"Ich bin ein Schriftsteller, der langsam schreibt"
Der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk hat seine verschobene Lesereise durch Deutschland begonnen. In einem ausführlichen Gespräch mit Deutschlandradio Kultur zieht er einen Vergleich: "Ich bin ein Schiff, das langsam und geduldig vorwärtstreibt, aber am Ende erreiche ich immer mein Ziel."
Sigried Wesener: Orhan Pamuk, Ihre Lesereise in Deutschland ist eine nachgetragene Begegnung des Nobelpreisträgers mit seinen Lesern hierzulande. Im Gepäck haben Sie Ihr Porträt von Istanbul. Dieses Buch steht seit Monaten auf der Bestsellerliste in Deutschland. Wie empfindet der Romancier den Erfolg des Essayisten Orhan Pamuk?
Orhan Pamuk: Als ich dieses Buch geschrieben habe, habe ich gemerkt, dass Erinnerungen aufzuschreiben viel leichter ist, als einen Roman zu schreiben. Denn, Erinnerungen zu schreiben heißt nur, dass man etwas, was man erlebt hat, in Worte fasst. Und der Roman bedeutet, dass Sie etwas, was Sie nicht erlebt haben, in Ihrer Phantasie entstehen lassen. Wenn Sie aber Erinnerungen aufschreiben, nein, wenn Sie Romane aufschreiben, dann stellen Sie sich vor, Sie sind jemand anderes. Aber bei Erinnerungen versuchen Sie das Erlebte noch mal ins Gedächtnis zu rufen. Aber es gibt auch eine Schwierigkeit, sogar etwas, was einem wehtut, wenn man Erinnerungen aufschreibt. 98 Prozent muss man wegschmeißen. Wir erleben so viel, dass wir uns nicht so entscheiden können, wovon wir erzählen sollen. Als ich fertig war mit diesem Buch, dachte ich folgendes: Ich könnte eigentlich 20 weitere Bücher schreiben, sehr ähnliche. Die Geschichten, die Anekdoten, die wären natürlich andere, aber der Sinn des Buches wäre der gleiche.
Wesener: Sie arbeiten ja sehr, sehr lange an Ihren Romanen, am letzten zehn Jahre. Das heißt, der Autor ist auch sehr kritisch mit seinem eigenen Werk?
Pamuk: Ja, das ist richtig. Ich bin ein Schriftsteller, der langsam schreibt im Vergleich zu anderen Schriftstellern. Aber wenn ich mich mit anderen vergleiche, dann muss ich an die Geschichte vom Hasen denken. Ich bin kein Hase, ich bin ein Schiff, das langsam und geduldig im Meer vorwärtstreibt. Aber am Ende erreiche ich immer mein Ziel. Dieses Buch, das Buch "Istanbul", ist das Buch, das sich so schnell geschrieben habe wie kein anderes Buch davor. Ich habe natürlich auch sehr viel erforscht, um das zu schreiben. Auf der einen Seite sind es meine Erinnerungen, bis ich 22 wurde, auf der anderen Seite ein Denken über das Gedächtnis Istanbuls.
Wesener: Sie haben gestern Abend erleben können in Hamburg, beim Auftakt der Lesereise in Hamburg, wie das Publikum hier reagiert, nicht nur als Käufer, sondern direkt auch als Reaktion auf den Autor Orhan Pamuk. Wie haben Sie selbst diesen Abend in Hamburg erlebt?
Pamuk: Ich war sehr glücklich gestern Abend. Ich möchte noch eines hinzufügen. Nachdem ich den Nobelpreis bekommen habe, hatte ich immer wieder Pech. Politische Morde haben stattgefunden, der Druck in der Türkei wurde schärfer, und deswegen konnte ich es nicht so richtig genießen, meinen Preis. Die Tage in Stockholm waren schöner. Aber danach bin ich in die USA gegangen, um ein bisschen mit mir selbst zu sein, und zwei Monate lang habe ich mich eingeschlossen, habe keinen und nichts gesehen. Das ist das erste Mal seit dem Preis, dass ich glücklich vor dem Publikum stand.
Wesener: In Berlin wird es während dieser Reise auch die Ehrendoktorwürde geben der Freien Universität. Wird es zu Berlin, zur Berliner Universität, intensivere Kontakte geben nach dieser Ehrendoktorwürde?
Pamuk: Ich weiß es nicht, ich würde es mir wünschen. Jetzt bin ich weniger in Istanbul als überall in der Welt. Ich war neulich in Paris, ich habe auch dort einen Monat lang an der Universität unterrichtet. Natürlich ein sehr schnelles Leben, das ermüdet. Meine Tochter kam nach Paris und sagte: Gut, Papa, mach das eine Zeit lang, aber heute Paris, morgen New York, dann Istanbul, dann Berlin, das ist zu viel. Lass dich endlich mal irgendwo nieder.
Wesener: Wenn Sie nicht in Istanbul sind, Orhan Pamuk, was fehlt Ihnen dann am meisten?
Pamuk: Istanbul ist in meinem Kopf, also ich vermisse Istanbul nicht so besonders. Über Istanbul habe ich am besten geschrieben, wenn ich nicht in Istanbul war. "Das schwarze Buch" zum Beispiel ist wahrscheinlich das Buch von mir, das ich am meisten mit Istanbul befasst, und einen großen Teil davon habe ich in New York geschrieben. Ich habe volles Vertrauen in mein Gedächtnis, und alles, was ich gesehen habe, trage ich für immer dabei.
Wesener: Da erkennt man natürlich auch den Maler Orhan Pamuk und den früheren Architekturstudenten, der auf jeden Fall nicht nachahmen wollte, aber die Wirklichkeit in seinem Kopf bereits schon abgebildet hat, um sie aufzuschreiben. Ist das gewissermaßen auch die Schreibtechnik des Autors?
Pamuk: Das Studium der Architektur hat mich beeinflusst. Manchmal denke ich über die Kompositionen des Romans nach, da zum Beispiel, aber wichtiger noch, zwischen dem 7. und 22. Lebensalter – wie ich im Buch "Istanbul" erzähle – wollte ich Maler sein. Ich bin auf die Straßen gegangen, ich habe die Stadt wirklich skizziert und gemalt in meinem Kopf. Und Istanbul der 50er und 60er Jahre ist sehr in meinem Gedächtnis geblieben. Und es gibt immer etwas Visuelles in meinem Schreiben. Literatur ist nicht nur, eine Geschichte zu erzählen, Dramen zu erzählen, sondern das, was unsere Augen sehen, mit Worten festzuhalten. Literatur bedeutet nicht nur über und durch Geschichten über die Welt zu erzählen, es bedeutet auch, durch Wörter die Welt zu sehen. Das Geheimnis der Literatur besteht darin, am richtigen Ort das richtige Wort zu finden. Ich möchte mich nicht sehen als jemanden, der ein Drama erzählt, sondern der die Farbe dieses Dramas sieht. Gestern Abend wurde in Hamburg gefragt: Es gibt auch Fotografien in Ihrem Buch und Bilder in Ihrem Buch und Sie malen auch - ist das keine Konkurrenz? Nein, im Gegenteil, sie sind Brüder und Schwestern, sie ergänzen einander.
Wesener: Die Farben spielen natürlich schon in Ihren Buchtiteln, zumindest in der deutschen Übersetzung, eine wichtige Rolle – "Die weiße Festung", "Rot ist mein Name", "Das schwarze Buch". Andererseits, wenn ich das "Istanbul"-Buch nehme, da gibt es vor allem Schwarz-Weiß-Fotos und Schwarz-Weiß nehmen Sie auch so als eine Farbe dieser Kindheitsjahre. Da ist ja möglicherweise ein Widerspruch, der sich in dem Autor löst bzw. in seinen Büchern?
Pamuk: Da gibt es keinen Widerspruch, im Gegenteil. In der islamischen Literatur gibt es sehr viel Farbsymbolik. Ich kenne das alles. Aber das benutze ich nicht in meinen Büchern. Istanbul, ja, in den 50er und 60er Jahren war Istanbul für mich wirklich ein schwarz-weißer Ort. Die Farben waren blass, denn wenn man arm ist, dann werden die Farben der Kleider auch blass. Als das Buch erschienen ist, haben die jüngeren Leser mir gesagt: Unser Istanbul ist doch viel sonniger, ist viel farbiger, ist viel sonniger. Und glücklicher. Die hatten Recht. Aber ich habe über die Stadt erzählt, in der ich gelebt hatte, und von meiner Autobiografie ist "Istanbul" das erste Buch und endet im Jahre 1974.
Wesener: Istanbulisch ist ein Begriff, den Sie geprägt haben gewissermaßen als Qualitätsmarke für das eigene Schreiben. Istanbulisch, was heißt das für Orhan Pamuk?
Pamuk: Die Frage ist so schwer, wie wenn jemand fragen würde, was bedeutet Ihr Körper für Sie? Mein Körper ist ja ein Teil von mir geworden. So auch Istanbul. Ich möchte weder sagen, dass ich Istanbul sehr liebe, noch dass ich Tag und Nacht an Istanbul denken würde. Ich glaube, der beste Weg, eine Stadt zu lieben, ist es, gar nicht zu wissen, dass man die Stadt liebt. Weil Istanbul meine ganze Welt ist, weil ich nichts anderes kannte, spielten alle meine Bücher erst mal in Istanbul. Andere haben mir beigebracht, das Istanbul (…). Ich hatte das alles geschrieben, ohne dass mir bewusst wurde, dass ich über eine Stadt erzähle. Istanbul ist immer in meinem Kopf und ich weiß, überall in der Welt sehe ich etwas aus Istanbul. Und ich möchte jetzt nicht melodramatisch werden und sagen: Ach, Istanbul, Istanbul.
Wesener: Auf jeden Fall muss man, wenn man von dieser Stadt spricht, auch von der Melancholie in der Stadt sprechen. Sie schreiben darüber, man ist mit Ihren Texten natürlich in den Straßen unterwegs, Sie leuchten in die Stuben, in die Treppen, in die Hinterhäuser, in die verlassenen Orte und Appartements, die neu aufgebaut worden sind, aber diese Melancholie oder Hüzün, wie das auf Türkisch heißt, schreiben Sie, ist ein Gefühl, das nicht nur Sie als Autor empfinden, sondern das millionenfach in dieser Stadt empfunden wird. Sehen Sie das wirklich so als Gefühl, das möglicherweise auch verbindend ist für die Einwohner von Istanbul?
Pamuk: Dass Istanbul aufgeteilt ist zwischen Kontinenten, führt nicht dazu, dass die Menschen auch fern voneinander sind. Nur Touristen interessieren sich dafür, dass Istanbul auf zwei Kontinenten ist. Die Einwohner dieser Stadt sind sich dessen nicht bewusst. Hüzun bedeutet, dass die Stadt weiß, dass sie arm ist, dass die Stadt vor der Tür Europas dazu verdammt ist, ein armes Leben zu führen. Das Glamouröse des reichen osmanischen Staates ist verschwunden, und jetzt sind die ganzen Ruinen, die osmanischen Ruinen, die byzantinischen Ruinen und die ganze Stadt lebt mitten in diesen Ruinen. Das Gefühl Hüzün hat damit zu tun.
Hüzün, Melancholie, das alles bedeutet Verlust, das alles bedeutet, dessen gewahr zu werden, dass man etwas verloren hat. Und Istanbul war die Hauptstadt einer großen Zivilisation. Aber der Zusammenbruch des osmanisches Staates hat nicht nur diese Stadt arm gemacht, sondern hat auch dazu geführt, dass Reichtum, was man mal hatte, zu Ruinen geworden ist. Und das hat die Stadt zu einem armen Ort gemacht, voller melancholischer Bilder und Landschaften. Als ich Kind war, war Istanbul für mich eine Stadt, die schwarz-weiß war, wo man Armut sehr deutlich gesehen hat und wo auch die Zukunft nicht glänzend war. Wir sagten immer, ach, hier wird man doch sowieso nichts. Willst du Künstler werden, willst du das und das machen, lass es. So waren wir. Wir waren pessimistisch. Es gab keine Hoffnung, und es gab eine Nach-innen-Gekehrtheit, die auch in der Zukunft nichts Farbiges gesehen hat.
Wesener: Dieser Blick auf die sozialen Welten, auf die Armut, und die Armut überhaupt in Istanbul, ist das möglicherweise auch ein Grund für das Anwachsen und Erstarken von so nationalistischen Momenten, nationalistischen Motiven, auch im Widerstreit zu dieser alten Eleganz, zu den bröckelnden Fassaden der Stadt?
Pamuk: Viele junge Menschen zwischen 18 und 30 sind zornig, sie haben keine Arbeit und sie gehen durch die Straßen, um überhaupt jemand zu finden, den man gleich töten kann. Also es ist wirklich ein Zorn da, es ist wirklich eine Feindschaft gegenüber dem Westen, da ist auch Neid da. Aber vielleicht hat das ja nichts mit der Armut in Istanbul zu tun. Auf der anderen Seite habe ich all diese Sachen in diesem Buch in dieser poetischen Sprache nicht erzählt, damit politische Schlüsse gezogen werden können.
Ich bin sehr böse auf die Nationalisten, sie mögen mich auch nicht, hin und wieder geraten wir aneinander, aber ich schreibe meine Bücher nicht, um sie zu kritisieren. Und ich möchte Ihnen ganz offen sagen, dass ich diese Menschen auch verstehen möchte, ich möchte die Stadt verstehen. Ich schreibe nicht für kurzfristige politische Gewinne. Eigentlich schreibe ich meine Bücher, um die Poesie der Stadt, um das Gefühl, was diese Stadt uns gibt, zu verstehen, nicht um gesellschaftliche Schwierigkeiten zu überwinden.
Wesener: Sie kommen ja aus einem sehr westlich orientierten Elternhaus. Ihr Vater, der eine große Bibliothek – er war gern in Paris – hat, wenn Sie das Leben Ihres Vaters und seine Westzugewandtheit sehen, hat heute der Westen an Anziehungskraft eingebüßt.
Pamuk: Ja, also unsere Generation ist nicht so wie die Generation meiner Eltern, die wie Affen alles nachmachen wollten und auf der anderen Seite so geblendet waren. So sehen wir den Westen nicht. Aber es kommt noch etwas hinzu: Die Türkei ist näher an Europa gerückt, das Fliegen ist viel billiger geworden, jeder kann reisen, wie er möchte, es gibt eine große Tourismusindustrie, viele Touristen kommen. Also es gibt eine viel engere Verbindung, und deswegen idealisiert man Europa auch nicht mehr. Also die Türken kennen jetzt die Europäer. Sie sind nicht vom Mars gekommen, so werden sie nicht mehr gesehen, als Marsmenschen, so mit großen bewundernden Augen.
Wesener: Sie betonen ja immer, dass es Ihnen nicht gefällt, zwischen Morgenland und Abendland, Orient, Okzident zu unterscheiden. Wie würden Sie diese kulturellen Unterschiede denn genauer benennen wollen?
Pamuk: Sie können zweierlei auf das Leben schauen: a) Sie können immer das Unterschiedliche betonen, und sie betonen es so sehr, dass die unterschiedlichen Punkte sich immer mehr voneinander entfernen. Oder Sie können auch sehen, dass das Unterschiedliche eigentlich sich sehr ähnelt. Der Mensch ist nämlich überall in der Welt, und die Liebe ist mehr oder weniger das Gleiche. Es ist sehr ähnlich. Gut, es gibt natürlich Unterschiede zwischen Kulturen. Aber wichtiger, wertvoller ist es, die Wahrhaftigkeit der Erfahrung, die ein Mensch macht, und dass ein Mensch diese Wahrhaftigkeit gut sehen kann. Ich möchte mich nicht als jemanden sehen, der die Unterschiedlichkeit der Kulturen betont, sondern als jemand, der weiß, dass die Kulturen sehr verschiedene Wurzeln haben, dass sie nie pur sind, dass eine Kultur immer etwas Komplexes und etwas Einheitliches ist.
Wesener: Sehen Sie mit Spannung auf den kommenden Sonntag bzw. auf den neuen Termin im Juli dann der Präsidentschaftswahl?
Pamuk: Ja, natürlich. Denn seit einem Jahr ist sehr viel los in meinem Land. Und leider ist in dieser Atmosphäre der politischen Unruhen auch die Gefahr verborgen, dass man sich wieder der Gewalt bedient und Menschen tötet. Ich möchte über das alles nicht so viel sprechen, denn dann fangen die westlichen Journalisten an, nicht mehr Fragen über meine Bücher zu stellen, sondern nur solche Fragen.
Orhan Pamuk: Als ich dieses Buch geschrieben habe, habe ich gemerkt, dass Erinnerungen aufzuschreiben viel leichter ist, als einen Roman zu schreiben. Denn, Erinnerungen zu schreiben heißt nur, dass man etwas, was man erlebt hat, in Worte fasst. Und der Roman bedeutet, dass Sie etwas, was Sie nicht erlebt haben, in Ihrer Phantasie entstehen lassen. Wenn Sie aber Erinnerungen aufschreiben, nein, wenn Sie Romane aufschreiben, dann stellen Sie sich vor, Sie sind jemand anderes. Aber bei Erinnerungen versuchen Sie das Erlebte noch mal ins Gedächtnis zu rufen. Aber es gibt auch eine Schwierigkeit, sogar etwas, was einem wehtut, wenn man Erinnerungen aufschreibt. 98 Prozent muss man wegschmeißen. Wir erleben so viel, dass wir uns nicht so entscheiden können, wovon wir erzählen sollen. Als ich fertig war mit diesem Buch, dachte ich folgendes: Ich könnte eigentlich 20 weitere Bücher schreiben, sehr ähnliche. Die Geschichten, die Anekdoten, die wären natürlich andere, aber der Sinn des Buches wäre der gleiche.
Wesener: Sie arbeiten ja sehr, sehr lange an Ihren Romanen, am letzten zehn Jahre. Das heißt, der Autor ist auch sehr kritisch mit seinem eigenen Werk?
Pamuk: Ja, das ist richtig. Ich bin ein Schriftsteller, der langsam schreibt im Vergleich zu anderen Schriftstellern. Aber wenn ich mich mit anderen vergleiche, dann muss ich an die Geschichte vom Hasen denken. Ich bin kein Hase, ich bin ein Schiff, das langsam und geduldig im Meer vorwärtstreibt. Aber am Ende erreiche ich immer mein Ziel. Dieses Buch, das Buch "Istanbul", ist das Buch, das sich so schnell geschrieben habe wie kein anderes Buch davor. Ich habe natürlich auch sehr viel erforscht, um das zu schreiben. Auf der einen Seite sind es meine Erinnerungen, bis ich 22 wurde, auf der anderen Seite ein Denken über das Gedächtnis Istanbuls.
Wesener: Sie haben gestern Abend erleben können in Hamburg, beim Auftakt der Lesereise in Hamburg, wie das Publikum hier reagiert, nicht nur als Käufer, sondern direkt auch als Reaktion auf den Autor Orhan Pamuk. Wie haben Sie selbst diesen Abend in Hamburg erlebt?
Pamuk: Ich war sehr glücklich gestern Abend. Ich möchte noch eines hinzufügen. Nachdem ich den Nobelpreis bekommen habe, hatte ich immer wieder Pech. Politische Morde haben stattgefunden, der Druck in der Türkei wurde schärfer, und deswegen konnte ich es nicht so richtig genießen, meinen Preis. Die Tage in Stockholm waren schöner. Aber danach bin ich in die USA gegangen, um ein bisschen mit mir selbst zu sein, und zwei Monate lang habe ich mich eingeschlossen, habe keinen und nichts gesehen. Das ist das erste Mal seit dem Preis, dass ich glücklich vor dem Publikum stand.
Wesener: In Berlin wird es während dieser Reise auch die Ehrendoktorwürde geben der Freien Universität. Wird es zu Berlin, zur Berliner Universität, intensivere Kontakte geben nach dieser Ehrendoktorwürde?
Pamuk: Ich weiß es nicht, ich würde es mir wünschen. Jetzt bin ich weniger in Istanbul als überall in der Welt. Ich war neulich in Paris, ich habe auch dort einen Monat lang an der Universität unterrichtet. Natürlich ein sehr schnelles Leben, das ermüdet. Meine Tochter kam nach Paris und sagte: Gut, Papa, mach das eine Zeit lang, aber heute Paris, morgen New York, dann Istanbul, dann Berlin, das ist zu viel. Lass dich endlich mal irgendwo nieder.
Wesener: Wenn Sie nicht in Istanbul sind, Orhan Pamuk, was fehlt Ihnen dann am meisten?
Pamuk: Istanbul ist in meinem Kopf, also ich vermisse Istanbul nicht so besonders. Über Istanbul habe ich am besten geschrieben, wenn ich nicht in Istanbul war. "Das schwarze Buch" zum Beispiel ist wahrscheinlich das Buch von mir, das ich am meisten mit Istanbul befasst, und einen großen Teil davon habe ich in New York geschrieben. Ich habe volles Vertrauen in mein Gedächtnis, und alles, was ich gesehen habe, trage ich für immer dabei.
Wesener: Da erkennt man natürlich auch den Maler Orhan Pamuk und den früheren Architekturstudenten, der auf jeden Fall nicht nachahmen wollte, aber die Wirklichkeit in seinem Kopf bereits schon abgebildet hat, um sie aufzuschreiben. Ist das gewissermaßen auch die Schreibtechnik des Autors?
Pamuk: Das Studium der Architektur hat mich beeinflusst. Manchmal denke ich über die Kompositionen des Romans nach, da zum Beispiel, aber wichtiger noch, zwischen dem 7. und 22. Lebensalter – wie ich im Buch "Istanbul" erzähle – wollte ich Maler sein. Ich bin auf die Straßen gegangen, ich habe die Stadt wirklich skizziert und gemalt in meinem Kopf. Und Istanbul der 50er und 60er Jahre ist sehr in meinem Gedächtnis geblieben. Und es gibt immer etwas Visuelles in meinem Schreiben. Literatur ist nicht nur, eine Geschichte zu erzählen, Dramen zu erzählen, sondern das, was unsere Augen sehen, mit Worten festzuhalten. Literatur bedeutet nicht nur über und durch Geschichten über die Welt zu erzählen, es bedeutet auch, durch Wörter die Welt zu sehen. Das Geheimnis der Literatur besteht darin, am richtigen Ort das richtige Wort zu finden. Ich möchte mich nicht sehen als jemanden, der ein Drama erzählt, sondern der die Farbe dieses Dramas sieht. Gestern Abend wurde in Hamburg gefragt: Es gibt auch Fotografien in Ihrem Buch und Bilder in Ihrem Buch und Sie malen auch - ist das keine Konkurrenz? Nein, im Gegenteil, sie sind Brüder und Schwestern, sie ergänzen einander.
Wesener: Die Farben spielen natürlich schon in Ihren Buchtiteln, zumindest in der deutschen Übersetzung, eine wichtige Rolle – "Die weiße Festung", "Rot ist mein Name", "Das schwarze Buch". Andererseits, wenn ich das "Istanbul"-Buch nehme, da gibt es vor allem Schwarz-Weiß-Fotos und Schwarz-Weiß nehmen Sie auch so als eine Farbe dieser Kindheitsjahre. Da ist ja möglicherweise ein Widerspruch, der sich in dem Autor löst bzw. in seinen Büchern?
Pamuk: Da gibt es keinen Widerspruch, im Gegenteil. In der islamischen Literatur gibt es sehr viel Farbsymbolik. Ich kenne das alles. Aber das benutze ich nicht in meinen Büchern. Istanbul, ja, in den 50er und 60er Jahren war Istanbul für mich wirklich ein schwarz-weißer Ort. Die Farben waren blass, denn wenn man arm ist, dann werden die Farben der Kleider auch blass. Als das Buch erschienen ist, haben die jüngeren Leser mir gesagt: Unser Istanbul ist doch viel sonniger, ist viel farbiger, ist viel sonniger. Und glücklicher. Die hatten Recht. Aber ich habe über die Stadt erzählt, in der ich gelebt hatte, und von meiner Autobiografie ist "Istanbul" das erste Buch und endet im Jahre 1974.
Wesener: Istanbulisch ist ein Begriff, den Sie geprägt haben gewissermaßen als Qualitätsmarke für das eigene Schreiben. Istanbulisch, was heißt das für Orhan Pamuk?
Pamuk: Die Frage ist so schwer, wie wenn jemand fragen würde, was bedeutet Ihr Körper für Sie? Mein Körper ist ja ein Teil von mir geworden. So auch Istanbul. Ich möchte weder sagen, dass ich Istanbul sehr liebe, noch dass ich Tag und Nacht an Istanbul denken würde. Ich glaube, der beste Weg, eine Stadt zu lieben, ist es, gar nicht zu wissen, dass man die Stadt liebt. Weil Istanbul meine ganze Welt ist, weil ich nichts anderes kannte, spielten alle meine Bücher erst mal in Istanbul. Andere haben mir beigebracht, das Istanbul (…). Ich hatte das alles geschrieben, ohne dass mir bewusst wurde, dass ich über eine Stadt erzähle. Istanbul ist immer in meinem Kopf und ich weiß, überall in der Welt sehe ich etwas aus Istanbul. Und ich möchte jetzt nicht melodramatisch werden und sagen: Ach, Istanbul, Istanbul.
Wesener: Auf jeden Fall muss man, wenn man von dieser Stadt spricht, auch von der Melancholie in der Stadt sprechen. Sie schreiben darüber, man ist mit Ihren Texten natürlich in den Straßen unterwegs, Sie leuchten in die Stuben, in die Treppen, in die Hinterhäuser, in die verlassenen Orte und Appartements, die neu aufgebaut worden sind, aber diese Melancholie oder Hüzün, wie das auf Türkisch heißt, schreiben Sie, ist ein Gefühl, das nicht nur Sie als Autor empfinden, sondern das millionenfach in dieser Stadt empfunden wird. Sehen Sie das wirklich so als Gefühl, das möglicherweise auch verbindend ist für die Einwohner von Istanbul?
Pamuk: Dass Istanbul aufgeteilt ist zwischen Kontinenten, führt nicht dazu, dass die Menschen auch fern voneinander sind. Nur Touristen interessieren sich dafür, dass Istanbul auf zwei Kontinenten ist. Die Einwohner dieser Stadt sind sich dessen nicht bewusst. Hüzun bedeutet, dass die Stadt weiß, dass sie arm ist, dass die Stadt vor der Tür Europas dazu verdammt ist, ein armes Leben zu führen. Das Glamouröse des reichen osmanischen Staates ist verschwunden, und jetzt sind die ganzen Ruinen, die osmanischen Ruinen, die byzantinischen Ruinen und die ganze Stadt lebt mitten in diesen Ruinen. Das Gefühl Hüzün hat damit zu tun.
Hüzün, Melancholie, das alles bedeutet Verlust, das alles bedeutet, dessen gewahr zu werden, dass man etwas verloren hat. Und Istanbul war die Hauptstadt einer großen Zivilisation. Aber der Zusammenbruch des osmanisches Staates hat nicht nur diese Stadt arm gemacht, sondern hat auch dazu geführt, dass Reichtum, was man mal hatte, zu Ruinen geworden ist. Und das hat die Stadt zu einem armen Ort gemacht, voller melancholischer Bilder und Landschaften. Als ich Kind war, war Istanbul für mich eine Stadt, die schwarz-weiß war, wo man Armut sehr deutlich gesehen hat und wo auch die Zukunft nicht glänzend war. Wir sagten immer, ach, hier wird man doch sowieso nichts. Willst du Künstler werden, willst du das und das machen, lass es. So waren wir. Wir waren pessimistisch. Es gab keine Hoffnung, und es gab eine Nach-innen-Gekehrtheit, die auch in der Zukunft nichts Farbiges gesehen hat.
Wesener: Dieser Blick auf die sozialen Welten, auf die Armut, und die Armut überhaupt in Istanbul, ist das möglicherweise auch ein Grund für das Anwachsen und Erstarken von so nationalistischen Momenten, nationalistischen Motiven, auch im Widerstreit zu dieser alten Eleganz, zu den bröckelnden Fassaden der Stadt?
Pamuk: Viele junge Menschen zwischen 18 und 30 sind zornig, sie haben keine Arbeit und sie gehen durch die Straßen, um überhaupt jemand zu finden, den man gleich töten kann. Also es ist wirklich ein Zorn da, es ist wirklich eine Feindschaft gegenüber dem Westen, da ist auch Neid da. Aber vielleicht hat das ja nichts mit der Armut in Istanbul zu tun. Auf der anderen Seite habe ich all diese Sachen in diesem Buch in dieser poetischen Sprache nicht erzählt, damit politische Schlüsse gezogen werden können.
Ich bin sehr böse auf die Nationalisten, sie mögen mich auch nicht, hin und wieder geraten wir aneinander, aber ich schreibe meine Bücher nicht, um sie zu kritisieren. Und ich möchte Ihnen ganz offen sagen, dass ich diese Menschen auch verstehen möchte, ich möchte die Stadt verstehen. Ich schreibe nicht für kurzfristige politische Gewinne. Eigentlich schreibe ich meine Bücher, um die Poesie der Stadt, um das Gefühl, was diese Stadt uns gibt, zu verstehen, nicht um gesellschaftliche Schwierigkeiten zu überwinden.
Wesener: Sie kommen ja aus einem sehr westlich orientierten Elternhaus. Ihr Vater, der eine große Bibliothek – er war gern in Paris – hat, wenn Sie das Leben Ihres Vaters und seine Westzugewandtheit sehen, hat heute der Westen an Anziehungskraft eingebüßt.
Pamuk: Ja, also unsere Generation ist nicht so wie die Generation meiner Eltern, die wie Affen alles nachmachen wollten und auf der anderen Seite so geblendet waren. So sehen wir den Westen nicht. Aber es kommt noch etwas hinzu: Die Türkei ist näher an Europa gerückt, das Fliegen ist viel billiger geworden, jeder kann reisen, wie er möchte, es gibt eine große Tourismusindustrie, viele Touristen kommen. Also es gibt eine viel engere Verbindung, und deswegen idealisiert man Europa auch nicht mehr. Also die Türken kennen jetzt die Europäer. Sie sind nicht vom Mars gekommen, so werden sie nicht mehr gesehen, als Marsmenschen, so mit großen bewundernden Augen.
Wesener: Sie betonen ja immer, dass es Ihnen nicht gefällt, zwischen Morgenland und Abendland, Orient, Okzident zu unterscheiden. Wie würden Sie diese kulturellen Unterschiede denn genauer benennen wollen?
Pamuk: Sie können zweierlei auf das Leben schauen: a) Sie können immer das Unterschiedliche betonen, und sie betonen es so sehr, dass die unterschiedlichen Punkte sich immer mehr voneinander entfernen. Oder Sie können auch sehen, dass das Unterschiedliche eigentlich sich sehr ähnelt. Der Mensch ist nämlich überall in der Welt, und die Liebe ist mehr oder weniger das Gleiche. Es ist sehr ähnlich. Gut, es gibt natürlich Unterschiede zwischen Kulturen. Aber wichtiger, wertvoller ist es, die Wahrhaftigkeit der Erfahrung, die ein Mensch macht, und dass ein Mensch diese Wahrhaftigkeit gut sehen kann. Ich möchte mich nicht als jemanden sehen, der die Unterschiedlichkeit der Kulturen betont, sondern als jemand, der weiß, dass die Kulturen sehr verschiedene Wurzeln haben, dass sie nie pur sind, dass eine Kultur immer etwas Komplexes und etwas Einheitliches ist.
Wesener: Sehen Sie mit Spannung auf den kommenden Sonntag bzw. auf den neuen Termin im Juli dann der Präsidentschaftswahl?
Pamuk: Ja, natürlich. Denn seit einem Jahr ist sehr viel los in meinem Land. Und leider ist in dieser Atmosphäre der politischen Unruhen auch die Gefahr verborgen, dass man sich wieder der Gewalt bedient und Menschen tötet. Ich möchte über das alles nicht so viel sprechen, denn dann fangen die westlichen Journalisten an, nicht mehr Fragen über meine Bücher zu stellen, sondern nur solche Fragen.