Arnd Pollmann schreibt Bücher über Integrität und Unmoral, Menschenrechte und Menschenwürde. Er ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und Mitherausgeber der Zeitschrift für Menschenrechte.
Abseits von Krieg und Klimakrise
Wieviel hat ein Weizenfeld in der Ukraine mit dem Welthunger zu tun? © Getty Images / Iuliia Bondar
Skandal Welthunger
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Ukraine-Krieg, Klimawandel, Pandemie - im Schatten dieser Themen vollzieht sich eine Katastrophe: der explodierende Hunger. Wie kann es sein, dass die absolute Armut so vieler Menschen kaum ein Thema ist?
In der Ukraine soll ein Weltkrieg verhindert werden. Doch im Schatten dieses Krieges ereignet sich längst eine ganz andere Menschheitskatastrophe. Gemeint ist einmal nicht die Klimakrise, sondern der globale Hunger. Schon heute leben nach UN-Angaben etwa 800 Millionen Menschen in absoluter Armut. In Kürze sollen es schlagartig noch einmal 250 Millionen Menschen mehr sein; durch kriegsbedingten Getreidemangel, blockierte Handelswege, fehlendes Rohöl, börsliche Spekulation, aber auch historische Dürre.
Absolute Armut – das ist ein Zustand materieller Unterversorgung, an dem die Betroffenen mit der Zeit sterben werden. Diese Armut wartet nicht, bis der Krieg beendet ist oder ehrgeizige Klimaziele erreicht sind. Es gibt Menschenrechte auf Leben, Nahrung, Gesundheit, Obdach. Warum klebt sich heute niemand für diese Menschenrechte auf der Straße fest?
Nahes Übel und fernes Leid
Dies könnte daran liegen, dass sowohl der Ukraine-Krieg als auch die Erderwärmung „näher“ wirken und so direkter ängstigen als die ferne Hungersnot. Aber erklärt oder gar rechtfertigt egoistische Betroffenheit eine derartige Diskriminierung menschlichen Leids? Hinzu kommt, dass Krieg und Klimakrise noch immer recht „neu“ und ungewohnt erscheinen, was nicht zuletzt die massenmediale Bevorzugung jener Krisen erklärt. Doch wenn man es zynisch formuliert, wird umgehend klar, dass auch dies kein guter Grund ist: An den globalen Hunger haben wir uns bereits gewöhnt, an den Krieg und die Klimakatastrophe vorerst noch nicht.
Vielleicht ist es der Umstand, dass der Krieg in seiner Brutalität unmittelbar tödlicher anmutet. Allerdings ist auch das eine Fehleinschätzung. Die Quellenlage ist schwierig, aber nach Angaben der ukrainischen Regierung sind seit Februar 2022 etwa 70.000 Menschen getötet worden. An absoluter Armut hingegen sterben laut UN-Angaben derzeit etwa 25.000 Menschen täglich; darunter etwa 10.000 Kinder.
Koste es, was es wolle
Oder geht es um die vage Hoffnung, dass der Krieg schneller oder billiger zu beenden ist als der globale Hunger? Man müsste ja lediglich alle Kriegsparteien an den Verhandlungstisch zwingen. Tatsächlich erweist sich auch diese Hoffnung als trügerisch, wenn man an Putin und dessen bislang ungebrochenen Willen denkt, den Krieg fortzusetzen. Verglichen mit diesem derzeit fast aussichtlos wirkenden Verhängnis, könnte dem tagtäglichen Verhungern verhältnismäßig einfach entgegengetreten werden; es mangelt dazu lediglich an politischem Willen, das dafür notwendige Geld bereitzustellen.
Aus Sicht universeller Menschenrechte könnte kaum etwas dringlicher sein als die Pflicht der Staatenwelt, fast eine Milliarde Menschen vor dem Hungertod zu retten. Es mag sich noch immer nicht bis in die westliche Wohlstandswelt herumgesprochen haben, aber Menschenrechte sind Rechte aller Menschen weltweit.
Und die gemeinten Rechte auf Leben, Ernährung, Gesundheit sind den hierzulande oft priorisierten Freiheitsrechten mindestens ebenbürtig. Die Tatsache, dass deren Realisierung viel Geld kostet, tut deren Geltung keinen Abbruch. Auch kriegsbedingte Sanktionen und Interventionen oder aber der ökologische Umbau der Wirtschaft sind sehr teuer.
Im toten Winkel
Gerade wenn das Leiden fern ist, wenn die medial teilweise unverantwortlich gelenkten Aufmerksamkeitsspannen kurz sind und überdies die Nationalstaaten egoistisch agieren, brauchen wir beharrliche, supranationale Institutionen, die das Armutsproblem unbeirrt auf der Tagesordnung behalten. Das können beim jetzigen Stand allein die Institutionen einer schlagkräftig reformierten UNO sein.
Es sind die Vereinten Nationen, die Konsequenzen aus der Einsicht zu ziehen hätten, dass die weltweit am häufigsten zu beklagende Verletzung elementarer Menschenrechte die unterlassene Hilfe im Kampf gegen das Verhungern ist. Die Vereinten Nationen mögen angesichts des Krieges ein desaströses Bild abgeben. Aber wenn es um den globalen Schutz der Menschenrechte geht, ist ihre Weltinnenpolitik alles, was wir haben.