Ian Kershaw: "Hitlers Freunde in England"
Ian Kershaws Buch "Hitlers Freunde in England" werden die deutsch-englischen Beziehungen in den Dreißigern dargestellt. Auch geht es um die Versuche von hochrangigen britischen Vertretern, Freundschaft mit Hitler und seinem Regime schließen zu wollen. Es ist ein melancholisches Buch - wegen des guten Willens, der Deutschland auch dann noch entgegen gebracht wurde, als es in die Hände eines Verbrechers gefallen war.
Ein wenig ist es wie bei uns. Was der Pesthauch Hitlers gestreift, hat ist verdammt. Und wie sich in Deutschland konservative Eliten, adelige Verschwörer und skeptische Diplomaten immer von neuem ihre vermeintliche Nähe zu nationalsozialistischem Gedankengut vorhalten lassen müssen, so war in England viele Jahre lang die Appeasement-Politik in ein moralisches Loch gefallen - verderblich für das Land und unmoralisch gegenüber seinen Menschen.
Noch der ebenso kluge wie schöne Film "Was vom Tage übrig blieb" nach dem Roman von Kazuo Ishiguro mit Anthony Hopkins und Emma Thompson in den Hauptrollen bemüht das antisemitische Klischee, um das Falsche, Verheerende jeder Nachgiebigkeit gegenüber Deutschland zu illustrieren.
Appeasement, das war Verrat, Kryptofaschismus, das Böse schlechthin. Doch schon Lord Darlingtons Begründung für sein Verhalten im Film - der deutsche Freund auf der anderen Seite des Schützengrabens in Flandern rückt diese Politik in ein anderes Licht, in das pazifistische Zwielicht des "Nie wieder". In England sind in den letzten Jahren immer wieder differenzierende Untersuchungen zu dem Thema erschienen, dass durch Churchills selbstzerstörerischen Sieg über Hitler nicht beendet, sondern nur um ein paar Jahre hinausgeschoben wurde. Martin Gilberts Porträt der Appeaser, Andrew Roberts Lebensbeschreibung von Lord Halifax, einem der führenden Repräsentanten dieser Politik und die Darstellung der intellektuellen Coterie des Cliveden Set um Times und Observer und die Astors von Norman Rose sind dem Buch von Ian Kershaw vorausgegangen, das unter dem Titel "Hitlers Freunde in England – Lord Londonderry und der Weg in den Krieg" in diesen Tagen in deutscher Übersetzung erschienen ist.
Es ist ein melancholisches Buch, nicht der verpassten Gelegenheiten wegen, die es mit Hitler nie gab, sondern des guten Willens wegen, der Deutschland auch dann noch entgegen gebracht wurde, als es in die Hände eines Verbrechers gefallen war. Lord Londonderry ist keine strahlende Erscheinung, vielmehr die politische wie ästhetische Verkörperung der Tristesse der Zwischenkriegszeit. Ein kluger Beobachter hat einmal über die englischen Staatsmänner jener Epoche bemerkt: "Auf den Cricketplätzen von Cambridge und Oxford konnte man sehen, dass dieses Land seine Kraft eingebüßt hat." Diese zugespitzte Formulierung enthält einen wahren Kern. Die führenden Staatsmänner der Zwischenkriegszeit sind für uns heute graue Figuren ohne Ausstrahlung, ohne ästhetischen Reiz. MacDonald, Baldwin, Hoare, Halifax, Neville Chamberlain und Lord Londonderry wirken gedrückt und missmutig, man würde sie eher für kleinbürgerliche Geschäftsleute, denn für Repräsentanten eines Weltreiches halten.
Aus diesem Reigen grauer Gestalten fallen nur die Persönlichkeiten heraus, die schon vor 1914 eine Rolle spielten: Balfour, Curzon, Lloyd George und Churchill. Doch Balfour und Curzon waren alt und krank, Lloyd George und Churchill in der politischen Wildnis. Das England der Zwischenkriegszeit spiegelt sich in jener Geschichte, die man sich von dem ersten Kriegsminister einer Labour-Regierung, Tom Shaw, erzählte: Als einer seiner Beamten die Zustimmung des Ministers zu einer dringenden Maßnahme im Gefolge der Unterdrückung von Unruhen in Palästina einholen wollte, entgegnete sein Privatsekretär am Telefon: "Tom Shaw ist ein Pazifist und wünscht nicht, irgend etwas mit Krieg oder militärischen Operationen zu tun zu haben." Zu dieser Stimmungslage passt der berühmte Beschluss der Oxford-Union aus dem Jahre 1933: "Dieses Haus wird unter keinen Umständen für König und Vaterland kämpfen."
Die beherrschende Persönlichkeit dieser wenig glanzvollen Epoche britischer Geschichte war Stanley Baldwin und Lord Londonderry für einige Jahre sein Minister für die Luftrüstung. Es bleibt bei Ian Kershaw offen, ob Londonderry am Ende ein guter oder ein schlechter Minister war. Auf der einen Seite hat er – wenn auch zaghaft – die Wiederaufrüstung begonnen und als 1940 die Spitfires und Hurricanes zum Überleben der Insel notwendig waren, haben sich manche daran erinnert, dass es Londonderry war, der die Ersten auf Kiel gelegt hat. Auf der anderen Seite war der Aristokrat kein Kämpfer und folglich auch nicht in der Lage, dem pazifistischen Trend zu widerstehen, der am liebsten ohne Kampfflugzeuge ausgekommen wäre.
Als er sich dann noch gegen Abrüstungsvereinbarungen zu Lasten der Bomberflotte stellte, da Bombardements in entfernten Ecken des Weltreiches ein ebenso adäquates wie preiswertes Pazifizierungsinstrument waren, ließ ihn Baldwin fallen – so stark war der Aufschrei einer heuchlerischen Öffentlichkeit selbst in der konservativen Partei. Letztlich scheiterte der Nachfahre Lord Castlereaghs, einst Vertreter Englands auf dem Wiener Kongress, an einem Zielkonflikt der britischen Politik: Entweder musste man den deutschen Revisionsbestrebungen nachgeben oder so aufrüsten, dass man Hitler widerstehen konnte, in den Worten Londonderrys:
"Es gibt drei Möglichkeiten. Die erste ist, dass es uns gelingt, die Deutschen in hilfreiche Partner im Weltenplan zu verwandeln, die zweite ist, dass wir, falls die erste scheitern sollte, aufgrund unserer Kenntnis des Vorgehens der Deutschen in der Lage sein sollten, ihre feindlichen Handlungen unschädlich zu machen ; und die dritte ist, dass die Welt das wahre Gesicht der Deutschen erkennen wird, falls sie, wie manche glauben, entschlossen sein sollten, aggressiv aufzutreten und die Teilnehme am friedlichen Einvernehmen der Völker abzulehnen."
Dass Londonderry nach seinem Hinauswurf aus der Regierung auch menschliche Gründe hatte zu glauben, er könne bei Hitler das erreichen, was Regierung und Foreign Office offensichtlich nicht vermochten, macht sein Handeln noch nicht falsch, aber sehr unklug. Innerhalb eines Jahres sollte er in Berlin die Gastfreundschaft der Spitzen des NS-Regimes genießen, sich lange mit Hitler unterhalten, als Görings Gast auf dessen Landsitz Carinhall weilen und seinerseits in seinem Heim in Nordirland in der Gestalt Joachim von Ribbentrops einen führenden Nationalsozialisten empfangen, über dessen Besuch eine Zeitung unter der Schlagzeile "Hakenkreuz über Ulster" berichtete. Londonderry wurde, So Ian Kershaw, zum prominentesten Mitglied der deutschen Lobby in England und ein führender Appeaser.
Das Ergebnis all dieser Bemühungen ist bekannt. Und deshalb ist es auch einfach nach Auschwitz und Millionen Kriegstoten alles für falsch zu halten. Doch das stellte sich damals anders dar. Die Anhänger einer Appeasement-Politik wussten längst, dass Versailles ein Fehler war und ein weiterer Krieg nicht nur die aristokratische Lebensform, sondern alles, wofür sie standen, das Empire und die angelsächsische Weltzivilisation, zerstören würde. Aber sich wussten nicht, dass auf der anderen Seite mit Hitler eine welthistorische Erscheinung die Macht in Händen hielt, der es nicht auf Ausgleich, Wiedergutmachung, ein starkes Deutschland und ein paar Kolonien ankam, sondern auf die Zerstörung und Vernichtung der Welt, wie sie sie kannten, ein Wahnsinniger, der den Untergang einer Rasse und ein germanisches Reich plante. Wie viele deutsche Wähler verstanden diese wohlmeinenden Aristokraten Hitlers Antriebe nicht und so war alles falsch, was gegenüber der Weimarer Republik, ja vielleicht sogar gegenüber einer so sinistren Figur wie Hermann Göring richtig und möglich gewesen wäre.
Appeasement, so das Urteil Kershaws, war nicht an sich falsch, Appeasement war falsch gegenüber einem Mitspieler, der jede politische Rationalität längst hinter sich gelassen hat. Nicht die Deutschen in Böhmen und Danzig beschäftigten Hitler, sondern die Vernichtung des Judentums und der slawischen Rasse. Erst spät, zu spät, begriff Londonderry etwas von seinem Gegenüber. Als nach der Katastrophe in Frankreich Verhandlungswünsche im Unterhaus laut wurden, und eine Friedenslobby sich auch an ihn um Unterstützung wandte, erwiderte er:
"Ich muss bedauerlicherweise feststellen, dass unsere gut gemeinten Bemühungen eine Einstellung der Feindseligkeiten zu erreichen fehlschlagen müssen. Die ganze Einstellung der deutschen Regierung ist derart nichtswürdig und empörend, dass ich keine andere Alternative sehe, als eben jenen Kurs zu unterstützen, den wir zu verhindern suchten, und dass ein Frieden geschaffen werden muss, in welchem die deutsche Fähigkeit, Böses zu tun, ein für alle Mal zerstört sein wird."
Aber da war es längst sein Cousin, der unbeugsame Churchill, der die britische Politik bestimmte und die Chamberlains, Londonderrys und Halifax’ in den Hintergrund gedrängt hatte. Churchill, der seine Kraft und seine Überzeugungen aus dem untergegangenen aristokratischen Zeitalter schöpfte, war der flackernden Genialität des wurzellosen Kleinbürgers Hitler gewachsen. Für Churchill war alles einfach. Hier war das protestantische England der ersten Elisabeth, das England seines Vorfahren John Churchill, des großen Herzogs von Marlborough, das England der Whig-Aristokraten mit seinen freiheitlichen Institutionen. Und dort war das Deutschland Hitlers, die Tyrannei des Bösen, die Wiederholung Philipps von Spanien und Ludwigs XIV. in fürchterlicher amoralischer Gestalt. Da gab es nichts zu bedenken, da gab es nichts zu wägen, da gab es nur Kampf bis zum Sieg, auch wenn dieser Sieg das britische Reich zu Tode erschöpfen und seinen Abschied von der Geschichte bedeuten sollte. Für Churchill konnte es zwischen dem Licht der Freiheit und dem Dunkel der Tyrannei keinen Kompromiss geben. Wenn England die Fackel der Freiheit nicht mehr halten konnte, dann musste es sie weitergeben, an Amerika, die neue Vormacht der angelsächsischen Weltzivilisation. Londonderry wollte Frieden mit Hitler, weil er den Stafettenwechsel fürchtete, Churchill führte Krieg ohne Furcht, weil er – tragischer Seher – von der Unvermeidlichkeit dieses historischen Prozesses überzeugt war.
Als Londonderry 1947 starb, schrieb der konservative Politiker Channon in sein Tagebuch:
"Auf lange Sicht wird sich herausstellen, dass er politisch Recht hatte. Er hat immer gesagt, dass es nur zwei mögliche Kurse für uns gebe: Entweder mit Deutschland Freundschaft zu schließen oder, wenn das unmöglich ist, aufzurüsten. Wir haben weder das eine, noch das andere getan und die Folge war der Krieg."
Als er drei Tage später nach dem Gedenkgottesdienst für Londonderry aus der Westminsterabtei kam, hörte Channon, wie Arthur Henderson, der Luftfahrtminister in der Labourregierung sagte: "Vielleicht hat Londonderry von Anfang an Recht gehabt." Darauf erwiderte Channon: "Natürlich hatte er das." Hitler zu begreifen fällt zivilisierten Engländern offenbar auch heute noch schwer.
Zurückgeblieben ist aus dieser Zeit einzig eine Porzellanstatuette eines SS-Mannes, die noch immer auf dem Kaminsims in Londonderrys ehemaligen Arbeitszimmer auf Mount Stewart in Nordirland steht – Ribbentrops Gastgeschenk aus Anlass seines Besuches dort im Jahre 1936. Durch sie wurde Kershaw zu diesem höchst lesenswerten Buch angeregt.
Ian Kershaw: Hitlers Freunde in England – Lord Londonderry und der Weg in den Krieg
Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005.
Noch der ebenso kluge wie schöne Film "Was vom Tage übrig blieb" nach dem Roman von Kazuo Ishiguro mit Anthony Hopkins und Emma Thompson in den Hauptrollen bemüht das antisemitische Klischee, um das Falsche, Verheerende jeder Nachgiebigkeit gegenüber Deutschland zu illustrieren.
Appeasement, das war Verrat, Kryptofaschismus, das Böse schlechthin. Doch schon Lord Darlingtons Begründung für sein Verhalten im Film - der deutsche Freund auf der anderen Seite des Schützengrabens in Flandern rückt diese Politik in ein anderes Licht, in das pazifistische Zwielicht des "Nie wieder". In England sind in den letzten Jahren immer wieder differenzierende Untersuchungen zu dem Thema erschienen, dass durch Churchills selbstzerstörerischen Sieg über Hitler nicht beendet, sondern nur um ein paar Jahre hinausgeschoben wurde. Martin Gilberts Porträt der Appeaser, Andrew Roberts Lebensbeschreibung von Lord Halifax, einem der führenden Repräsentanten dieser Politik und die Darstellung der intellektuellen Coterie des Cliveden Set um Times und Observer und die Astors von Norman Rose sind dem Buch von Ian Kershaw vorausgegangen, das unter dem Titel "Hitlers Freunde in England – Lord Londonderry und der Weg in den Krieg" in diesen Tagen in deutscher Übersetzung erschienen ist.
Es ist ein melancholisches Buch, nicht der verpassten Gelegenheiten wegen, die es mit Hitler nie gab, sondern des guten Willens wegen, der Deutschland auch dann noch entgegen gebracht wurde, als es in die Hände eines Verbrechers gefallen war. Lord Londonderry ist keine strahlende Erscheinung, vielmehr die politische wie ästhetische Verkörperung der Tristesse der Zwischenkriegszeit. Ein kluger Beobachter hat einmal über die englischen Staatsmänner jener Epoche bemerkt: "Auf den Cricketplätzen von Cambridge und Oxford konnte man sehen, dass dieses Land seine Kraft eingebüßt hat." Diese zugespitzte Formulierung enthält einen wahren Kern. Die führenden Staatsmänner der Zwischenkriegszeit sind für uns heute graue Figuren ohne Ausstrahlung, ohne ästhetischen Reiz. MacDonald, Baldwin, Hoare, Halifax, Neville Chamberlain und Lord Londonderry wirken gedrückt und missmutig, man würde sie eher für kleinbürgerliche Geschäftsleute, denn für Repräsentanten eines Weltreiches halten.
Aus diesem Reigen grauer Gestalten fallen nur die Persönlichkeiten heraus, die schon vor 1914 eine Rolle spielten: Balfour, Curzon, Lloyd George und Churchill. Doch Balfour und Curzon waren alt und krank, Lloyd George und Churchill in der politischen Wildnis. Das England der Zwischenkriegszeit spiegelt sich in jener Geschichte, die man sich von dem ersten Kriegsminister einer Labour-Regierung, Tom Shaw, erzählte: Als einer seiner Beamten die Zustimmung des Ministers zu einer dringenden Maßnahme im Gefolge der Unterdrückung von Unruhen in Palästina einholen wollte, entgegnete sein Privatsekretär am Telefon: "Tom Shaw ist ein Pazifist und wünscht nicht, irgend etwas mit Krieg oder militärischen Operationen zu tun zu haben." Zu dieser Stimmungslage passt der berühmte Beschluss der Oxford-Union aus dem Jahre 1933: "Dieses Haus wird unter keinen Umständen für König und Vaterland kämpfen."
Die beherrschende Persönlichkeit dieser wenig glanzvollen Epoche britischer Geschichte war Stanley Baldwin und Lord Londonderry für einige Jahre sein Minister für die Luftrüstung. Es bleibt bei Ian Kershaw offen, ob Londonderry am Ende ein guter oder ein schlechter Minister war. Auf der einen Seite hat er – wenn auch zaghaft – die Wiederaufrüstung begonnen und als 1940 die Spitfires und Hurricanes zum Überleben der Insel notwendig waren, haben sich manche daran erinnert, dass es Londonderry war, der die Ersten auf Kiel gelegt hat. Auf der anderen Seite war der Aristokrat kein Kämpfer und folglich auch nicht in der Lage, dem pazifistischen Trend zu widerstehen, der am liebsten ohne Kampfflugzeuge ausgekommen wäre.
Als er sich dann noch gegen Abrüstungsvereinbarungen zu Lasten der Bomberflotte stellte, da Bombardements in entfernten Ecken des Weltreiches ein ebenso adäquates wie preiswertes Pazifizierungsinstrument waren, ließ ihn Baldwin fallen – so stark war der Aufschrei einer heuchlerischen Öffentlichkeit selbst in der konservativen Partei. Letztlich scheiterte der Nachfahre Lord Castlereaghs, einst Vertreter Englands auf dem Wiener Kongress, an einem Zielkonflikt der britischen Politik: Entweder musste man den deutschen Revisionsbestrebungen nachgeben oder so aufrüsten, dass man Hitler widerstehen konnte, in den Worten Londonderrys:
"Es gibt drei Möglichkeiten. Die erste ist, dass es uns gelingt, die Deutschen in hilfreiche Partner im Weltenplan zu verwandeln, die zweite ist, dass wir, falls die erste scheitern sollte, aufgrund unserer Kenntnis des Vorgehens der Deutschen in der Lage sein sollten, ihre feindlichen Handlungen unschädlich zu machen ; und die dritte ist, dass die Welt das wahre Gesicht der Deutschen erkennen wird, falls sie, wie manche glauben, entschlossen sein sollten, aggressiv aufzutreten und die Teilnehme am friedlichen Einvernehmen der Völker abzulehnen."
Dass Londonderry nach seinem Hinauswurf aus der Regierung auch menschliche Gründe hatte zu glauben, er könne bei Hitler das erreichen, was Regierung und Foreign Office offensichtlich nicht vermochten, macht sein Handeln noch nicht falsch, aber sehr unklug. Innerhalb eines Jahres sollte er in Berlin die Gastfreundschaft der Spitzen des NS-Regimes genießen, sich lange mit Hitler unterhalten, als Görings Gast auf dessen Landsitz Carinhall weilen und seinerseits in seinem Heim in Nordirland in der Gestalt Joachim von Ribbentrops einen führenden Nationalsozialisten empfangen, über dessen Besuch eine Zeitung unter der Schlagzeile "Hakenkreuz über Ulster" berichtete. Londonderry wurde, So Ian Kershaw, zum prominentesten Mitglied der deutschen Lobby in England und ein führender Appeaser.
Das Ergebnis all dieser Bemühungen ist bekannt. Und deshalb ist es auch einfach nach Auschwitz und Millionen Kriegstoten alles für falsch zu halten. Doch das stellte sich damals anders dar. Die Anhänger einer Appeasement-Politik wussten längst, dass Versailles ein Fehler war und ein weiterer Krieg nicht nur die aristokratische Lebensform, sondern alles, wofür sie standen, das Empire und die angelsächsische Weltzivilisation, zerstören würde. Aber sich wussten nicht, dass auf der anderen Seite mit Hitler eine welthistorische Erscheinung die Macht in Händen hielt, der es nicht auf Ausgleich, Wiedergutmachung, ein starkes Deutschland und ein paar Kolonien ankam, sondern auf die Zerstörung und Vernichtung der Welt, wie sie sie kannten, ein Wahnsinniger, der den Untergang einer Rasse und ein germanisches Reich plante. Wie viele deutsche Wähler verstanden diese wohlmeinenden Aristokraten Hitlers Antriebe nicht und so war alles falsch, was gegenüber der Weimarer Republik, ja vielleicht sogar gegenüber einer so sinistren Figur wie Hermann Göring richtig und möglich gewesen wäre.
Appeasement, so das Urteil Kershaws, war nicht an sich falsch, Appeasement war falsch gegenüber einem Mitspieler, der jede politische Rationalität längst hinter sich gelassen hat. Nicht die Deutschen in Böhmen und Danzig beschäftigten Hitler, sondern die Vernichtung des Judentums und der slawischen Rasse. Erst spät, zu spät, begriff Londonderry etwas von seinem Gegenüber. Als nach der Katastrophe in Frankreich Verhandlungswünsche im Unterhaus laut wurden, und eine Friedenslobby sich auch an ihn um Unterstützung wandte, erwiderte er:
"Ich muss bedauerlicherweise feststellen, dass unsere gut gemeinten Bemühungen eine Einstellung der Feindseligkeiten zu erreichen fehlschlagen müssen. Die ganze Einstellung der deutschen Regierung ist derart nichtswürdig und empörend, dass ich keine andere Alternative sehe, als eben jenen Kurs zu unterstützen, den wir zu verhindern suchten, und dass ein Frieden geschaffen werden muss, in welchem die deutsche Fähigkeit, Böses zu tun, ein für alle Mal zerstört sein wird."
Aber da war es längst sein Cousin, der unbeugsame Churchill, der die britische Politik bestimmte und die Chamberlains, Londonderrys und Halifax’ in den Hintergrund gedrängt hatte. Churchill, der seine Kraft und seine Überzeugungen aus dem untergegangenen aristokratischen Zeitalter schöpfte, war der flackernden Genialität des wurzellosen Kleinbürgers Hitler gewachsen. Für Churchill war alles einfach. Hier war das protestantische England der ersten Elisabeth, das England seines Vorfahren John Churchill, des großen Herzogs von Marlborough, das England der Whig-Aristokraten mit seinen freiheitlichen Institutionen. Und dort war das Deutschland Hitlers, die Tyrannei des Bösen, die Wiederholung Philipps von Spanien und Ludwigs XIV. in fürchterlicher amoralischer Gestalt. Da gab es nichts zu bedenken, da gab es nichts zu wägen, da gab es nur Kampf bis zum Sieg, auch wenn dieser Sieg das britische Reich zu Tode erschöpfen und seinen Abschied von der Geschichte bedeuten sollte. Für Churchill konnte es zwischen dem Licht der Freiheit und dem Dunkel der Tyrannei keinen Kompromiss geben. Wenn England die Fackel der Freiheit nicht mehr halten konnte, dann musste es sie weitergeben, an Amerika, die neue Vormacht der angelsächsischen Weltzivilisation. Londonderry wollte Frieden mit Hitler, weil er den Stafettenwechsel fürchtete, Churchill führte Krieg ohne Furcht, weil er – tragischer Seher – von der Unvermeidlichkeit dieses historischen Prozesses überzeugt war.
Als Londonderry 1947 starb, schrieb der konservative Politiker Channon in sein Tagebuch:
"Auf lange Sicht wird sich herausstellen, dass er politisch Recht hatte. Er hat immer gesagt, dass es nur zwei mögliche Kurse für uns gebe: Entweder mit Deutschland Freundschaft zu schließen oder, wenn das unmöglich ist, aufzurüsten. Wir haben weder das eine, noch das andere getan und die Folge war der Krieg."
Als er drei Tage später nach dem Gedenkgottesdienst für Londonderry aus der Westminsterabtei kam, hörte Channon, wie Arthur Henderson, der Luftfahrtminister in der Labourregierung sagte: "Vielleicht hat Londonderry von Anfang an Recht gehabt." Darauf erwiderte Channon: "Natürlich hatte er das." Hitler zu begreifen fällt zivilisierten Engländern offenbar auch heute noch schwer.
Zurückgeblieben ist aus dieser Zeit einzig eine Porzellanstatuette eines SS-Mannes, die noch immer auf dem Kaminsims in Londonderrys ehemaligen Arbeitszimmer auf Mount Stewart in Nordirland steht – Ribbentrops Gastgeschenk aus Anlass seines Besuches dort im Jahre 1936. Durch sie wurde Kershaw zu diesem höchst lesenswerten Buch angeregt.
Ian Kershaw: Hitlers Freunde in England – Lord Londonderry und der Weg in den Krieg
Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005.