Jens Ebert (Hg.): Vom Augusterlebnis zur Novemberrevolution. Briefe aus dem Weltkrieg 1914-1918
Wallstein, Göttingen 2014
394 Seiten, 29,90 EUR
Der große Krieg der kleinen Leute in Briefen
Der Autor Jens Ebert hat in deutschen und österreichischen Archiven etwa 20.000 Briefe aus den Jahren 1914-18 gesichtet. Darunter nicht nur solche von Soldaten, sondern auch von Müttern, Ehefrauen, Krankenschwestern. Sie erlauben einen anderen Blick auf das Weltkriegsgeschehen.
Briefe aus dem Weltkrieg müssen nicht nur Briefe von der Front sein, um zu kapieren, was Krieg bedeutet. Das, vor allem, lernt man aus diesem Band. Wenn Ehefrauen und Brüder, Mütter und Krankenschwestern schreiben, dann ist das ein anderer Krieg als der uns aus der Literatur und Büchern scheinbar bekannte.
Außerdem schreiben zwischen 1914 und 1918 zum ersten Mal nicht nur Menschen aus den gebildeten Schichten Briefe. In diesem Band stehen auch Lebenszeichen von Menschen, die bisher nicht gezwungen waren, sich schriftlich zu äußern.
Der große Krieg der kleine Leute, der in diesen Briefen beschrieben wird, ist kein Schlachtengemälde, sondern ein Puzzle, das sich aus vielen kleinen, manchmal banalen Mitteilungen zusammensetzt. Jens Ebert hat dafür in deutschen und österreichischen Archiven etwa 20.000 Briefe gesichtet. Mit manchmal überraschenden Erkenntnissen, wie der, dass viele Soldaten gar nicht an der Front gewesen sind, sondern in der Etappe. Die Wahrheit über diesen Krieg ist schrecklicher und banaler zugleich.
Befremdlicher und anrührender Ton
Wenn ein Bursche an den Vater seines Leutnants, einen Professor, schreibt, und die letzten Stunden und Tage seines Leutnants im Lazarett schildert, dann ist der unterwürfige Ton des Briefes für moderne Leser befremdlich und anrührend zugleich.
Oder der Brief, den zwei Diakonissen - Margarete Ackermann und Marie Nock - 1915 über die entsetzliche erste Nachtschicht in einer Cholera-Station an ihre Oberin in Salem schreiben:
"Alles kroch auf dem Boden herum. Von jedem Bett, wo die Schwerkranken lagen, liefen Bäche von Flüssigkeiten den Saal entlang, sie hatten noch ihre Uniformen an + wälzten sich auf der Erde. Die einen brachen, die anderen hatten Krämpfe + schrien + stöhnten, andere waren sterbend, welche schrien nach Wasser. Nachdem nun die 1. Nachtwache zu Ende + wir einen Blick in diese Arbeit getan hatten, war uns eigenartig zu Mut. Wir hatten sozusagen mit dem Leben abgeschlossen. 'Du', sagte die eine zur andern, 'hier kommen wir wohl nicht mehr lebendig heraus'."
Man wundert sich, dass solche Beschreibungen nicht der Zensur zum Opfer gefallen sind. Und erfährt vom Herausgeber in einem sehr informativen Nachwort, dass deutsche Briefschreiber zwar erwarteten, dass Vorgesetzte und Postboten ihre Briefe lasen, eine Briefzensur aber offenbar kaum fürchteten.
Anders als in Österreich, wo schon im Juli 1914 das Kriegsüberwachungsamt sogar die zivile Post kontrollierte, wurde in Deutschland erst 1916 die deutsche Feldpost zensiert, mittels Stempelaufdruck und Schwärzung. Bei Postsperren in Österreich-Ungarn wurden Karten gedruckt, auf denen stand: "Ich bin gesund und es geht mir gut". Mehr durfte dann nicht mitgeteilt werden.
Trotzdem finden sich immer wieder Verstöße dagegen. Von Missständen, Schikanierung, der miesen Versorgungslage, den "Feinden", die als normale Menschen beschrieben werden, all das liefert ein quasi inoffizielles Bild vom Krieg.
Das Töten wird verschwiegen
Der Tod indes ist so allgegenwärtig, dass die Soldaten immer mehr dagegen abstumpfen, ihn kaum berichtenswert finden. Nur selten wird der Horror des Krieges so klar und knapp beschrieben, wie von dem Schriftsteller Paul Zech:
"18 Stunden verschüttet, im Blutgeruch von 6 toten Kameraden gelegen."
Das Töten indes bleibt fast vollständig verschwiegen. Geradezu exotisch wirken dagegen die Briefe von Kriegsgefangenen, die einen Hauch weiter Welt in die Provinz bringen, wenn sie - wie der Wiener Karl Hartel - aus dem zentralasiatischen Taschkent schreiben.
Erstaunlich bleibt, dass der "große Krieg der kleinen Leute" zwar "Zwischen Augusterlebnis und Novemberrevolution" stattfand, beides aber viel weniger in den Briefen vorkommt, als man hätte annehmen können. Die Briefe zeichnen die Weltkriegsjahre 1914 bis 1918 grellfarbiger und grautoniger zugleich.
Die Briefschreiber und Adressaten kommen aus einer uns fernen Welt mit oft fremden oder gar befremdlichen Sichtweisen – aber durch die Briefe kommen sie uns paradoxerweise nahe.