Ian McEwan, "Nussschale"
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
Diogenes-Verlag, 2016
288 Seiten, 22,00 Euro
Vorlauter Fötus
In seinem Roman "Nussschale" über einen Mord aus Habgier steht als Ich-Erzähler ein naseweiser Fötus im Mittelpunkt der Handlung. Allerdings höre man allzu deutlich den Autor und engagierten Zeitgenossen Ian McEwan heraus, meint unsere Kritikerin.
Seit seinem Welterfolg "Abbitte" (2001) ist Ian McEwan beliebt bei Lesern wie bei Kritikern. Seither verpackt er mit psychologischem Scharfsinn gerne die großen gesellschaftspolitischen Themen in seine Romane. In "Nussschale" erzählt er ein scheinbar privates Kammerspiel – aus ungewöhnlicher Perspektive. Ein Fötus im achten Monat meldet sich aus dem Mutterbauch zu Wort. Zwei Wochen vor seiner Geburt protokolliert er, was er dort hört, was er fühlt, was er sich zurechtreimt.
Spannend ist das erstmal, weil er Mitwisser eines Mordkomplotts wird. Die werdende Mutter plant mit ihrem Liebhaber, dem Bruder ihres Ehemannes, ebendiesen umzubringen. Der, ein erfolgloser Verleger und verträumter Lyriker, soll den Weg freimachen, damit die Hinterbliebenen an sein Erbe kommen, einen runtergekommenen Kasten in allerbester Londoner Innenstadtlage.
Ohnmächtig muss der Knirps miterleben, wie die Verschwörer ihren Plan in die Tat umsetzen. Dabei hat er seinen Hamlet parat und schwört schon mal Rache für den vergifteten Vater – des Mottos eingedenk, das McEwan seinem Roman voranstellt: "O Gott, ich könnte in eine Nussschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermesslichem Gebiete halten, wenn nur meine bösen Träume nicht wären".
Abgesehen von Shakespeare und dessen Dramen gehört auch Laurence Sternes "Tristram Shandy" zu McEwans Stichwortgebern, dieser erste aller Ich-Erzähler aus dem Mutterbauch, der sogar bei seiner Zeugung zugegen war. Der Spaß des Autors an der Absurdität seiner Konstruktion, wirkt bis heute nach. Er stattet sie mit allen Finessen eines gewitzten Freigeistes aus.
Erzähler als Sprachrohr des Autors
McEwans Ohrenzeuge an der Plazentawand verdankt sein weltumspannendes Wissen nicht nur den Gesprächsintrigen seiner Mutter, sondern auch deren Schlaflosigkeit, die sie mit Radiohören überbrückt. So weiß er alles über das Liebesleben der Yamomi, über Joyce und Babys hinter Gittern. Er kennt die Krisenherde der Welt, zitiert Roland Barthes und Konfuzius, und dank des Alkoholkonsums der Verschwörerin am Küchentisch, vermag er zielsicher Pouilly Fumé von einem Supermarkt-Sancerre zu unterscheiden.
So komisch dieser rundum gebildete Erzähler auch ist, wenn er alle Gesetze der Wahrscheinlichkeit außer Kraft setzt, so bleibt er am Ende doch ein Sprachrohr seines Autors. Allzu deutlich merkt man die Einlassungen des engagierten Zeitgenossen McEwan, egal ob es um Flüchtlingskrise, Klimakatastrophe, die Verteilung von Wohlstand und Armut geht. Selbst wenn dem Genderwahn schön sarkastisch zu Leibe gerückt wird, sieht man den warnenden Zeigefinger. Auch die sorglos zusammengebastelte Handlung, die holzschnittartigen Figuren mindern das Vergnügen an dieser Parabel über Habgier, die über Leichen geht, empfindlich.
Als Kommentar zur Welt, die aus den Fugen ist, taugt der Roman nur bedingt. Aber er ist eine wunderbare Hommage – an das Radio. Dem Medium, das jedem, egal in welcher Lebenslage, die ganze Welt ins Ohr zu zaubern vermag.