luzide. Es gelingt ihr, insbesondere deren sexuellen Hintergrund so zu analysieren, dass der Zusammenhang zwischen solchen Gewaltexzessen zum ganz normalen Rassismus plausibel wird.
Sicher, bei Judith Butler wird der Humanismus erst zerstört, dann neu erfunden. Doch man gewinnt eben auch den Eindruck, dass das Resultat ein besonders sensibler, besonders menschlicher Humanismus ist.
Besprochen von Hilal Sezgin
Judith Butler: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen
Aus dem Amerikanischen von Reiner Ansén
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2010
180 Seiten, 19,90 Euro