Ian McEwan

Die Macht des Märtyrers

Eine Ärztin hält einen Beutel mit Erythrozyten-Konzentrat - im Volksmund "Blutkonserve" genannt - in einem Operationssaal des Universitätsklinikums Münster.
Eine Ärztin in einem Operationssaal hält einen Beutel mit Erythrozyten-Konzentrat - im Volksmund "Blutkonserve" genannt. © dpa / Friso Gentsch
Von Wolfgang Schneider |
In Ian McEwans "Kindeswohl" arbeitet die Richterin Fiona Maye an einem heiklen Fall: Ein 17-Jähriger - Anhänger der Zeugen Jehovas und leukämiekrank - verweigert die lebensrettende Bluttransfusion. Er will als Märtyrer sterben. Eine feiner Roman über religiösen Fanatismus.
Richter gehören zum festen Figurenbestand der Kriminalliteratur. Dort machen sie meist nicht die beste Figur. Ganz anders im neuen, novellenhaft schlanke Roman des britischen Autors Ian McEwan: "Kindeswohl" bietet das ebenso sensible wie sachkundige Porträt einer Richterin am Londoner High Court, mit anregenden Fachgesprächen und Falldiskussionen, wobei die Beschreibungen der verwahrlosten Milieus, aus denen die meisten Fälle des Familiengerichts stammen, starke Kontraste zum kulturbürgerlichen Habitat der Londoner Juristen bildet: Man liebt Literatur und Musik, veranstaltet Kammerkonzerte.
Unbefriedigter Ehemann fordert Recht auf Affäre
Während Fiona Mayes juristischer Alltag mit dem Elend der Welt und vielfältigen Formen der Kindesmisshandlung zu tun hat, bietet ihr die Ehe mit dem Geschichtsprofessor Jack einen privilegierten Schonraum. Doch plötzlich probt der Sechzigjährige den Aufstand: Nach sieben Wochen ohne Sex fordert er die Lizenz für eine leidenschaftliche Affäre mit einer jungen Statistikerin. Einmal wolle er noch richtig auf seine Kosten kommen, denn "für ein Leben nach dem Tod fehlt meines Wissens bislang jeder Beweis" – womit die religiöse Motivik des Buches angeschlagen ist.
Ist es das Ende einer dreißigjährigen guten Ehe? Muss Fiona fortan die hochrangigen Einladungen ausschlagen, bei denen sie immer als Paar aufgetreten sind? Während im Hintergrund die Ehekrise im abgesicherten Modus verläuft, lenkt sich Fiona von ihrer Wut und Verlassenheitspanik mit beruflichen Pflichten ab: Ein kurz vor der Volljährigkeit stehender Zeuge Jehovas, an Leukämie erkrankt, verweigert die lebensrettende Bluttransfusion und bereitet sich auf den Märtyrertod vor.
Juristin überzeugt mit Empathie
Dieser heikle Fall des siebzehnjährigen Adam Henry steht im Zentrum des Romans. Fiona hat zu entscheiden, ob eine Zwangstransfusion anzuordnen sei. McEwan gibt den Vertretern des Jehova-Standpunktes, dem Anwalt und vor allem dem Vater Adams, starke Auftritte, so dass sich Fiona genötigt sieht, vor ihrer Entscheidung noch ein Gespräch mit dem Jungen selbst im Krankenhaus zu führen. Durch ihre kluge Empathie kann sie Adam für sich gewinnen, auch wenn er sich zunächst weiter gegen die Transfusion wehrt. Einige Zeit später aber dankt er ihr für die Rettung seines Lebens, für die Befreiung aus dem Sektenglauben und dem narzisstischen Märtyrerwahn.
Nur: Seine Verehrung für Fiona wird zudringlich. Immer wieder sucht er Rat und Gespräch bei ihr, womöglich mehr. Für Fiona, die Karrierefrau mit dem Phantomschmerz der Kinderlosigkeit, kommt zur heimischen Verwirrung der Gefühle die berufliche. Bald schleichen sich in ihr Verhältnis zu Adam ersatzmütterliche, womöglich erotische, auf jeden Fall wenig sachdienliche Gefühle ein. Sie weist den charmanten und begabten Wirrkopf ab und treibt ihn zurück in die Fänge der Sekte – und zum dramatischen Ende des Buches.
Ein Buch am Puls der Zeit
Als Autor, der in seiner Prosa unaufdringlich den Puls der Zeit zu tasten versucht, widmet sich McEwan der wachsenden Spannung zwischen säkularer Zivilgesellschaft und religiösem Fundamentalismus. "Kindeswohl" ist angesiedelt zwischen hohem, elegantem Novellenton und problemorientiertem TV-Drama. Ein feines Stück literarischer Kammermusik, das durch Expertise, gute Beobachtungen, treffende Formulierungen, und die subtile Darstellung der Hauptfigur überzeugt.

Ian McEwan: Kindeswohl. Roman
Aus dem Englischen von Werner Schmitz
Diogenes 2015
224 Seiten, 21,90 Euro