Hunger und Proteste

Menschen im Libanon fordern grundlegenden Wandel

06:59 Minuten
Libanesische Sicherheitskräfte und protestierende Bürgerinnen und Bürger stehen sich Anfang Juli 2020 in Beirut gegenüber.
Libanesische Sicherheitskräfte und protestierende Bürgerinnen und Bürger stehen sich Anfang Juli 2020 in Beirut gegenüber. © Getty Images / Anadolu / Mahmut Geldi
Malte Gaier im Gespräch mit Ute Welty |
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Unmutsäußerungen vor Banken, Bäckereien und Geschäften: Die dramatische Versorgungskrise im Libanon beruhe auf strukturellen Problemen, sagt Malte Gaier, Leiter des Beiruter Büros der Adenauer-Stiftung. In der Politik herrsche aber Stillstand.
Ute Welty: Die Nachrichten aus dem Libanon sind mehr als beunruhigend. Schon Mitte Juni warnte die internationale Hilfsorganisation Care vor einer Eskalation der Hungerkrise dort. Care beruft sich auf Angaben des libanesischen Ministeriums für soziale Angelegenheiten und auf Angaben der Weltbank.
Danach hat aktuell mehr als die Hälfte der libanesischen Bevölkerung keinen oder einen nur sehr eingeschränkten Zugang zu Nahrung. Corona, Gesundheitskrise und Inflation haben dazu geführt, dass viele Lebensmittel für viele Familien unerschwinglich geworden sind.
Das alles ist Malte Gaier bekannt, er leitet das Büro Libanon für die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung. Was ist denn das größere Problem: Dass es nichts zu essen gibt oder dass die Menschen das Essen nicht bezahlen können?
Gaier: Das Problem ist natürlich, dass die steigenden Kosten für Grundversorgungsmittel wie Nahrung beispielsweise das Resultat einer derzeit sich beschleunigenden Krise, einer Währungs-, einer Bankenkrise sowie einer Wirtschafts- und Finanzkrise generell im Libanon sind.
Das heißt, wir sprechen hier von den ersten Erscheinungen einer strukturellen Krise, die auch schon seit Längerem absehbar war, die sichtbar wurde am 17. Oktober, als wir hier massive landesweite Proteste hatten und die sich durch die Auswirkungen von Corona noch beschleunigt hat und derzeit verstärkt voranschreitet.
Welty: Was tut die Regierung, um diese Prozesse aufzufangen?
Gaier: Derzeit haben wir es mit einer Regierung zu tun, die seit fünf Monaten im Amt ist. Dem gingen lange und zähe Verhandlungen über die genaue Zusammensetzung dieser Regierung voraus.
Unter anderem wurde im Oktober von den Demonstranten gefordert, eine sogenannte Technokraten-Regierung aufzustellen, sprich eine nicht korrupte, nicht den herkömmlichen und bekannten politischen Parteien angehörende Regierung, die die Krise konsolidieren sollte.
Derzeit sehen wir einen Stillstand, vor allem in den Verhandlungen mit dem IMF, es gab mittlerweile zehn Verhandlungsrunden. In diesen Runden hat man sich bislang jedoch weder auf die Gesamtsumme der Verluste insgesamt, also auf Seiten der Zentralbank, auf Seiten des staatlichen Haushalts einigen können. Man hatte ja verschiedene Angaben, man hat beispielsweise Angaben des Komitees für Finanzen, das von den offiziellen Angaben der Regierung wirklich in bedeutendem Maße abweicht.

Ruf nach neuen politischen Kräften

Welty: Das politische System im Libanon ist ja vor allem religiös sehr fein austariert. Hält das noch oder gerät diese Konstruktion ins Wanken?
Gaier: Diese Konstruktion, die man vielleicht als Balance der politischen Macht im Libanon bezeichnen kann, als Balance zwischen Konfessionen, ist auf jeden Fall ins Wanken geraten. Im Mai 2018, im Rahmen der letzten Parlamentswahlen, hatten wir schon erste Anzeichen, dass für viele Wähle im Libanon das bisherige System in dieser Form nicht mehr tragbar ist. In dieser, sprich so wie es jetzt die Nachkriegszeit seit 1990 bestimmt hat.
Wir hatten diese Forderung noch mal massiv in den ab Mitte Oktober wirkenden Protesten im Land, wo eine der Hauptforderungen der Demonstranten war, dass Politiker im Parlament sofort abtreten sollen und dass der Ruf nach neuen politischen Kräften laut wurde. Sprich, wir haben hier die Forderung nach einem deutlichen Bruch, nach einem grundlegenden Systemwandel im Libanon.
Welty: Wenn Menschen um ihre Basisversorgung fürchten müssen, dann sind extreme Reaktionen vorprogrammiert, das haben wir in Ägypten und auch in Syrien erlebt. Mit welchen Folgen rechnen Sie für den Libanon?
Gaier: Derzeit können wir in den letzten Wochen beobachten, dass Proteste in dieser Form – wie zum Beginn Oktober des letzten Jahres und dann noch mal verstärkt Ende letzten Jahres – nicht mehr stattfinden. Das mag auch damit zusammenhängen, dass die Proteste während der Zeit des Lockdown, wir sprechen hier von circa drei Monaten, fast nicht möglich waren, die Menschen sind zu Hause geblieben.
Das heißt, derzeit ist es auf den Straßen im breitesten Sinne ruhig. Das heißt nicht, dass es nicht zu Protesten kommt. Wir haben lokale, kleinere Ansammlungen von Demonstranten, es gibt immer wieder Unmutsäußerungen vor Banken, vor Bäckereien, vor Geschäften.
Wir gehen aber davon aus, wenn man sich den Libanon in seiner jetzigen Verfassung ansieht, dass wir im Verlauf der nächsten Monate, im Verlauf des nächsten Jahres mehr und mehr einem venezolanischen oder ähnlichen Szenario kommen – das geprägt sein wird von zunehmenden politischen Protesten, von sozialen, lokal begrenzten Unruhen, dass wir weiterhin keine Lösungsfindungsorientierung unter der politischen Elite haben und dass die Versorgungslage sich weiterhin verschlechtert.

Warten auf die US-Präsidentschaftswahl im November

Welty: Haben Sie überhaupt noch Hoffnung, dass sich diese Abwärtsspirale aufhalten lässt?
Gaier: Derzeit ist die Prognose in der Tat recht düster. Die Verhandlungen zwischen der aktuellen Regierung unter Premierminister Hassan Diab und dem IWF sind mehr oder weniger zum Stillstand gekommen. Es wird natürlich mit verschiedenen Zeithorizonten hierzulande gearbeitet. Immer wieder hört man, dass natürlich auf der globalen Ebene mit Blick auf die Rolle der USA in der Region die Präsidentschaftswahlen am 3. November eine entscheidende Rolle spielen werden.
Bis dahin, so sagen viele Libanesen, wird es im innenpolitischen Gerangel zwischen den politischen Kräften erst mal keine großen Veränderungen geben. Alles blickt gebannt auf den Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen und damit einhergehend auf die weiteren zu erwartenden Sanktionen gegen den Iran und seine Verbündeten in der Region, sprich gegen die Hisbollah im Libanon.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Hören Sie zur aktuellen Lage im Libanon auch den Bericht von Jürgen Stryjak:

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