Hunderte Seiten Notizen und Träume
Günter Kunert reflektiert in seinem "Big Book", wie er sein Projekt nennt, die Welt, ihre Erscheinungen und sich selbst. Eine erste Auswahl erschien 2004, nun kommt der Folgeband. Kunert erweist sich als bemerkenswert bissiger Chronist, der es aber inzwischen schafft, seine Beobachtungen mit einer gewissen Altersweisheit zu unterlegen.
Sein "Big Book" nennt Günter Kunert (geb. 1929) das inzwischen über tausend Seiten umfassende Projekt, mit dem er etwa zu der Zeit begann, als er 1979 die DDR in Richtung Westen verließ und er in dem in Schleswig Holstein gelegenen Itzehoe "landete". Ein Tagebuch im herkömmlichen Sinn sind diese Notizen nicht. Er schreibt in das "Big Book" ein, was ihm durch den Kopf geht. Es ist seine ganz individuelle "Auseinandersetzung mit der Welt, ihren Erscheinungen" und es ist zugleich eine "Begegnung" mit der eigenen Person.
Anfangs nummerierte er die Notizen, Reflexionen, Betrachtungen, Erinnerungen und Träume. Ab Mitte der achtziger Jahre datierte er sie. Eine erste Auswahl aus dem Kunertschen Kompendium, das in Hebbels Tagebüchern und Lichtenbergs Sudelbücher berühmte Vorbilder besitzt, erschien 2004 unter dem Titel "Die Botschaft des Hotelzimmers an den Gast" und war von Huber Witt herausgegeben worden. Während diese Notizen noch mit Überschriften versehen wurden, eine heißt "Vom Weltenende", sind die Aufzeichnungen in dem jüngst erschienenen Band, erneut von Hubert Witt herausgegeben, nun nach Jahren geordnet.
Kunert ist ein Skeptiker, einer der schonungslos auf die Welt schaut und zur Sprache bringt, was Anlass zur Sorge gibt ("Man wirft mir stets vor, ich sei zu pessimistisch, aber man kann gar nicht pessimistisch genug sein, sobald man bereit ist, Lehren aus der Geschichte zu ziehen."). Gern nimmt er sich Meldungen vor, die in den Tageszeitungen unter der Rubrik "Verschiedenes" oder "Aus aller Welt" veröffentlicht werden: "Lese in der Zeitung, daß eine Kopftransplantation nicht mehr außerhalb des Möglichen liege."
Ausgehend von solchen Meldungen, schickt Kunert seine Gedanken auf die Reise. Beflügelt werden sie von Ungeheuerlichkeiten, die er täglich entdeckt. Sie veranlassen Kunert, sich auf ein Thema einzulassen, ihm auf den Grund zu gehen. Was sagen solche Meldungen über die Kultur?
Es gibt wiederkehrende Themen, Motive, die sich durch das Buch ziehen: zunehmende Barbarei, die Bestie Mensch, ein grassierender Analphabetismus, die dünner werdende "Kulturschicht". Gelegentlich wendet er sich der großen Politik zu und zeigt sie in ihrer Kleinheit. Häufig beziehen sich seine Überlegungen angesichts aktueller Erscheinungen auf die Geschichte und insbesondere auf die NS-Zeit, in der Kunert als Jude zu den Verfolgten zählte.
Günter Kunert ist ein bemerkenswert bissiger Chronist, der das Ungeheuerliche nicht übersieht, sondern es benennt. Inzwischen versteht es der "erkenntnisfördernde Pessimist", seine Texte mit einer abgeklärten Altersweisheit zu unterlegen, die die intellektuellen Reisen, zu denen Kunert einlädt, zu einem Vergnügen werden lassen. Vom anschwellenden Gegenwartsgebrabbel lässt er sich nicht einlullen. Wenn er einen zu selbstgefälligen Ton entdeckt, wenn es zu gemütlich wird, hebelt Kunert den ganzen Schmarren mit einer Sprache aus, die scharfzüngig auf das Katastrophale verweist. Das ist außerordentlich wohltuend!
Besprochen von Michael Opitz
Günter Kunert, "Tröstliche Katastrophen Aufzeichnungen 1999 – 2011"
Carl Hanser Verlag, München 2013
382 Seiten, 24,90 Euro
Anfangs nummerierte er die Notizen, Reflexionen, Betrachtungen, Erinnerungen und Träume. Ab Mitte der achtziger Jahre datierte er sie. Eine erste Auswahl aus dem Kunertschen Kompendium, das in Hebbels Tagebüchern und Lichtenbergs Sudelbücher berühmte Vorbilder besitzt, erschien 2004 unter dem Titel "Die Botschaft des Hotelzimmers an den Gast" und war von Huber Witt herausgegeben worden. Während diese Notizen noch mit Überschriften versehen wurden, eine heißt "Vom Weltenende", sind die Aufzeichnungen in dem jüngst erschienenen Band, erneut von Hubert Witt herausgegeben, nun nach Jahren geordnet.
Kunert ist ein Skeptiker, einer der schonungslos auf die Welt schaut und zur Sprache bringt, was Anlass zur Sorge gibt ("Man wirft mir stets vor, ich sei zu pessimistisch, aber man kann gar nicht pessimistisch genug sein, sobald man bereit ist, Lehren aus der Geschichte zu ziehen."). Gern nimmt er sich Meldungen vor, die in den Tageszeitungen unter der Rubrik "Verschiedenes" oder "Aus aller Welt" veröffentlicht werden: "Lese in der Zeitung, daß eine Kopftransplantation nicht mehr außerhalb des Möglichen liege."
Ausgehend von solchen Meldungen, schickt Kunert seine Gedanken auf die Reise. Beflügelt werden sie von Ungeheuerlichkeiten, die er täglich entdeckt. Sie veranlassen Kunert, sich auf ein Thema einzulassen, ihm auf den Grund zu gehen. Was sagen solche Meldungen über die Kultur?
Es gibt wiederkehrende Themen, Motive, die sich durch das Buch ziehen: zunehmende Barbarei, die Bestie Mensch, ein grassierender Analphabetismus, die dünner werdende "Kulturschicht". Gelegentlich wendet er sich der großen Politik zu und zeigt sie in ihrer Kleinheit. Häufig beziehen sich seine Überlegungen angesichts aktueller Erscheinungen auf die Geschichte und insbesondere auf die NS-Zeit, in der Kunert als Jude zu den Verfolgten zählte.
Günter Kunert ist ein bemerkenswert bissiger Chronist, der das Ungeheuerliche nicht übersieht, sondern es benennt. Inzwischen versteht es der "erkenntnisfördernde Pessimist", seine Texte mit einer abgeklärten Altersweisheit zu unterlegen, die die intellektuellen Reisen, zu denen Kunert einlädt, zu einem Vergnügen werden lassen. Vom anschwellenden Gegenwartsgebrabbel lässt er sich nicht einlullen. Wenn er einen zu selbstgefälligen Ton entdeckt, wenn es zu gemütlich wird, hebelt Kunert den ganzen Schmarren mit einer Sprache aus, die scharfzüngig auf das Katastrophale verweist. Das ist außerordentlich wohltuend!
Besprochen von Michael Opitz
Günter Kunert, "Tröstliche Katastrophen Aufzeichnungen 1999 – 2011"
Carl Hanser Verlag, München 2013
382 Seiten, 24,90 Euro