"Ich bin die Mark durchzogen“

Von Jörn Klare |
Mit mehr als 5000 Seiten sind die "Wanderungen durch die Mark Brandenburg", veröffentlicht zwischen 1862 und 1889, das umfangreichste Werk Theodor Fontanes. Der Schriftsteller beschreibt die Geschichte der Region zwischen Elbe und Oder ohne Pathos. Mit viel Sympathie und Gespür für den Zauber der kleinen Dinge erzählt er von ihren Bewohnern. "Das Beste, dem du begegnen wirst, werden die Menschen sein." So weisen die ersten Zeilen Fontanes die ersten Schritte des Reporters.
"Ich bin die Mark durchzogen und habe sie reicher gefunden, als ich zu hoffen gewagt hatte."

August-Bebel-Straße, Neuruppin. Ortstermin im städtischen Museum, einem klassizistischer Prachtbau. In seinem geräumigen Büro zitiert Museumsdirektor Hansjörg Albrecht Theodor Fontane.

"Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen."

"Das habe ich an mir selber erfahren und die ersten Anregungen zu diesen 'Wanderungen durch die Mark' sind mir auf Streifereien in der Fremde gekommen. Die Anregungen wurden Wunsch, der Wunsch wurde Entschluss."

Albrecht - Mitte vierzig, kurzes Haar, wacher Geist - legt das Buch zur Seite. Fontane 1819, zwei Straßen weiter von hier geboren, ist der berühmte "Sohn" des 30.000-Einwohnerstädtchens im brandenburgischen Landkreis Ostprignitz-Ruppin.

"Er war ja enorm unterwegs. Und vor dem Hintergrund ist schon interessant, wie er praktisch seine Weltläufigkeit ummünzt, und aus einem journalistischen Modus heraus eine Schreibe findet. Geschichte und Region in seiner unmittelbaren Heimat so zu erzählen, wie er das tut."

Albrecht lehnt sich zurück. Seit drei Jahren lebt der gebürtige Bayer in Neuruppin.

"Also gerade die 'Wanderungen' kann man heute auch noch lesen, und es ist mitnichten, es ist mitnichten Heimatliteratur. Da tümelt nichts, es ist immer feine Ironie. Man kann es rein aus sprachästhetischen Gesichtspunkten heraus einfach auch für schöne, gute Literatur halten."

Die "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" so der Originaltitel. Fünf Bände, ein paar tausend Seiten, zwischen 1862 und 1889 erschienen. Es geht um Schlösser und Klöster, Siedlungen und Landschaften, Geschichte und Geschichten von Menschen der Mark Brandenburg. Ausführlich erwähnt wird auch eine insgesamt eher kuriose Sammlung die bis heute den Grundstock des Museums in Neuruppin stellt. Albrecht lächelt - stolz.

"Der Umstand, dass er sie in den Wanderungen beschreibt, ist natürlich für ein Museum ein Glücksfall, der auch den geneigten Fontaneleser immer wieder überrascht, wenn er hier den Weg ins Museum findet. Wir haben sozusagen die Realien zu einem Stück Literatur."

Rauf in den ersten Stock. Albrecht mit großen Schritten auf der Holztreppe.

"Wir befinden uns jetzt hier in dem Fontanezimmer, hier im Museum. Hier wird auf die Person, auf die Familie Fontanes eingegangen und insbesondere auf den Teil des Werks, der sich hier mit der Region beschäftigt - also die 'Wanderungen'."

Ein heller Raum, große Fenster, Parkettboden. Die Möbel stammen aus der Zeit Fontanes - nicht aus seinem Besitz. Mit einer Ausnahme. Albrecht zeigt drauf.

"Das ist die Wanduhr, die im Arbeitszimmer Fontanes in seinem Arbeitszimmer in Berlin tatsächlich getickt hat und die sechs Generationen im Besitz der Familie Fontane war. Das ist schon ein ganz besonders Stück, wenn man bedenkt: Dieses Ticken hat Fontane auch gehört. Das ist charmant, das ist außergewöhnlich."

Die schlichte Uhr mannshoch aus hellem Holz. Sie geht genau. Der Museumsdirektor grinst.

"Wenn man so will, wenn man das jetzt pointiert überspitzen will: Hier kann man nicht nur sehen, wie es bei Fontane getickt hat, sondern, wie es ins einem Arbeitszimmer getickt hat - sehen und hören."

Der Blick - raus auf die Stadt. Klassizistische Fassaden, zwei, höchstens drei Stockwerke in hellblau, ockerfarben, lindgrün. Sehr sauber. Zwei Straßenkehrer sorgen dafür, dass das so bleibt. Neuruppin ist, so Albrecht, eine glückliche Stadt.

"Das erste Mal richtig Glück gehabt hat sie, dass sie zum richtigen Zeitpunkt abgebrannt ist, dass Friedrich der Große gerade unter der Erde war und dass sein Nachfolger Friedrich Wilhelm II., ein junger ehrgeiziger König, tief in die Schatulle gegriffen hat - und man hier also planstädtisch aufgebaut hat in einer absolut einzigartigen Weise.

Man hat Glück gehabt, dass man keine Kriegszerstörungen im Zweiten Weltkrieg hinnehmen musste. Die Stadt ist unzerstört geblieben. Die Stadt hat auch Glück gehabt, dass der Mauerfall 1989 gerade zur rechten Zeit kam, dass die Stiftung Denkmalschutz gegründet wurde. Da ist sehr, sehr viel Geld geflossen."

Blick auf die Kopfsteinpflasterstraße. Ein Briefträger kommt vorbei. Provinzielle, entspannte Geschäftigkeit unter grauem Himmel. Die Stadt ist, neben Potsdam, die einzige im Land Brandenburg, die nicht schrumpft.

"Ich als - ich muss jetzt die Anführungszeichen verbal mit dazu setzen - ich als Wessi, als geborener Wessi, der viele Kleinstädte in Westdeutschland kenne: Da können andere Kommunen vor Neid erblassen - wenn man sieht, was man hier für Potential und Möglichkeiten hat."

"Aber was sind die Londoner Blätter im Vergleich zu jenen kolorierten Blättern, die aus dieser kleinen Ruppiner Offizin hervorgehen?"

Albrecht neben einer der Audiosäule mit Fontane-Zitaten - in diesem Fall zu den legendären Bilderbögen von Gustav Kühn.

"Was ist der Ruhm der Times gegen die zivilisatorische Aufgabe des Ruppiner Bilderbogens?"

"Er hat mit seinen 'Wanderungen' Land und Leute näher gebracht - davon profitiert die Region heute immer noch. Auf der anderen Seite war er ein großer Ironiker und er hat sich natürlich auch lustig gemacht über diese brandenburgische Kleinstadt, die so groß daherkommt mit ihren breiten Straßen."

Albrechts Augen blinzeln vergnügt. Von draußen dringt ein wenig Verkehrslärm herein.

"Und diese großen breiten Straßen kannte er natürlich auch - und hat sich in den 'Wanderungen' darüber ausgelassen, also: 'Die Stadt wirke wie ein auf Auswuchs geschneiderter Rock, in den man nie ganz hineinwachsen könne'. 'Die Plätze so groß, dass die Altvorderen darauf ganze Städte hätten errichten können.'"

Fontanes Ironie - Albrecht schätzt sie ganz besonders. Trotzdem …

"Aber auf der anderen Seite hat er sich natürlich auch sehr liebevoll mit Region, Land und Leuten auseinandergesetzt. Und man ist, glaube ich, schon auch dahingehend besonders stolz, dass er auch die Region beschrieben hat und das Selbstverständnis, die Identität, die kollektive Identität rekrutiert zum Teil auch schon auf Fontane - ganz klar."

Blick auf die Uhr. Im Büro wartet viel Arbeit. Zum Abschied - quasi zum Geleit - noch ein paar Zeilen aus den "Wanderungen".

"Wer in der Mark reisen will, der muss zunächst Liebe zu 'Land und Leuten' mitbringen, mindestens keine Voreingenommenheit. Er muss den guten Willen haben das Gute gut zu finden, anstatt es durch krittlige Vergleiche tot zu machen."

"Hallo? Wir kommen jetzt mal zu zweit hoch, ja?"
"Ja."
"Schön."

Eine enge Wendeltreppe. Aufstieg mit Jens Schröder. Ortsbürgermeister von Hakenberg, einem Stadtteil von Fehrbellin, Neuruppins Nachbargemeinde. Schauplatz der Schlacht von 1675. 5600 Brandenburger besiegen die doppelte Anzahl Schweden. Der Startschuss für die Entwicklung Brandenburg-Preußens zur europäischen Großmacht. Dementsprechend ist die dazugehörige Siegessäule stolze 36 Meter hoch.

"Du bist ja schon dünn."
"Ja, ja."
"Wenn du die Treppe dreimal rauf und runter läufst am Tag, dann …"
"Dann pustest du ganz schön."
"Das ist die Frau Frank: Das ist eine der guten Seelen hier, die hier immer sauber machen und draußen den Park in Schuss halten."

Schröder, Anfang 40, Jeans, Fleecejacke, sportliche Lederschuhe - vorbei an der kräftigen, besenbewehrten Frau Frank.

"Ich hab' die Tür oben zugemacht. Da scheißen die Vögel nachts immer."
"Ah ja. Na gut."
"Die scheißen da druff, weeste?"
"Ok. Das war deutlich."
"170 Stufen."

Die Schritte werden ein wenig langsamer. Selbst 170 Stufen haben irgendwann ein Ende.

"Aber der Ausblick entschädigt."

Unter einer goldenen Siegesgöttin, der Viktoria, eine kleine Plattform mit großer Aussicht. Das Ländchen Bellin - Wälder, Weiden und Alleen. Eine Straße, ein paar Häuser - Hakenberg. Gut 260 Menschen - Tendenz sinkend. Schröder ist wieder bei Atem und hat ein Buch in der Hand. Zum schönen Blick, ein paar schöne Sätze aus den "Wanderungen".

"Zunächst erreicht man das Dorf Tornow, dann das Dorf Hakenberg, wo das Höhenterrain beinahe senkrecht in das Luch hinein abfällt. In unmittelbarer Nähe des letztgenannten Dorfes fand das berühmte Reitergefecht statt, das indes, zum Glück für alle preußischen Poeten, statt des Namens 'Gefecht bei Hakenberg', den schönen Namen der 'Schlacht von Fehrbellin' erhalten hat."

Ortsbürgermeister Schröder - im Hauptberuf Immobilienmakler - schüttelt den Kopf. "Schlacht bei Hakenberg" gefällt ihm besser. Überhaupt - das schrumpfende Dörfchen liegt ihm am Herzen. Sein Blick, die Hoffnung geht Richtung Berlin beziehungsweise ins Umland der gut 60 Kilometer entfernten Hauptstadt.

"Wenn man den Prognosen Glauben schenken darf, ist es ja so, dass der Speckgürtel wächst. In Brandenburg geht ja in der Peripherie alles zurück, und der Speckgürtel wächst."

Schröder wischt sich die letzten Schweißtropfen von der Stirn. Sein politischer Einsatz gilt einer besseren, direkteren Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr.

"Wenn man des schafft, dann könnte man die Brücke schaffen, an den Speckgürtel ran. Da hängt es dran.

Wenn man weiter hochfährt Richtung Wittstock oder Küritz, da begegnet man, wenn man über die Straßen fährt, wirklich nur alten Leuten. Ohne das jetzt negativ zu sehen. Es sind wirklich nur alte Leute da.

Wunderschöne restaurierte Städte, aber da sind keine Leute mehr. Da fehlt das Lebendige. Das ist eigentlich schade dann. Aber man kann es nicht verdenken, weil die Leute einfach auch leben können müssen, ja. Und Leben heißt nicht nur schöne Straßen, sondern auch Geld verdienen. "

Wieder 170 Stufen. Diesmal abwärts. Unten eine neue Aufgabe.

"Du Jens."
"Ja."
"Mach mal ein bisschen Dampf. Wir brauchen eine Karre und einen Krätzer. Haben wir vorige Woche Paul gesagt."
"'ne Karre und so'n Laubkrätzer."
"Warte mal. Ich ruf' den mal an."

Schröder zückt das Handy - der "kurze Dienstweg".

"Wenn es geht so einen aus Plaste - die Stabileren."
"Ja stimmt. Das ist noch 'made in GDR', oder was? Steht noch ein EVP-Schild druff."

(Telefoniert.) "Ja, hier is' Jens aus Hakenberg. Grüß' dich. Du, ich steh' hier hier mit der Frau Franke, und die sagt, sie wollten noch so einen Laubbesen und so eine Karre haben."

Und - schon erledigt. Schröder lächelt. Franke auch.

"Spätestens übermorgen. Danke ich dir recht herzlich."
"Danke schön."

Die prächtige Linden- und Ahorn-Allee - entworfen vom preußischen Landschaftarchitekten Peter Joseph Lenné - runter zur Landstraße. Die frische Luft tut gut. Schröder nimmt ein paar tiefe Züge. Das mit der Politik läuft bei ihm seit zwölf Jahren nebenher - eine Art Hobby ohne Partei.

"Man muss Lust haben, mit anderen Leuten einfach zu reden. Ich denk' mal, das ist das Wichtigste heutzutage - einfach reden miteinander. Dann lassen sich die meisten Probleme eigentlich auch lösen."

Schröder bei seinem Auto, einem schwarzen Kleinbus. Er muss weiter. Zum Abschied ein kräftiger Händeruck. Das nächste Ziel - Wustrau.

"Also, wenn sie durchs Luch gehen wollen. Dann sind das zwölf Kilometer. Ich würd' mal sagen, zu Fuß zwei Stunden sollten sie einplanen."

Erst durchs Dorf. Einfamilienhäuser. Einige sind schick renoviert, andere gar nicht. Hin und wieder eine Deutschlandfahne. Hin und wieder ein Schäferhund.

Im Luch. Eine weitgehend trockengelegte Moorlandschaft. Bis Ende des 19. Jahrhunderts Torfabbau im großen Stil - Heizmaterial für Hamburg und die Hauptstadt.

Felder, Wälder, Wiesen, Kanäle unter weitem Himmel. Ruhe und Einsamkeit. Außer im Herbst - dann kommen die Zugvögel. Gänse und Kraniche. Zigtausende. Scheue Tiere. Unruhig, fluchtbereit. Ein Schauspiel - absolut beeindruckend.

"Ein Stück Apfelkuchen, wenn Sie mögen?"
"Das ist ja nett."
"Selbstgebacken von Frau Fink."
"Ja klar."
(Gelächter.)"

Wustrau. Kaffetrinken beim Heimat- und Kulturverein. Ursula Fink - eine ausgesprochen freundliche, pensionierte Lehrerin präsentiert ihren Kuchen.

""Wunderbar. Vielen Dank."
"Mit Cox-Orange und Goldpamele. Absolut ohne Chemie und ungepflegt unsere Apfelbäume. Aber dieses Jahr, aber dieses Jahr sind die so doll wie noch nie."

Treffpunkt ist das gerade verwaiste Büro des Ortsbürgermeisters im Gemeindehaus. Die Einrichtung - nüchtern. Schreibtisch, Besprechungstisch, Schrankwand.

"Ich hab' mal die Literatur rausgesucht, in der was über Wustrau drin steht, was wir so haben. Die beiden Bände, die ersten beiden von den 'Wanderungen' …"

Wustrau hat in den "Wanderungen" ein eigenes Kapitel. Fontane und Wustrau … Darauf ist man richtig stolz. Der Wehrmutstropfen? Die Jugend interessiert das herzlich wenig. Der Blick von Fink ein wenig beleidigt. Sie streicht Krümel von der Palstektischdecke.

"Ich war Deutschlehrern in der Schule und da - 'Ne, ne'. Da ist Fontane für die jungen Leute viel zu langweilig: 'Ah ne, das muss nicht sein!"

Mit am Tisch Detlef Gebert, Mitte 50, Vorsitzender des Heimatvereins und Freund von Finks Apfelkuchen. Ein Berufsschullehrer mit grauem, akkurat gestutztem Vollbart und Hintergrundwissen.

Gebert: "Erst im reiferen Alter ist er ja schriftstellerisch so richtig aktiv geworden. Er ist ja über 60 geworden, als das dann so richtig losging."

Fink: "Zum Schluss war er ja auch richtiger Berliner."

Gebert: "Aber mehr oder weniger hat er ja seine Frau In Neuruppin alleen gelassen und ist dann viel umhergezogen. Und hat sich mit anderen verlustiert in der ganzen Welt. (Lacht.) Und getrunken hat er auch ganz schön enen."

Fink guckt vorwurfsvoll. Unklar, ob sie Gebert meint oder Fontane. Sie zeigt auf die "Wanderungen durch die Mark Brandenburg".

"Da ist nun nicht so ein Buch, das man so weg liest. Ich kann es gut verstehen, wenn die Leute hierher kommen, das Buch in der Hand haben und mit diesem Kapitel das Dorf abschreiten, und denn fragen: Können wir denn die Treppe, die da beschrieben wird, im Schloss auch sehen? Das ist zu verstehen, wirklich."

Dazu nickt auch Grebert. Heimatverein verpflichtet. Und Wustrau ist eine schöne Heimat. Ein Bilderbuchdorf am Ufer des Rupiner Sees. Erstmals 1462 erwähnt. 1500 Einwohner, das große, gepflegte Schloss im Besitz der deutschen Richterakademie, das stattliche von einem betuchten Mäzen gestiftete Preußenmuseum, einige historische Gebäude unter Denkmalsschutz, beschauliche Kopfsteinpflasterstraßen und viel Grün.

Die Jacken an und raus. Und dann doch, gleich um die Ecke - ein Makel. Mitten in der gepflegten Idylle ein kleines Haus mit großem Fenster, offensichtlich unbewohnt, beinah sogar verwahrlost.

Gebert: "Das sind solche… der Schandfleck sage ich immer. Das ist jetzt aber auch verkauft."
Fink: "Das war unser Landwarenhaus."
Gebert: "Das war ein Dorfkonsum, so was."
Fink: "Nicht Dorfkonsum. Das war unser Landwarenhaus! Da haben wir zum Beispiel unsere ersten Möbel gekauft, da drin."

Fink schaut streng und Gebert schweigt. Ein paar Schritte weiter - die Kirche aus Naturstein.

Abschied vom Heimatverein. Rein in die Kirche. Da steht Sabine Tröber.

"Wir haben jetze was rausgekriegt über den Krückstock. Det Symbol konnten wir nicht entschlüsseln."

Sie zeigt auf das, schon von Fontane gewürdigte, mit allerlei Symbolen verzierten Grabdenkmal des 'alten' Zieten, einem legendären Husaren-General.

"Wir wussten nicht, warum haben die ihm das dran gemacht? Ich habe im Internet 'ne kurze Zeile darüber gefunden …"

Tröber, eine kräftige Frau, Anfang 50, mit kurzem weinrotem Haar und großen, goldenen Ohrringen. Ihr Blick - fast ein wenig konspirativ.

"… und zwar hat ihm Friedrich im Alter …"

Ihr Blick - fast ein wenig konspirativ …

" … der hat ihm im Alter einen elfenbeinen Krückstock vermacht, mit 'nem handgeschriebenen Schreiben dazu."

… dann sehr konzentriert.

"Hab' ich vorher noch nicht gelesen. Entweder hatte ich das überlesen oder so. Weil viele Touristen kommen und fragen, was dieses Symbole unten darstellen sollen, ja?"

Tröber blättert in ihren beziehungsweise Fontanes "Wanderungen". Die Stelle über die Kirche, die Passage, mit der immer wieder Touristen zu ihr kommen …

(Tröber liest.) "Die Kirche selbst, in Kreuzform aufgeführt, ist ein Ideal von einer Dorfkirche: schlicht, einladend, hübsch gelegen."

Kurzer Blick in den Raum. Stimmt alles - immer noch.

"Das Innere der Kirche selbst unterscheidet sich von andern Dorfkirchen nur durch eine besondere Sauberkeit und durch die ganze Geflissentlichkeit, womit man das patriotische Element gehegt und gepflegt hat. So findet man nicht nur die übliche Gedenktafel mit den Namen derer, die während der Befreiungskriege fielen, sondern zu der allgemeinen Tafel gesellen sich auch noch einzelne Täfelchen, um die Sonderverdienste dieses oder jenes zu bezeichnen."

Tröber weist auf die sorgsam gepflegten Tafeln mit den Namen der 1813 Gefallenen.

"Erstaunlich vor allem: Man darf ja auch das Alter nicht vergessen. Die haben ja nun etliche Zeit überstanden."

Ihr Blick fast zärtlich. Tröber ist gelernte Maurerin, studierte Tiefbauingenieurin und arbeitslos.

"Ich sach' immer: So alte Weiber wollen se' nicht mehr. Ja, das ist so."

Sie hebt die Schultern, trägt‘s mit Fassung - wie auch sonst.

"Jetzt bin ich absolut nicht mehr böse drüber, weil mir det hier entschieden besser gefällt. Hätte ich nicht gedacht, dass ich das heute schaffe, wenn hier 40 Mann sitzen oder so, und das erzählen kann. Da hätte ich gedacht: Aber ich doch nicht … Das ist schon erstaunlich. Das macht aber Spaß, das macht so 'n Spaß."

Spaß auf Ein-Euro-Basis mit Hartz IV. Als Aushilfskraft ist sie verantwortlich für die Information der Besucher. Das ist ihr wichtig. Das macht aus ihr eine engagierte Hobbyhistorikerin. Wieder zeigt sie aufs Denkmal.

"Zu den Dreiecken da unten kann ich noch gar nichts sagen."

Ihr Blick verrät - dieses unwissende Schweigen darf nicht lange dauern. Die bekennende Atheistin möchte niemanden enttäuschen, der auf Fontanes Spuren in "ihre" Kirche kommt. Das heißt, sie braucht auf alle Fragen eine Antwort.

"Ich wird' nicht dümmer dadurch. Bildung hat noch nie jemanden geschadet. Det is so. Und Allgemeinwissen - wenn ich das manchmal so im Fernsehen höre, wo denn mal die DDR-Grenze war oder was denn DDR überhaupt als Abkürzung heißt? Und die kommen denn auf einen Computerchip oder irgendwie so was - ja hallo!"

Von Wustrau zurück zur Fontanestadt Neuruppin - 15 Kilometer geradeaus. Der Weg verläuft zwischen weiten Feldern und idyllischen Alleen ein paar hundert Meter vom Seeufer entfernt. Am Horizont große Windräder unter weitem Himmel.

An der Ecke Franz Künstler- und Karl-Marx-Straße sitzt am Rande eines kleinen Parks der Dichter höchstselbst auf einer Bank, lässig und überlebensgroß - Theodor Fontane, laut Inschrift "Der Dichter der Mark". Auf den Parkbänken zu seinen Füßen kreisen ebenfalls ganz lässig schon vormittags erste Bierflaschen.

Der große, zu große Schulplatz. Eine Drogeriefiliale, ein Restaurant mit Hongkong-Bangkok Spezialitäten. Ausverkauf im Shoes-Eck. Mittendrin ein paar Marktstände. Ein Fischimbiss ist zu sehen und zu riechen. Ein Pflanzenhändler verhökert Restbestände.

Vor dem "Alten Gymnasium", das einer barocken Schlossanlage gleicht , diskutiert eine Gruppe indischer Händler über die Preise ihrer chinesischen Billigwaren.

Gut huntert Meter weiter das Geburtshaus Fontanes mit der Löwenapotheke. Im Schaufenster "Theos Teemischung", hundert Gramm für 1,95 Euro. Direkt daneben eine geräumige Buchhandlung - natürlich mit dem Namen "Fontane".

Mittendrin - charmant und elegant - die Chefin Ilona Kollar. Sie hat Zeit für eine Tasse Tee und die "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" schon aufgeschlagen.

"Was ich ja liebe, ist die Stelle mit den Märkern: Köstlich, wo der Fontane sich über die Märker auslässt. 'Die Märker und die Berliner' ist dieser Text …"

Die Brille auf Startposition.

"Die Märker haben viele Tugenden, wenn auch nicht voll so viele, wie sie sich einbilden, was durchaus gesagt werden muss, da jeder Märker ziemlich ernsthaft glaubt, dass Gott in ihm und seinesgleichen etwas ganz Besonderes geschaffen habe. So schlimm ist es nun nicht. Die Märker sind gesunden Geistes und unbestechlichen Gefühls, nüchtern, charaktervoll und anstellig, anstellig auch in Kunst, Wissenschaft und Re¬ligion, aber sie sind ohne rechte Begeisterungsfähigkeit und vor allem ohne rechte Liebenswürdigkeit."

Sie schaut - fast ein wenig entschuldigend. Es kommt noch dicker.

"Im Übrigen sind sie neidisch, schabernackisch und engherzig und haben in hervorragender Weise den ridikülen Zug, alles, was sie be¬sitzen oder leisten, für etwas ganz Ungeheures anzusehen. Ja, es sind tüchtige, aber eingeengte Leute. Wenn sie einem eine Tasse Kaffee präsentieren, so rechnen sie sich's an, nicht dem, der den Mut hat, diesen Kaffee zu trinken und gab es gar noch eine geschmierte Semmel dazu, so wird es als ein 'Mahl' angesehen, das Anspruch darauf hat, in die Stadt ¬und Dorfchronik eingezeichnet zu werden."

Kollar öffnet mit fast schelmischen Grinsen eine Packung Kekse. Sie ist Buchhändlerin aus Leidenschaft. Erst als Angestellte einer Volksbuchhandlung, seit der Wende selbstständig. Sechs Angestellte, ein Azubi. Die Tochter arbeitet mit, soll den Laden übernehmen. Etwa 20 Prozent der Titel in ihren gut sortierten Regalen sind von oder über Fontane. Kollar mag ihn, weil er ein ausgezeichneter Schriftsteller ist. Darauf noch eine Tasse Tee.

"Zu meiner Zeit hat man ja in der Schule vermittelt bekommen, Fontane ist ein Heimatdichter - also abwertend. Was ja nun gar nicht stimmt. Inzwischen wissen wir, dass er der größte Romancier des 19. Jahrhunderts ist."

Und sie mag ihn, weil er aus Neuruppin stammt.

"Er ist ja in Neuruppin so ein Held, eigentlich für die Neuruppiner. Er ist der große Sohn der Stadt."

Und sie mag ihn sicher auch, weil er gut für ihr Geschäft ist.

"Er hat ja einen richtigen Boom erlebt nach der Wende. Und ich hab' das gar nicht richtig begriffen. Das war vorher ja gar nicht. Und interessant ist ja auch, dass ganz viele Leute aus dem Westen hierher kamen, um den Fontane hier live … sozusagen an Ort und Stelle zu sehen, was hier los ist."

Noch einmal blättert sie in den "Wanderungen".

"Das Pflichtgefühl der Märker, ihr Lerntrieb, ihr Ordnungssinn, ihre Sparsamkeit - das ist ihr Bestes. Und das sind die Eigen¬schaften, wodurch sie's zu was gebracht haben."

Der Rücken gerade - im Gesicht ein Lächeln. Auch Kollar ist Märkerin. Zum Ende eine Frage: Die Neuruppiner - immer wieder von Fontane mit mal feiner, mal spitzer Ironie aufs Korn genommen - sind sie ihrem Sohn vielleicht noch ein bisschen gram? Nein. Die Buchhändlerin schüttelt den Kopf. Die Neuruppiner haben längst großmütig verziehen.

"Großmütig verziehen, weil er den Namen Neuruppin ja doch so ein bisschen herausgehoben hat oder heraus getragen hat in die Welt sozusagen. Und ich glaube, man nimmt ihm das nicht übel. Es war ja auch eine andere Zeit.

Vielleicht waren die Neuruppiner damals ganz anders als die heutigen Neuruppiner. Kann man ja auch mal sehen. Vielleicht sind die heute nicht mehr so spießig, und so einfach und so schlicht im Gemüt, die Neuruppiner. Man wird ja auch klüger mit der Zeit."