Satire-Boom trotz oder dank Erdogan?
An den Kiosken liegt der große Schatz der türkischen Satire-Szene. Geistreicher und schärfer als das Erdogan-Lied von "Extra 3" sagen die kundigen Käufer. Die Macher werden dafür regelmäßig vom Präsidenten verklagt. Das gehört hier dazu.
Was die Türken von Jan Böhmermanns Schmähgedicht über ihren Präsidenten halten? Ehrlich gesagt nicht viel, denn die Meisten kennen es gar nicht. Das Lied der NDR-Satiresendung Extra-3 dagegen schon. Denn die harsche Reaktion Erdogans sorgte dafür, dass Erdo-wo, Erdo-wie, Erdo-wann auch am Bosporus mit türkischen Untertiteln zum Ohrwurm wurde.
Die drei Istanbuler, die bei Bier und Erdnüssen in der Nähe des Taksim-Platzes zusammensitzen, schunkeln im Takt der Musik auf ihren Holzhockern, während einer von ihnen das Extra-3-Video auf seinem Smartphone abspielt. Berk, ein Politikstudent mit Pferdeschwanz und Ziegenbärtchen, schmunzelt:
"Ja, ganz witzig gemacht. Aber wenn ich ehrlich sein soll: Der ganz große Kracher ist es nicht. Erinnert ein bisschen an eine lustige Videocollage aus den 80ern. Die Graffitis, die man heute in Istanbul an den Wänden findet, sind oft wesentlich geistreicher."
Hakan, selbst Satiriker, nickt zustimmend. Geistreicher – und auch kritischer seien die türkischen Humoristen:
"Erdogans Reaktion auf dieses Video hat mich ehrlich gesagt überrascht. Das ist bei Weitem nicht das Härteste, was ich über ihn gesehen habe. Ich denke es geht hier darum, dass er sich gegenüber Europa aufspielen will. Hätten Amerikaner dieses Video gemacht, hätte kein Mensch den Botschafter einbestellt. Aber so lief es nach dem Motto: Den Deutschen, den zeigen wir es jetzt mal richtig. Wegen der Flüchtlingskrise können wir das ja. Ansonsten ist diese Reaktion nicht zu erklären. Sowas haben wir doch hier selbst jeden Tag.
Erdogan als Lieblingsopfer türkischer Humoristen
Tatsächlich: Mehr als 450.000 Treffer ergibt die Suche nach den Stichworten "Erdogan" und "Komik" im türkischen Internet. Egal ob in Rapsongs, Foto- und Videomontagen oder Karikaturen – egal ob gehässig, spöttelnd oder augenzwinkernd. Der mächtige Präsident ist mit Abstand das Lieblingsopfer türkischer Humoristen. Und die sind äußerst aktiv: Berühmt wie Popstars sind allein die Schreiber und Zeichner der drei großen Istanbuler Satiremagazine Leman, Penguen und Uykusuz – die die politische und soziale Lage im Land allwöchentlich in feinsten Comics und Kolumnen aufgreifen. Stolze vier Millionen Twitter-Follower hat gar die Internetzeitung "Zaytung". Eine landesweit bekannte Onlinesatire voller Ironie und Halbwahrheiten, die oppositionelle Türken den herkömmlichen, als regierungsnah verpönten Tageszeitungen längst vorziehen.
"In Deutschland mag man vielleicht denken, die Türken hätten keinen Humor. Aber das Gegenteil ist wahr. Nur sind sich die Türken – im Gegensatz zu den Engländern zum Beispiel – selbst gar nicht bewusst, wie lustig sie sind."
Glaubt Soziologin Melike Boylan von der Middle Eastern Technical University in Ankara:
"Dabei fußt das Ganze auf einer uralten Tradition: Von den Osmanen bis heute gab es durchgehend politischen Druck in diesem Land. Und der Humor war immer ein Weg, um damit umzugehen.
Melike Boylan weiß, wovon sie spricht. "Güldürme beni" – "Bring mich nicht zum Lachen", heißt ihr gerade erschienenes Buch zum Thema. Auf knapp 350 Seiten werden Charakter und Zustand, Tabus und Inspiration der türkischen Satireszene beleuchtet. Fazit: Der direkte, fast schon platte Stil des Extra-3-Erdogan-Liedes liegt den Türken nicht. Feiner Sprachwitz, spitze Federn und viel Ironie dagegen viel mehr. Und das nicht ohne Grund:
"Es ist offensichtlich, dass die Toleranz gegenüber der politischen Satire bei uns in der Türkei immer weniger wird. Aber gerade in Gesellschaften, wo der Druck wächst, kann man sehen, dass auch der Humor sich weiterentwickelt. Ich denke, die türkischen Satiriker sind die mutigsten und kreativsten Leute in unserer Gesellschaft. Niemand reizt den geltenden Freiheitsbegriff soweit aus wie sie."
Witz befeuert die Proteste
Bestes Beispiel dafür: Die türkischen Gezi-Proteste vom Sommer 2013.
Ein paar Umweltschützer demonstrierten damals in Istanbul gegen ein geplantes Shoppingcenter. Eigentlich kein großes Thema. Doch dass daraus in kurzer Zeit ein landesweiter, vom europäischen Ausland mit viel Sympathie verfolgter Aufstand wurde, lag auch und vor allem an dem Witz, mit dem die Proteste täglich neu befeuert wurden.
Graffitis wie "Gut, dass du den Alkohol verboten hast Erdogan – das Volk ist aufgewacht" oder auch "Sprüht nur, Tränengas ist gut für die Haut" an die Adresse der türkischen Polizei, sorgten damals für Gelächter und Feierstimmung bei jeder Demo.
"Der sogenannte Geist von Gezi kam nicht von ungefähr. Hätte die türkische Humorkultur nicht bereits existiert, hätte das Ganze vielleicht nie so stattgefunden",
so Soziologin Boylan aus der türkischen Hauptstadt:
"Nur eine Generation, die mit der Art von Satiremagazinen aufgewachsen ist, wie wir sie haben, kann in einer solchen Situation so viel Sprachwitz zeigen.
Tatsächlich sind es gerade junge, gebildete und vor allem oppositionelle Türken, an die sich die mal gezeichnete, mal gedichtete, mal gesungene Kritik an den herrschenden Zuständen im Land richtet. Eine Minderheit also, die in Erdogans Demokratieverständnis auch nach den Protesten von 2013 nicht zählt.
"Wir gehören nicht zu dem Menschenschlag, der in diesem Land zurzeit ernst genommen wird",
stellt der bekannte Karikaturenzeichner Baris Uygur schmunzelnd fest:
"Und auch unsere Publikationen nehmen sie höchstens dann mal ernst, wenn wir sie wirklich wütend gemacht haben. Dabei gehören wir zu den ganz wenigen Verbliebenen, die in der Türkei noch unabhängige Opposition betreiben.
Dabei war die Satireszene am Bosporus nicht immer so politisch, wie sie heute erscheint. Erst durch die bewusst vorangetriebene Spaltung der Gesellschaft, in der "pro Erdogan" oder "contra Erdogan" inzwischen nicht selten über die Wahl der Freundin, des Arbeitsplatzes oder des Wohnviertels entscheidet, wurde auch der Humor zum Politikum.
Der Istanbuler Sefer Selvi gilt als Urgestein der türkischen Karikaturistenszene:
"Als ich vor 35 Jahren in Istanbul mit dem Zeichnen begann, da waren komische Typen, die auf der Straße ausspuckten und andere Leute anmachten genauso unser Thema wie die politische Agenda. Aber heute dienen Karikaturen immer mehr, um Menschenrechtsverletzungen anzuprangern. Traurig ist das – sowohl für das Land, als auch für uns Zeichner."
Selvi, ein auffällig schüchterner Typ mit grauem Struwwelhaar und randloser Brille auf der Nasenspitze, wirft einen Blick auf die aktuelle Nachrichtenlage. Fünf Tage die Woche zeichnet er seine Kolumne für die linke Tageszeitung "Evrensel". Die Themen der Politikredakteure nebenan sind dabei auch seine Themen. Lustig wirkt zunächst keins von ihnen: Im Südosten der Türkei liefert sich das Militär weiter blutige Kämpfe mit der PKK, der Konflikt mit Russland spitzt sich zu, erneut IS-Terrorwarnungen für Istanbul und Antalya. Sefer Selvi zuckt mit den Schultern:
"Am Ende zeigen meine Bilder inzwischen sowieso fast immer Erdogan. Einfach, weil er sich ständig und zu jedem Thema äußert. Er bestimmt die Agenda und damit ist er das Thema. Ich bin ehrlich gesagt längst gelangweilt davon, ihn zu zeichnen."
6400 Euro Schmerzensgeld an den Präsidenten
Erdogan, wie er den Befehl gibt, auf friedliche Demonstranten zu schießen; Erdogan, wie er sich beim syrischen Präsidenten einschleimt oder unliebsame Journalisten zum Schweigen bringt. Kein Wunder, dass Sefer Selvi zu denen gehört, die bereits persönlich mit dem mächtigen Präsidenten in Konflikt geraten sind. 6400 Euro Schmerzensgeld musste der Zeichner dem Präsidenten im Jahr 2014 überweisen:
"Die Gefahr einer Anklage oder auch die, verprügelt zu werden besteht natürlich immer. Die meisten Drohungen bekommen wir über das Internet. Beleidigungen und auch Morddrohungen. Aber ein bisschen Risiko muss eben sein."
Zum ersten Mal in diesem Interview lächelt Zeichner Selvi:
"Niemand kann die Satire stoppen. Unmöglich. Wenn wir unsere Botschaften ganz direkt sagen würden, landeten wir vielleicht im Gefängnis. Aber der Humor sorgt für weniger harte Reaktionen."
Tatsächlich: In einer Zeit, in der zwei der bekanntesten Journalisten des Landes lebenslängliche Haftstrafen drohen und in der selbst Akademiker wegen Terrorunterstützung angeklagt sind, weil sie Frieden mit den Kurden fordern, wirken hier und da ein paar Tausend Euro Schmerzensgeld fast schon auffällig harmlos. Und dennoch: Auch bei den Satirikern steigt der Druck.
Soziologin Melike Boylan:
"Früher war es ganz normal, auch im Fernsehen zu sehen, wie Politiker imitiert und veräppelt wurden. Aber wie dünn die Haut der Betroffenen geworden ist, sieht man daran, dass so etwas heute nur noch in den Karikaturenmagazinen und in den sozialen Medien passiert. Das Fernsehen, das wirklich Massen erreicht, wird viel stärker zensiert."
Dabei ist es oft vor allem die Selbstzensur, die dafür sorgt, dass kritische Satire im türkischen TV heute keinen Platz mehr hat.
"Fast alle Medienbosse in der Türkei sind gleichzeitig Investoren im Energie-, Bau- und Tourismussektor. Der Staat spielt in diesen Wirtschaftszweigen eine große Rolle und deswegen achten die Medienbosse bei allem, was sie tun darauf, eine gute Beziehung zur Regierung zu pflegen. Kritik ist da tabu",
erklärt Ceren Sözeri, Medienwissenschaftlerin an der privaten Galatasaray-Universität in Istanbul. Und Zeichner Baris Uygur ergänzt:
"Deswegen glauben unsere Leser uns definitiv mehr als den Tageszeitungen. Weil wir überhaupt keine Werbeanzeigen schalten, zu keiner politischen Gruppierung gehören und auch zu keiner religiösen. Wir sind in jeder Beziehung unabhängig und können über jeden schreiben, was wir wollen. Wir haben vor niemandem Angst.
Große Internetaffinität der türkischen Gesellschaft
Und noch einen Grund gibt es, warum die Satireszene zu den wenigen Orten in der Türkei gehört, an denen noch Kritik geübt werden darf: Die türkische Gesellschaft ist bekannt für ihre Internetaffinität. In der Facebook-Nutzung gilt sie als Europameister, in kaum einem anderen Land stieg die Zahl der Twitter-Accounts in den letzten Jahren so rasant wie am Bosporus.
"Um die türkische Satire zum Schweigen zu bringen, müsste man das gesamte Internet abschalten",
sagt deswegen einer, der es wissen muss.
Hakan Bilginer sitzt gut gelaunt in einem Café im Istanbuler Stadtteil Kadiköy. Auf dem Laptop öffnet er die Startseite von "Zaytung", der größten satirischen Onlinezeitung der Türkei, die er 2009 gemeinsam mit Freunden gründete:
"'Zaytung' sieht auf den ersten Blick wie eine ganz normale Nachrichtenseite aus. Aber sämtliche Inhalte sind satirisch aufbereitet. Unsere News sind die Nachrichten des Tages in weitergesponnener Form. Und alles, was uns in diesem Land auf die Nerven geht, kommt darin vor."
Hakan Bilginer öffnet eine Liste mit den "Zaytungstiteln" der letzten Tage. "Die Türkei kann sich voller Stolz das am weitesten entwickelte Land unter denen nennen, in deren Hauptstadt jeden Monat eine Bombe explodiert" heißt es da voller Sarkasmus. Oder auch: "Premier Davutoglus neuer Plan, um die Tourismusbranche zu retten: Jeder Türkeiurlauber, der seinen Aufenthalt lebend übersteht, bekommt 20 Prozent der Kosten erstattet."
"Zaytung" mit vier Millionen Twitter-Followern
Stolze vier Millionen Türken folgen den satirischen Schlagzeilen der "Zaytung" täglich bei Twitter. Noch wichtiger aber ist die Tatsache, dass über Hunderttausend Leser aktiv Beiträge, Zeichnungen und Artikel beisteuern. Hakan Bilginer ist überzeugt: Jeder Versuch, die Satire in der Türkei zu unterdrücken, lässt diese Community nur noch weiter wachsen:
"Natürlich hat es auch vor uns schon eine Kultur des politischen Humors gegeben. Aber inzwischen gibt es tatsächlich etwas, was sich die 'Zaytung-Sprache' nennt. 'Zaytungisch' ist ein Adjektiv für eine ganze Lebenseinstellung geworden.
Egal ob im Internet oder im gedruckten Karikaturenheft. Es ist genau diese Sprache, die einmal mehr die tiefe Spaltung der türkischen Gesellschaft zeigt. Denn die größtenteils konservativen, im Durchschnitt weniger gebildeten AKP-Anhänger im Land, sprechen und verstehen die Satire-Vokabeln häufig nicht. Für sie gleicht einem Vaterlandsverrat, was eigentlich als humorvolle Kritik gemeint war.
Den Erdogan-Gegnern jedoch, die sich seit den Gezi-Protesten vom Sommer 2013 nie wieder wirklich vereinigen konnten, gilt der Humor immer öfter als letzter Ausweg in einem Land, in dem ihre Stimmen immer weniger zählen.
Melike Boylan: "Denken Sie an ein Kind, das von seinem Vater verprügelt wird und noch unter Tränen ruft: Ätschibätsch, hat doch gar nicht wehgetan. Es hat natürlich wehgetan. Aber mit diesen Worten wird es besser. Das Gleiche sehen wir in der Türkei: Eine Gruppe, die nicht in die politischen Entscheidungsprozesse einbezogen und unterdrückt wird, verteidigt und hilft sich selbst mit Humor. In Deutschland werden sie eine solche Szene nie finden, denn gute Satire braucht Material, mit dem sie sich beschäftigen kann."