Die Castorf-Fans jubeln begeistert – zurecht
Die Salzburger Festspiele haben Frank Castorf mit seiner Adaption von Knut Hamsuns "Hunger" eingeladen. Die Rollen sind mit Stars des auseinander gefallenen Ensembles der Berliner Volksbühne besetzt – die Publikumsreaktionen sind wie gehabt gespalten.
Für ein Castorf-Festspiel kommen viele Ingredienzen zusammen, wenn er die beiden Romane Knut Hamsuns aus den Jahren 1890 und 1892 – "Hunger" und "Mysterien" – auf die Bühne bringt:
Zunächst natürlich die Schauspielerinnen und Schauspieler, die sich hier wie zu einem Klassentreffen gefunden zu haben scheinen! Sophie Rois, Marc Hosemann, Kathrin Angerer, Daniel Zielmann, Lars Rudolph, Lilith Stangenberg, der inzwischen 17-jährige Rocco Mylord ist auch wieder dabei – und zusätzlich Josef Ostendorf
Aber auch die Spielstätte, die alte industrielle Sudhalle der Altsaline Hallein auf der Pernerinsel, bereits Ort legendärer Inszenierungen von Peter Stein bis Luc Perceval, lässt Volksbühnen-Stimmung aufkommen.
Dann Aleksander Denic, der diesmal ein altes norwegisches Stadthaus aus Holz auf die Drehbühne gestellt hat, ein wenig mit vergilbter Werbung aus der Nazi-Zeit, etwa für Schokolade, Oetker-Pudding und Bier beklebt, in das man auch hier immer wieder Einblick in einzelne Zimmer über Live-Video gewinnt. Es gibt viele filmische Zitate, die auch durch den Musiksound, der fast alle Szenen untermalt, unterstrichen werden.
Und natürlich der Autor Knut Hamsun – nicht nur wegen der vor allem bei Ibsen-Aufführungen gezeigten Skandinavien-Liebe Castorfs. Hamsun ist einer jener oft radikalen rechten Intellektuellen, die vielfach tabuisiert, von Castorf in ihren Widersprüchen, aber in ihren oft auch sehr genauen existentiellen Erfahrungen ernst genommen werden, wie Celine, Bronnen, Malaparte. Nobelpreisträger. Hamsun hatte Hitler verehrt und war mit ihm 1943 in einem Gespräch auf dem von Salzburg nicht weit entfernten Obersalzberg zusammengetroffen.
Ein Wechsel der Innen- und Außenperspektive
Aber hat Hamsun Hitler nicht dort auch – den Schwerhörigen spielend – niedergeschrien? Besonders konsequent scheint bei Castorfs theatralischer Umsetzung der Vorlagen Hamsuns, dass sie damals, also um 1890 durchaus formal die Moderne vorwegnehmen. Bei beiden Romanen ist nämlich die Erzählperspektive oft vollkommen unklar, meist ein Bewusstseinsstrom des Hungernden, auch beim Helden von "Mysterien", dem immer wieder seinen Selbstmord auskostenden skurrilen, grellgelb gekleideten Fremdling Johann Nilsen Nagel, der sich selbst einen "Ausländer des Daseins" nennt.
Gerade diese Unklarheit macht die Vorlage theatralisch. Die Schauspieler wechseln nicht nur die Rollen, sondern ebenso auch die Innen- und Außenperspektive der Figuren. Und wieder besticht also, wie philologisch genau Castorf doch die Vorlage bei allem Extemporieren gelesen hat.
Bezug Hamsuns zu Hitler nicht überstrapaziert
Hunger als klarsichtiger Wahnsinn, Hunger als Halluzination, als existentielle Erfahrung ausgekostet, wie das Blut des eigenen Fingers als Nahrung. Ein theatralischer Zustand, der immer wieder bis zur extremen körperlichen Verausgabung und mit Verrenkungen exerziert wird. "Ein schmerzender Finger Gottes im Kopf, der ausgerechnet ihn getroffen habe", erklärt Josef Ostendorf zunächst.
Später wird sich vor allem Marc Hosemann eindrucksvoll in Hunger-Delirien verausgaben. Doch es gibt auch einen McDonald's-Laden, vor allem für die Kleinstädter aus "Mysterien", in Alexander Denic norwegischem Stadthaus fast ein nostalgischer Szeneladen. Auch Pommes frites und Würstchen treten als Figuren auf. Manchmal franst sicherlich der Abend in die Länge aus, denn statt der im Programmheft angegeben viereinhalb Stunden dauert die Premiere doch sechs Stunden. Viel Bonusmaterial also.
Der Bezug Hamsuns zu Hitler wird allerdings nicht überstrapaziert, dafür werden die missglückten Liebesabenteuer und sexuellen Annäherungen geradezu feinfühlig dargestellt. Sophie Rois ist in den unterschiedlichsten Haltungen zu sehen: mal spricht sie norwegisch, mal ist sie ein verkrüppelter alter Mann, dann der Liebhaber.
Zu den Castorf-Festspielen gehört vielleicht auch, dass sich nicht alle Zuschauer in den Sog der Castorf-Exaltationen begeben. Und genau das ist ein nostalgisches Castorf-Gefühl: Man fühlt sich an Publikumsreaktionen ehemals bei den Wiener Festwochen erinnert. Manche Reihen lichten sich sogar schon nach zwei Stunden, aber die Castorf-Fans jubeln am Schluss mit Recht begeistert!