"Hut ab" zur Aufarbeitung der Vergangenheit
Der Historiker Michael Wolffsohn begrüßt, dass der Bundesverband der Vertriebenen seine Vergangenheit hat aufarbeiten lassen. Dass so viele Präsidiumsmitglieder NS-belastet gewesen seien, überrasche ihn nicht.
Dieter Kassel: Als 1958 das erste Präsidium des Bundes der Vertriebenen zusammentrat, da hatten nur zwei der elf Mitglieder keine NS-Vergangenheit. So lautet eines der Ergebnisse der Studie "Funktionäre mit Vergangenheit". Der Bund der Vertriebenen hat diese Studie selbst in Auftrag gegeben, der Historiker Michael Schwartz vom Institut für Zeitgeschichte hat sie federführend verfasst. Und am Telefon begrüße ich jetzt dazu Michael Wolffsohn. Er ist emeritierter Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München und unter anderem Gründer der Forschungsstelle Deutsch-Jüdische Zeitgeschichte. Schönen guten Tag, Herr Wolffsohn!
Michael Wolffsohn: Guten Tag, Herr Kassel!
Kassel: Welchen Erkenntnis- oder Neuigkeitswert hat denn für Sie diese Studie?
Wolffsohn: Neuigkeitswert eigentlich gar nicht. Ich wäre überrascht, wenn es weniger NS-Belastete im Bund der Vertriebenen gegeben hätte. Aber machen wir uns nichts vor, es betrifft doch diese Frage in Bezug auf die NS-Vergangenheit nicht nur den Bund der Vertriebenen, sondern praktisch jede Organisation, die nach 1945/49 in der Bundesrepublik gegründet wurde. Adenauer hat das mal auf den Punkt gebracht: Das waren die Menschen, die wir hatten, andere gab es nicht! Das ist das Grundproblem gewesen und das Wunder der Bundesrepublik besteht darin, dass es eine so vorzüglich arbeitende Demokratie wurde.
Kassel: Mit ... Vorwurf ist vielleicht zu viel gesagt, aber mit der Bemerkung, das sei ja nicht überraschend und auch nicht anders als woanders, ist Michael Schwartz, der Autor der Studie, ja auch schon konfrontiert worden. Und er antwortet darauf dann eben, na ja, das sehe er nicht so, denn immerhin habe seine Studie ergeben, dass in keiner anderen Institution der frühen Bundesrepublik so viele Nazis in Führungspositionen gewesen wären wie beim BdV.
Wolffsohn: Auch da ist die Frage von "viele" eine Frage der Bewertung. Wir wissen aus anderen Studien etwa, Auswärtiges Amt und so weiter, und dann sollten wir mal auf den Makrobereich schauen: Meine Studien haben ergeben, dass 52 bis 53 Prozent wohlgemerkt der Deutschen, aller Deutschen, überzeugte zumindest Mitläufer des Nationalsozialismus gewesen wären. Also, das ist eine Richtgröße, und dann gibt es natürlich individuelle Ausschläge, zum einen. Zum anderen, dass im Bund der Vertriebenen bei den Vertriebenen überhaupt eher Rechtslastige zu finden waren, ist auch keine große Überraschung, denn die Grundannahme, die für die Bundesrepublik Deutschland galt - ich sag's mal, modern und bezogen auf den Nahostkonflikt etwa, Land für Frieden -, galt lange Zeit für die Vertrieben nicht.
Das ist wiederum aber einzuschränken, denn vergessen wir nicht, dass bereits 1950 die Vertriebenen auf die Anwendung von Gewalt verzichtet haben! Und wenn wir das in den historisch-internationalen Zusammenhang stellen, dann ist das beachtlich. Vergleichen Sie mal diese Position der deutschen Vertriebenen etwa mit den Palästinensern. Also, das muss man alles sehr differenziert sehen. Und ich sage nur: Hut ab, dass Frau Steinbach und ihr Verband den Mut hatten, eine solche Studie in Auftrag zu geben und die Vergangenheit aufarbeiten zu lassen.
Kassel: Ja, das ist ja so ein bisschen dieses Motto, was auch für die von Ihnen schon erwähnten anderen Studien der letzten Jahre gilt, besser spät als nie. Aber ich frage mich immer, Herr Wolffsohn, diese späte Aufarbeitung, hat die nicht auch einen Beigeschmack? Sie findet ja immerhin dann statt, wenn alle Protagonisten ja überwiegend tot, zumindest ohne Funktion sind, sie können sich nicht mehr wehren. Drehen wir den Stiefel um: Man kriegt auch keinen großen Ärger mehr mit solchen Veröffentlichungen.
Wolffsohn: Völlig richtig. Aber diese zustimmungspflichtige, würde ich schon sagen, Aussage hat auch eine andere Seite, und zwar nicht nur der Akteure - tot oder lebendig -, die untersucht werden, sondern auch bezogen auf die Historiker. Da wäre die Frage zu stellen, warum kommen denn meine Kollegen so spät auf den Gedanken, Verbände dieser Art einmal mehr anzusehen? Ich nenne Ihnen dafür einen der Gründe: Weil auch viele der mehr oder weniger progressiven Kollegen mit Lehrmeistern zu tun hatten, unter ihnen, mit ihnen arbeiteten, die auch - vorsichtig formuliert - NS-belastet waren.
Ein Paradebeispiel für diese Aussage ist Hans-Ulrich Wehler, sicherlich kein linker Historiker, sondern eher ein links ... kein rechter Historiker, sondern ein linksliberaler. Er war Schüler und Günstling von Theodor Schieder, der nicht nur NS-belastet war, sondern dunkelbraun gewesen ist. Und warum kamen er und seine Kollegen und Freunde niemals auf die Idee, einmal näher nachzuschauen, was dieser Herr gemacht hat? Also, auch hier, in Bezug auf die Aufarbeitung der eigenen Zunft, haben die Historiker versagt. Also, ja, es ist sehr spät, aber das betrifft nicht nur die Akteure, sondern das betrifft auch die Historiker, auch die Medien, die beispielsweise ohne Mühe das alles hätten aufarbeiten oder vorrecherchieren können. Also, wenn schon beurteilen und verurteilen, dann aber ganzheitlich!
Kassel: Aber aus dem, was Sie sagen, könnte man auch folgern: Der Grund, dass der BdV diese Studie so spät in Auftrag gegeben hat - der Auftrag erging 2007 -, könnte man schließen, da gab es vorher auch noch genug Leute, die kein Interesse an so einer Studie hatten!
Wolffsohn: Aber natürlich, das bestreite ich ja nicht. Umso besser, dass es Frau Steinbach jetzt gemacht hat. Aber das Gleiche ... Wie gesagt, wir müssen hier nicht mit, wir dürfen nicht mit zweierlei Maß messen. Das, was Sie sagen, ich stimme dem zu! Aber dann müssen Sie selbstkritisch als Historiker - ich habe über diese Felder nicht gearbeitet, man kann nicht alles bearbeiten -, dann muss sich die Historikerzunft, dann müssen sich auch die Journalisten die Frage stellen: Warum haben wir nicht recherchiert? Das hätte man locker herausbekommen können, auch ohne Dokumente, so intensiv auszuarbeiten, wie das der Kollege Schwartz vom Institut für Zeitgeschichte getan hat. Da hätten auch mündliche Interviews gereicht. - Nein, nein, also, nur mit dem Zeigefinger auf andere zu weisen, das ist nicht besonders hilfreich.
Kassel: Sie haben zum Anfang unsere Gesprächs gesagt, Herr Wolffsohn, Neuigkeitswert hat das für Sie keinen großen. Folgert daraus umgekehrt, es macht eigentlich auch historischer Sicht auch gar nicht mehr viel Sinn, das jetzt aufzuarbeiten?
Wolffsohn: Oh doch, wir wollen doch wissen, was war. Und das Interessante ist doch dann auch, wie sich eine Organisation weiterentwickelt hat, egal ob das der Bund der Vertriebenen oder der ADAC oder ein großes deutsches Unternehmen ist. Natürlich wollen wir das wissen, müssen wir das wissen. Ob das das Hauptthema ist, das ist eine andere Frage. Auch da muss man wiederum jetzt in Bezug auf die Forschungsschwerpunkte berücksichtigen, dass die Aufarbeitung des Dritten Reiches zunächst einmal auf der obersten Ebene angefangen hat, naturgemäß! Adolf Hitler war interessanter für die Aufarbeitung als irgendein Vertriebenen-Funktionär!
Kassel: Die Frage ist aber auch immer, wenn man so eine Studie auch noch selbst in Auftrag gibt und hat dann die Ergebnisse, wie geht man damit um? Ich möchte mal Erika Steinbach wörtlich zitieren an dieser Stelle: "Ein Millionenheer an Entwurzelten versuchte verzweifelt, wieder Grund unter die Füße zu kriegen, Organisationsstrukturen dafür gab es nicht. So ist es erklärlich, dass es Männer mit zuvor gesammelter organisatorischer Erfahrung waren, die das Heft in die Hand nahmen", Zitat Ende. Ist das eine ausreichende Reaktion auf diese Studie?
Wolffsohn: Das ist zumindest eine realistische Beschreibung, die nicht nur den Bund der Vertriebenen betrifft. Die betrifft auch viele Organisationen und Institutionen nach 1945/49, also der Gründung der Bundesrepublik überhaupt. Und dieses Problem kennen wir auch aus der Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung. Und wenn wir noch weiter in die Geschichte zurückgehen, aus dieser Zeit stammt das Wort Amnestie etwa, nämlich Vergessen, nämlich das alte Athen um das Jahr 400 vor Christus. Schon da stellte sich die Frage, wie gehen wir, die Unbelasteten, mit den zuvor Belasteten um? Umbringen können, wollen, werden wir sie nicht, auf der anderen Seite sind es funktionale Spezialisten, um nicht zu sagen Eliten, die wir brauchen. Das ist eine tragische Situation ...
Kassel: Aber gibt es nicht einen Unterschied: Es gibt ja doch ein weites Feld zwischen Umbringen und Zu-Funktionären-Machen. Die Vertriebenenverbände, auch der BdV, haben sich immer als Verbände von Opfern generiert, von Opfern der Vertreibung und damit aber indirekt oder gar nicht so indirekt auch von Opfern der Folgen des Zweiten Weltkriegs. Und wenn aber in diesen Verbänden Leute entscheidend waren, die zu den Leuten zählten, die den Zweiten Weltkrieg verursacht haben ... ?
Wolffsohn: Da haben Sie völlig recht, aber die haben ihn ja nun nicht verursacht, sondern an der Spitze waren nicht diese Funktionäre, die dann im Bund der Vertriebenen waren, sondern da gab es den engeren Kreis um Adolf Hitler. Also, es waren Mitläufer und Mittäter, auch da muss man unterscheiden. Nächste Unterscheidung, man muss differenzieren zwischen der Führungsebene jedes Verbandes und den Verbandsmitgliedern. Und da gab es natürlich unter den deutschen Vertriebenen Opfer. Es wäre ja töricht - und ich sage das ganz bewusst als jüdischer Deutscher -, es gab sehr viele unschuldige deutsche Opfer unter den deutschen Vertriebenen.
Und wenn ich als Jude Empathie, das heißt Einfühlungsvermögen, Einfühlungswillen erwarte von wem auch immer, dann muss ich das auch den Opfern gegenüber aufbringen, und unterscheide da zwischen alten Nazis und unschuldigen Opfern, selbstverständlich. Aber Verallgemeinerungen helfen uns da nicht weiter. Und ich kann nur noch einmal sagen, Hut ab erstens, dass diese Studie von diesem Verband in Auftrag gegeben wurde, und zweitens - ich bin Historiker auch des Nahen Ostens -, das, was die deutschen Vertriebenen mit dem Gewaltverzicht bereits 1950 geleistet haben, ist welthistorisch betrachtet für Vertriebene geradezu einmalig!
Kassel: Aber gehört dieser Teil der Geschichte, der nun durch diese Studie dokumentiert ist, nicht auch in die Arbeit der Zukunft? Sprich, zum Beispiel in die Arbeit der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung und einer möglichen Ausstellung?
Wolffsohn: Aber natürlich! Das, was war, muss benannt werden. Und das kann nicht beschönigt werden. Und gerade in dieser Gebrochenheit muss man sich mit der Geschichte auseinandersetzen, zeigen: Seht her, heute ist der Bund der Vertrieben bereit anzuerkennen, dass in dem eigenen Verband schlimme Fehler, auch schlimme Leute dabei waren, wir gehen einen anderen Weg! Das ist sozusagen immer der Maßstab im wörtlichen Sinne: Man misst sich an dem, was war, sind wir besser oder sind wir schlechter? Und erfreulicherweise kann man sagen, dass die Entwicklung, das Voranschreiten der Zeit eine Besserung gebracht hat.
Kassel: Sagt der Historiker Michael Wolffsohn über die Vergangenheit des Bundes der Vertriebenen und über die Belastung des ersten Präsidiums 1958. Das war der Kerngegenstand einer historischen Untersuchung, die unter dem Titel "Funktionäre mit Vergangenheit" kürzlich veröffentlicht wurde. Professor Wolffsohn, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Wolffsohn: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Michael Wolffsohn: Guten Tag, Herr Kassel!
Kassel: Welchen Erkenntnis- oder Neuigkeitswert hat denn für Sie diese Studie?
Wolffsohn: Neuigkeitswert eigentlich gar nicht. Ich wäre überrascht, wenn es weniger NS-Belastete im Bund der Vertriebenen gegeben hätte. Aber machen wir uns nichts vor, es betrifft doch diese Frage in Bezug auf die NS-Vergangenheit nicht nur den Bund der Vertriebenen, sondern praktisch jede Organisation, die nach 1945/49 in der Bundesrepublik gegründet wurde. Adenauer hat das mal auf den Punkt gebracht: Das waren die Menschen, die wir hatten, andere gab es nicht! Das ist das Grundproblem gewesen und das Wunder der Bundesrepublik besteht darin, dass es eine so vorzüglich arbeitende Demokratie wurde.
Kassel: Mit ... Vorwurf ist vielleicht zu viel gesagt, aber mit der Bemerkung, das sei ja nicht überraschend und auch nicht anders als woanders, ist Michael Schwartz, der Autor der Studie, ja auch schon konfrontiert worden. Und er antwortet darauf dann eben, na ja, das sehe er nicht so, denn immerhin habe seine Studie ergeben, dass in keiner anderen Institution der frühen Bundesrepublik so viele Nazis in Führungspositionen gewesen wären wie beim BdV.
Wolffsohn: Auch da ist die Frage von "viele" eine Frage der Bewertung. Wir wissen aus anderen Studien etwa, Auswärtiges Amt und so weiter, und dann sollten wir mal auf den Makrobereich schauen: Meine Studien haben ergeben, dass 52 bis 53 Prozent wohlgemerkt der Deutschen, aller Deutschen, überzeugte zumindest Mitläufer des Nationalsozialismus gewesen wären. Also, das ist eine Richtgröße, und dann gibt es natürlich individuelle Ausschläge, zum einen. Zum anderen, dass im Bund der Vertriebenen bei den Vertriebenen überhaupt eher Rechtslastige zu finden waren, ist auch keine große Überraschung, denn die Grundannahme, die für die Bundesrepublik Deutschland galt - ich sag's mal, modern und bezogen auf den Nahostkonflikt etwa, Land für Frieden -, galt lange Zeit für die Vertrieben nicht.
Das ist wiederum aber einzuschränken, denn vergessen wir nicht, dass bereits 1950 die Vertriebenen auf die Anwendung von Gewalt verzichtet haben! Und wenn wir das in den historisch-internationalen Zusammenhang stellen, dann ist das beachtlich. Vergleichen Sie mal diese Position der deutschen Vertriebenen etwa mit den Palästinensern. Also, das muss man alles sehr differenziert sehen. Und ich sage nur: Hut ab, dass Frau Steinbach und ihr Verband den Mut hatten, eine solche Studie in Auftrag zu geben und die Vergangenheit aufarbeiten zu lassen.
Kassel: Ja, das ist ja so ein bisschen dieses Motto, was auch für die von Ihnen schon erwähnten anderen Studien der letzten Jahre gilt, besser spät als nie. Aber ich frage mich immer, Herr Wolffsohn, diese späte Aufarbeitung, hat die nicht auch einen Beigeschmack? Sie findet ja immerhin dann statt, wenn alle Protagonisten ja überwiegend tot, zumindest ohne Funktion sind, sie können sich nicht mehr wehren. Drehen wir den Stiefel um: Man kriegt auch keinen großen Ärger mehr mit solchen Veröffentlichungen.
Wolffsohn: Völlig richtig. Aber diese zustimmungspflichtige, würde ich schon sagen, Aussage hat auch eine andere Seite, und zwar nicht nur der Akteure - tot oder lebendig -, die untersucht werden, sondern auch bezogen auf die Historiker. Da wäre die Frage zu stellen, warum kommen denn meine Kollegen so spät auf den Gedanken, Verbände dieser Art einmal mehr anzusehen? Ich nenne Ihnen dafür einen der Gründe: Weil auch viele der mehr oder weniger progressiven Kollegen mit Lehrmeistern zu tun hatten, unter ihnen, mit ihnen arbeiteten, die auch - vorsichtig formuliert - NS-belastet waren.
Ein Paradebeispiel für diese Aussage ist Hans-Ulrich Wehler, sicherlich kein linker Historiker, sondern eher ein links ... kein rechter Historiker, sondern ein linksliberaler. Er war Schüler und Günstling von Theodor Schieder, der nicht nur NS-belastet war, sondern dunkelbraun gewesen ist. Und warum kamen er und seine Kollegen und Freunde niemals auf die Idee, einmal näher nachzuschauen, was dieser Herr gemacht hat? Also, auch hier, in Bezug auf die Aufarbeitung der eigenen Zunft, haben die Historiker versagt. Also, ja, es ist sehr spät, aber das betrifft nicht nur die Akteure, sondern das betrifft auch die Historiker, auch die Medien, die beispielsweise ohne Mühe das alles hätten aufarbeiten oder vorrecherchieren können. Also, wenn schon beurteilen und verurteilen, dann aber ganzheitlich!
Kassel: Aber aus dem, was Sie sagen, könnte man auch folgern: Der Grund, dass der BdV diese Studie so spät in Auftrag gegeben hat - der Auftrag erging 2007 -, könnte man schließen, da gab es vorher auch noch genug Leute, die kein Interesse an so einer Studie hatten!
Wolffsohn: Aber natürlich, das bestreite ich ja nicht. Umso besser, dass es Frau Steinbach jetzt gemacht hat. Aber das Gleiche ... Wie gesagt, wir müssen hier nicht mit, wir dürfen nicht mit zweierlei Maß messen. Das, was Sie sagen, ich stimme dem zu! Aber dann müssen Sie selbstkritisch als Historiker - ich habe über diese Felder nicht gearbeitet, man kann nicht alles bearbeiten -, dann muss sich die Historikerzunft, dann müssen sich auch die Journalisten die Frage stellen: Warum haben wir nicht recherchiert? Das hätte man locker herausbekommen können, auch ohne Dokumente, so intensiv auszuarbeiten, wie das der Kollege Schwartz vom Institut für Zeitgeschichte getan hat. Da hätten auch mündliche Interviews gereicht. - Nein, nein, also, nur mit dem Zeigefinger auf andere zu weisen, das ist nicht besonders hilfreich.
Kassel: Sie haben zum Anfang unsere Gesprächs gesagt, Herr Wolffsohn, Neuigkeitswert hat das für Sie keinen großen. Folgert daraus umgekehrt, es macht eigentlich auch historischer Sicht auch gar nicht mehr viel Sinn, das jetzt aufzuarbeiten?
Wolffsohn: Oh doch, wir wollen doch wissen, was war. Und das Interessante ist doch dann auch, wie sich eine Organisation weiterentwickelt hat, egal ob das der Bund der Vertriebenen oder der ADAC oder ein großes deutsches Unternehmen ist. Natürlich wollen wir das wissen, müssen wir das wissen. Ob das das Hauptthema ist, das ist eine andere Frage. Auch da muss man wiederum jetzt in Bezug auf die Forschungsschwerpunkte berücksichtigen, dass die Aufarbeitung des Dritten Reiches zunächst einmal auf der obersten Ebene angefangen hat, naturgemäß! Adolf Hitler war interessanter für die Aufarbeitung als irgendein Vertriebenen-Funktionär!
Kassel: Die Frage ist aber auch immer, wenn man so eine Studie auch noch selbst in Auftrag gibt und hat dann die Ergebnisse, wie geht man damit um? Ich möchte mal Erika Steinbach wörtlich zitieren an dieser Stelle: "Ein Millionenheer an Entwurzelten versuchte verzweifelt, wieder Grund unter die Füße zu kriegen, Organisationsstrukturen dafür gab es nicht. So ist es erklärlich, dass es Männer mit zuvor gesammelter organisatorischer Erfahrung waren, die das Heft in die Hand nahmen", Zitat Ende. Ist das eine ausreichende Reaktion auf diese Studie?
Wolffsohn: Das ist zumindest eine realistische Beschreibung, die nicht nur den Bund der Vertriebenen betrifft. Die betrifft auch viele Organisationen und Institutionen nach 1945/49, also der Gründung der Bundesrepublik überhaupt. Und dieses Problem kennen wir auch aus der Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung. Und wenn wir noch weiter in die Geschichte zurückgehen, aus dieser Zeit stammt das Wort Amnestie etwa, nämlich Vergessen, nämlich das alte Athen um das Jahr 400 vor Christus. Schon da stellte sich die Frage, wie gehen wir, die Unbelasteten, mit den zuvor Belasteten um? Umbringen können, wollen, werden wir sie nicht, auf der anderen Seite sind es funktionale Spezialisten, um nicht zu sagen Eliten, die wir brauchen. Das ist eine tragische Situation ...
Kassel: Aber gibt es nicht einen Unterschied: Es gibt ja doch ein weites Feld zwischen Umbringen und Zu-Funktionären-Machen. Die Vertriebenenverbände, auch der BdV, haben sich immer als Verbände von Opfern generiert, von Opfern der Vertreibung und damit aber indirekt oder gar nicht so indirekt auch von Opfern der Folgen des Zweiten Weltkriegs. Und wenn aber in diesen Verbänden Leute entscheidend waren, die zu den Leuten zählten, die den Zweiten Weltkrieg verursacht haben ... ?
Wolffsohn: Da haben Sie völlig recht, aber die haben ihn ja nun nicht verursacht, sondern an der Spitze waren nicht diese Funktionäre, die dann im Bund der Vertriebenen waren, sondern da gab es den engeren Kreis um Adolf Hitler. Also, es waren Mitläufer und Mittäter, auch da muss man unterscheiden. Nächste Unterscheidung, man muss differenzieren zwischen der Führungsebene jedes Verbandes und den Verbandsmitgliedern. Und da gab es natürlich unter den deutschen Vertriebenen Opfer. Es wäre ja töricht - und ich sage das ganz bewusst als jüdischer Deutscher -, es gab sehr viele unschuldige deutsche Opfer unter den deutschen Vertriebenen.
Und wenn ich als Jude Empathie, das heißt Einfühlungsvermögen, Einfühlungswillen erwarte von wem auch immer, dann muss ich das auch den Opfern gegenüber aufbringen, und unterscheide da zwischen alten Nazis und unschuldigen Opfern, selbstverständlich. Aber Verallgemeinerungen helfen uns da nicht weiter. Und ich kann nur noch einmal sagen, Hut ab erstens, dass diese Studie von diesem Verband in Auftrag gegeben wurde, und zweitens - ich bin Historiker auch des Nahen Ostens -, das, was die deutschen Vertriebenen mit dem Gewaltverzicht bereits 1950 geleistet haben, ist welthistorisch betrachtet für Vertriebene geradezu einmalig!
Kassel: Aber gehört dieser Teil der Geschichte, der nun durch diese Studie dokumentiert ist, nicht auch in die Arbeit der Zukunft? Sprich, zum Beispiel in die Arbeit der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung und einer möglichen Ausstellung?
Wolffsohn: Aber natürlich! Das, was war, muss benannt werden. Und das kann nicht beschönigt werden. Und gerade in dieser Gebrochenheit muss man sich mit der Geschichte auseinandersetzen, zeigen: Seht her, heute ist der Bund der Vertrieben bereit anzuerkennen, dass in dem eigenen Verband schlimme Fehler, auch schlimme Leute dabei waren, wir gehen einen anderen Weg! Das ist sozusagen immer der Maßstab im wörtlichen Sinne: Man misst sich an dem, was war, sind wir besser oder sind wir schlechter? Und erfreulicherweise kann man sagen, dass die Entwicklung, das Voranschreiten der Zeit eine Besserung gebracht hat.
Kassel: Sagt der Historiker Michael Wolffsohn über die Vergangenheit des Bundes der Vertriebenen und über die Belastung des ersten Präsidiums 1958. Das war der Kerngegenstand einer historischen Untersuchung, die unter dem Titel "Funktionäre mit Vergangenheit" kürzlich veröffentlicht wurde. Professor Wolffsohn, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Wolffsohn: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.