Ian McEwan: "Lektionen"

Ein Übermaß an Familienkonflikten

05:38 Minuten
Auf dem Cover ist eine farbige Druckgrafik abgebildet, dass einen jungen in Knickerbockern und Weste am Klavier sitzend zeigt. Darunter Autorenname und Buchtitel.
© Diogenes Verlag

Ian McEwan

Übersetzt von Bernhard Robben

LektionenDiogenes, Zürich 2022

714 Seiten

32,00 Euro

Von Rainer Moritz · 29.09.2022
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Das Leben eines Familienvaters birgt reichlich Enttäuschungen. Ian McEwan erzählt davon entlang der politischen Zeitgeschichte, von einer Jugend in den 60ern bis ins Alter im Corona-Lockdown. Das ist stellenweise meisterhaft.
Dass der Brite Ian McEwan zu den großen europäischen Schriftstellern zählt, ist kein Geheimnis. Allein mit Büchern wie „Der Zementgarten“ oder „Abbitte“ hat er sich nicht nur in den Kanon der englischen Literatur eingeschrieben.
Zuletzt freilich legte er mit „Nussschale“ oder „Die Kakerlake“ Romane vor, die mit ihrem zwanghaften Streben nach Originalität kaum zu überzeugen wussten. Nun scheint McEwan mit seinem umfangreichsten Roman „Lektionen“ seine Zweifler Lügen strafen zu wollen.
Und ja, das Buch schließt in gewisser Weise an so großartige Werke wie „Saturday“ an und versucht, in Variationen der Frage nachzugehen, inwieweit politische Ereignisse das Leben der Einzelnen prägen.

Plötzlich alleinerziehender Vater

Roland Baines – wie sein Autor 1948 geboren – heißt McEwans Protagonist, dessen Leben über Jahrzehnte hinweg bis zu den Corona-Lockdowns nachgezeichnet wird. Was diesem Mann, der weder als Pianist noch als Dichter, noch als Tennisspieler die in ihn gesetzten Hoffnungen erfüllt, an Schlüsselerlebnissen, an „Lektionen“ widerfährt, ist untrennbar mit der Zeitgeschichte verbunden.

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Gleich zu Anfang – wir sind im Frühjahr 1986, als das Reaktorunglück von Tschernobyl Europa in Angst und Schrecken versetzt – macht sich Rolands Frau Alissa auf und davon, den gemeinsamen, knapp einjährigen Sohn Lawrence zurücklassend und einen Zettel mit wenigen lapidaren Zeilen: „Ich habe das falsche Leben gelebt.“

Missbrauch durch Klavierlehrerin

Alissa, eine Deutsche, sieht sich in ihrer Ehe eingeschnürt und ihres künstlerischen Potenzials beraubt. Erst nach der jähen Trennung von ihrer Familie kommt sie zu sich und feiert eine glanzvolle Schriftstellerkarriere. Ja, hätte es nicht Herta Müller gegeben – so eine charmante Randnotiz des Romans – wäre Alissa Eberhardt sogar für den Nobelpreis gehandelt worden.
Der Preis für ihren Weg, so scheint es, liegt darin, sich von (Ex-)Mann und Sohn dauerhaft fernzuhalten.
Nicht minder entscheidend für Rolands Vita ist ein Ereignis, das 1962 seinen Anfang nimmt. Während die Kuba-Krise dem Vierzehnjährigen Todesangst einflößt, begibt er sich hilf- und wehrlos in die Fänge seiner gut zehn Jahre älteren Klavierlehrerin Miriam Cornell. Diese verführt den davon sowohl peinlich berührten als auch sexuell faszinierten Jungen und macht ihn quasi zu ihrem Liebessklaven.
Erst Jahrzehnte später geht die Polizei dem offensichtlichen Missbrauch nach und befragt Roland in dieser „strafrechtlichen Angelegenheit“. Dieser indes ist sich unsicher, ob er seine ehemalige Lehrerin ans Messer liefern soll. Er weiß, wie prägend sie für ihn trotz allem war.

Starke Figurenkonflikte

„Lektionen“ ist ein ausufernder Roman, der ein Übermaß an Familienkonflikten ausbreitet und sein Grundthema – den Zusammenhang von Privaten und Politischem – oft schablonenartig durchspielt.
Der Widerstand der „Weißen Rose“, der Falkland-Krieg, die Amtszeit Margaret Thatchers, der Niedergang und das Wiedererstarken der Labour-Party, der Fall der Berliner Mauer und der naive Glauben, dass dieser zu einem goldenen, friedlichen europäischen Zeitalter führe – all das fächert der Roman unterschiedlich überzeugend auf.
Seine Stärken hat er paradoxerweise nicht, wenn es um solche politische „Lektionen“ geht. Grandios sind jene Passagen, wenn McEwan seine Figuren in all ihren Widersprüchen und Verletzlichkeiten gnadenlos aufeinanderprallen lässt.
Wenn er die nicht nur vom Alter gezeichneten Ehepartner Alissa und Roland ein letztes Mal zusammenbringt, wenn Lawrence sich aufmacht, seine Mutter zu besuchen, und schroff abgewiesen wird, oder wenn Roland seine zweite Frau Daphne in den (Krebs-)Tod begleitet. Das sind meisterhafte Erzählstücke in einem Roman mit Schwächen und Längen.
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