"Ich bin mitgegangen worden"
Die Töchter des Schriftstellers Hans-Joachim Schädlich mussten zusammen mit ihren Eltern die DDR verlassen. Nun haben sie Freunde und Leidensgenossen gebeten, Erinnerungen an ihre Kindheit und an die Übersiedlung in den Westen aufzuschreiben. Es berichten Moritz Kirsch, Jakob und Benjamin Schlesinger, Johannes Honigmann, die Franck-Zwillingsschwestern und Nadja Klier.
Eine Wahl hatte Johannes Honigmann nicht, als seine Eltern 1984 die DDR verließen und nach Straßburg gingen. Gerade einmal acht Jahre war er alt. Heute konstatiert er rückblickend: "Ich bin mitgegangen worden, denn ich gehörte dazu." Wie Johannes Honigmann, Sohn der Schriftstellerin Barbara Honigmann, ging es vielen Kindern, deren Eltern die DDR verlassen wollten oder mussten, die ausgewiesen oder abgeschoben wurden. So auch Anna und Susanne Schädlich, den Töchtern des Schriftstellers Hans-Joachim Schädlich: "Mit der Ausreiseerlaubnis löste sich innerhalb von nur wenigen Tagen meine bisherige Welt in ein Nichts auf", erinnert sich Anna.
Für ihre Anthologie "Ein Spaziergang war es nicht. Kindheiten in Ost und West" haben die Schädlich-Schwestern Freunde und Leidensgenossen gebeten, Erinnerungen an ihre Kindheit in der DDR aufzuschreiben - und daran, wie sie von heute auf morgen das Land verlassen und sich in einer neuen Umgebung und einem anderen politischen System zurechtfinden mussten. Es sind die Kinder von Künstlern und prominenten Dissidenten, die sich in diesem Buch mit einigen Ausnahmen wie den Franck-Zwillingsschwestern erstmals zu Wort melden. Anders als für ihre Eltern, für die die Ausreise eine große Erleichterung war, die ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen konnten, die verfolgt wurden, stellte sich dieser oft unvorbereitet kommende Wechsel der Lebensumstände für die Kinder völlig anders dar.
"Anna vermisste ich so sehr, dass es körperlich wehtat", so Nadja Klier über das Zurücklassen ihrer besten Freundin. Auch bei Nicki Pawlow kommt nach der ersten spontanen Freude ("In den Westen! Wahnsinn! Sofort war ich Feuer und Flamme!") sogleich der Gedanke an ihren Hund Tapsi und ihre erste große Liebe, die sie nicht mehr wiedersehen wird. Andere denken an ihre Großeltern, an Sommer auf dem Land. Auf der einen Seite steht die Verlusterfahrung, auf der anderen das "Unbekannte, ohne die Erfahrungen und das Wissen, mit dem Erwachsene dieser Situation begegnen", so Klier.
Die Erfahrungen der Kinder ähneln sich auch im Westen. Viele beschreiben das Bunte im Vergleich zur DDR, das plötzliche Waren-Überangebot, die Probleme, sich in der Schule zurechtzufinden. Trotzdem gehen sie unterschiedlich mit den neuen Lebensumständen um - was sich nicht zuletzt in den manchmal kühl, berichthaft gehaltenen, manchmal emotionalen, manchmal betont artifiziellen Erinnerungstexten des Buches niederschlägt. Von Zerrissenheit ist viel die Rede, einer Zerrissenheit, die übrigens nicht nur eine zwischen Ost und West ist, sondern auch familiär bedingt: Viele der Beiträger stammen aus Beziehungen, die schon in der DDR, in die Brüche gingen, wachsen meist bei der Mutter und einem Stiefvater ("Papa zwei") auf. Ein Spaziergang war es für alle nicht - dafür hat die politische Teilung Deutschlands das Schicksal ihrer privaten Biografien zu sehr beeinflusst.
Besprochen von Gerrit Bartels
Anna Schädlich/Susanne Schädlich (Herausgeberinnen):
Ein Spaziergang war es nicht
Kindheiten zwischen Ost und West
Heyne, München 2012
317 Seiten, 19, 99 Euro
Für ihre Anthologie "Ein Spaziergang war es nicht. Kindheiten in Ost und West" haben die Schädlich-Schwestern Freunde und Leidensgenossen gebeten, Erinnerungen an ihre Kindheit in der DDR aufzuschreiben - und daran, wie sie von heute auf morgen das Land verlassen und sich in einer neuen Umgebung und einem anderen politischen System zurechtfinden mussten. Es sind die Kinder von Künstlern und prominenten Dissidenten, die sich in diesem Buch mit einigen Ausnahmen wie den Franck-Zwillingsschwestern erstmals zu Wort melden. Anders als für ihre Eltern, für die die Ausreise eine große Erleichterung war, die ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen konnten, die verfolgt wurden, stellte sich dieser oft unvorbereitet kommende Wechsel der Lebensumstände für die Kinder völlig anders dar.
"Anna vermisste ich so sehr, dass es körperlich wehtat", so Nadja Klier über das Zurücklassen ihrer besten Freundin. Auch bei Nicki Pawlow kommt nach der ersten spontanen Freude ("In den Westen! Wahnsinn! Sofort war ich Feuer und Flamme!") sogleich der Gedanke an ihren Hund Tapsi und ihre erste große Liebe, die sie nicht mehr wiedersehen wird. Andere denken an ihre Großeltern, an Sommer auf dem Land. Auf der einen Seite steht die Verlusterfahrung, auf der anderen das "Unbekannte, ohne die Erfahrungen und das Wissen, mit dem Erwachsene dieser Situation begegnen", so Klier.
Die Erfahrungen der Kinder ähneln sich auch im Westen. Viele beschreiben das Bunte im Vergleich zur DDR, das plötzliche Waren-Überangebot, die Probleme, sich in der Schule zurechtzufinden. Trotzdem gehen sie unterschiedlich mit den neuen Lebensumständen um - was sich nicht zuletzt in den manchmal kühl, berichthaft gehaltenen, manchmal emotionalen, manchmal betont artifiziellen Erinnerungstexten des Buches niederschlägt. Von Zerrissenheit ist viel die Rede, einer Zerrissenheit, die übrigens nicht nur eine zwischen Ost und West ist, sondern auch familiär bedingt: Viele der Beiträger stammen aus Beziehungen, die schon in der DDR, in die Brüche gingen, wachsen meist bei der Mutter und einem Stiefvater ("Papa zwei") auf. Ein Spaziergang war es für alle nicht - dafür hat die politische Teilung Deutschlands das Schicksal ihrer privaten Biografien zu sehr beeinflusst.
Besprochen von Gerrit Bartels
Anna Schädlich/Susanne Schädlich (Herausgeberinnen):
Ein Spaziergang war es nicht
Kindheiten zwischen Ost und West
Heyne, München 2012
317 Seiten, 19, 99 Euro