Ian Morris: "Beute, Ernte, Öl. Wie Energiequellen Gesellschaften formen"
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2020
432 Seiten, 26 Euro
Mit dem Pflug kam das Patriarchat
05:38 Minuten
"Jedes Zeitalter hat die Werte, die es braucht", sagt der Archäologe Ian Morris. Er hat ein anregendes und unterhaltsames Buch über die Geschichte der Menschheit geschrieben - in dem er sich auch ausführlich mit seinen Kritikern auseinandersetzt.
"Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral" hat Berthold Brecht gedichtet - und diesen Satz zitiert Ian Morris quasi als Zusammenfassung seiner Theorie. Der britische Archäologe hält sich nicht mit Details auf, in seinem neuen Buch zeichnet er das ganz große Bild: die Entwicklung der Menschheit in drei Stufen.
In der ersten wurde gejagt und gesammelt. "Die Wildbeuterei stellt die Menschen vor Aufgaben, die sich am besten durch flache Hierarchien und ein gehöriges Maß an Gewalt lösen ließen", schreibt Morris. Sie waren ständig unterwegs, die Anhäufung von Besitz war daher sinnlos - und so entstand eine Gesellschaft der Gleichgestellten.
Hierachien galten als gottgegeben
Anders bäuerliche Dörfer, Städte, Staaten: Sie holten deutlich mehr Energie aus dem Acker. Allerdings zu einem hohen Preis: Knochenarbeit, Patriarchat, klare Hierarchien kennzeichneten diese zweite Entwicklungsstufe. Die Hierachien galten selbst den Armen als gottgegeben.
Die dritte und letzte Stufe, die durch die Verbrennung von Kohle und Öl gekennzeichnet ist, liefert noch einmal mehr Energie, kurbelt die Wirtschaft an - und die braucht Abnehmerinnen und Abnehmer, Verbraucher. So lohnte es sich, sie für Arbeit zu bezahlen.
"In weniger als zehn Generationen wurden politische, wirtschaftliche und geschlechtsspezifische Hierarchien nicht mehr positiv, sondern negativ bewertet", schreibt Ian Morris.
Das alles klingt plausibel und zugleich doch auch vereinfacht holzschnittartig. Das finden auch die, die Morris' Thesen widersprechen – und genau mit deren Positionen setzt sich der Autor ausfühlich im zweiten Teil seines interessanten und sehr lesenswerten Buches auseinander.
Die Zukunft wird andere Werte benötigen
In dieser Debattenstruktur liegt der große Reiz von "Beute, Ernte, Öl". Ian Morris wird vorgeworfen, die Vielfalt der Geschichte zu lebloser Statistik einzudampfen, die Werte der Herrschenden zu verteidigen oder zu behaupten, die Taliban machten sich "keiner moralischen Verfehlungen schuldig".
"Jedes Zeitalter hat die Werte, die es braucht, und das Zeitalter, das talibanartige Werte brauchte, ist zu Ende", kontert Morris im dritten und letzten Kapitel mit der Überschrift "Meine korrekten Ansichten zu allem".
Da gewinnt das Buch erneut an Fahrt und es wird endlich klar, wie viele freie individuelle Entscheidungen zu unterschiedlichen Zeiten fast zwangsläufig zu sehr verschiedenen kollektiven Vorstellungen kondensieren.
So kann am Schluss sich jede Leserin, jeder Leser im Abwägen der Argumente eine eigene Meinung bilden. Das ist anregend, unterhaltsam und schärft den Blick auf die Zukunft, denn die wird andere Formen der Energieproduktion und damit andere Werte benötigen.