"Ich freue mich mehr, als ich sagen kann"

Friedrich Christian Delius im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
"Ich bin immer jemand, der schreibt, weil er Fragen hat", sagt Friedrich Christian Delius. Er suche sich durch das Schreiben die Antworten und wolle nicht mit einem bestimmten Vorwissen irgendeine Politik verkaufen.
Liliane von Billerbeck: Braun, Mayröcker, Hilbig, Kluge, Genazino, Kronauer, Pastior, Mosebach, Winkler, Kappacher, Jirgl – das war die Liste der vorigen zehn Büchner-Preisträger seit dem Jahr 2000. Und der Schriftsteller, der in diesem Jahr mit dem renommiertesten deutschen Literaturpreis geehrt wird, das ist Friedrich Christian Delius. Er war Verleger bei Wagenbach und Rotbuch und ist Autor von Gedichten, Essays, Erzählungen und Romanen. Und weil er der 60. Preisträger ist, legt die Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt auf das Preisgeld noch was drauf: Insgesamt gibt's also diesmal 50.000 Euro. Mit dem frisch gekürten Büchner-Preisträger habe ich vor unserer Sendung gesprochen. Herr Delius, ich grüße Sie, und erst mal herzlichen Glückwunsch!

Friedrich Christian Delius: Ja, vielen Dank!

von Billerbeck: Was macht diesen Büchner-Preis – also mal abgesehen von der Penunze – zu einem besonderen Preis?

Delius: Na ja, er gilt als der sogenannte bedeutendste deutsche Literaturpreis, und für mich, der so seit beinahe 40 Jahren immer am Rande des Literaturbetriebs sich bewegt hat, war das natürlich auch immer eine große Sache, wenn im Sommer dieser Preis verkündet wurde und im Herbst vergeben wurde. Und ich muss auch sagen: Ich habe die Entscheidungen immer mit viel Respekt und Neugier verfolgt, und so hat sich allmählich herausgebildet dieses Bild, dass das nun der bedeutendste deutsche Literaturpreis sei. Ob es so ist, das sollen andere entscheiden, aber ich freue mich jedenfalls mehr, als ich sagen kann, über dieses Ergebnis.

von Billerbeck: Sie haben auf jeden Fall jetzt diesen Ritterschlag bekommen, denn als solchen muss man den Preis ja wohl bezeichnen. Ich habe heute noch mal einen biografischen Text von Ihnen gelesen, den haben Sie "Selbstporträt mit Schimpansen" betitelt, und da schreiben Sie darüber, dass Sie – 1943 geboren in Rom, Ihr Vater war Pfarrer, und aufgewachsen sind Sie ja vor allem im Hessischen – zwischen Bücherregalen und Fußballplatz Lesen und Schreiben gelernt haben und zugleich stotternd und stumm geworden seien. Brachte Sie das Stottern zum Schreiben?

Delius: Ja, ich bin heute ziemlich sicher, dass das Stottern, was ja eine Form von Schweigen ist, was auch eine Form des Respekts vor Sprache eigentlich ist, mich zum Schreiben gebracht hat, denn durch das Schreiben, durch das Finden der Wörter in mir selbst, so als pubertierender Kerl, habe ich so langsam entdeckt, dass ich überhaupt eine Sprache habe, und das war eine solche Befreiung, dass man da Wörter bilden konnte, dass man ungewöhnliche Sätze bilden konnte, die in kein Lesebuch gepasst hätten, dass man sich da an der Sprache sozusagen aus dem Sumpf am eigenen Schopf hochzieht. Diese Erfahrung habe ich als Jugendlicher gemacht, und das gehört für mich sozusagen sehr zusammen, das Schweigen und das Schreiben.

von Billerbeck: Was wollten Sie damals werden, was haben Sie denn als Erstes geschrieben?

Delius: Ich habe früher natürlich Gedichte geschrieben wie jeder Pubertierende, und ich habe mir nie vorgestellt oder jedenfalls nicht vorstellen wollen, ernsthaft irgendwie Schriftsteller zu werden. Ich habe als Berufswunsch beim Abitur angegeben: Redakteur oder Lektor, das heißt, ich wollte Lektor in einem Verlag werden oder in einem anständigen Funkhaus ein gutes Literaturprogramm machen. Das habe ich mir mit 20 Jahren vorgenommen. Und das Erstere habe ich geschafft, und das andere ist mir nicht gelungen, aber dafür habe ich ein paar Bücher geschrieben.

von Billerbeck: Dafür dürfen wir Sie jetzt interviewen, das ist ja auch schön. Damals haben Sie in die väterliche Schreibmaschine gehämmert, habe ich gelesen, und in Ihrer Biografie steht auch richtig als extra Punkt: Seit 1986 - Beginn des Computerzeitalters. Hat sich dadurch Ihre schriftstellerische Arbeit, hat sich dadurch das Schreiben verändert, dass Sie also nicht mehr in eine mechanische Schreibmaschine gehämmert haben?

Delius: Das würde ich so nicht sagen, dass sich das Schreiben verändert hat. Vielleicht bin ich noch strenger dadurch geworden mit mir selber, weil es ja nichts Teuflischeres gibt als eine schön ausgedruckte Seite, die auf den ersten Blick fein aussieht, aber wenn man näher hinguckt, voller Fehler und Schiefheiten ist. Das heißt also, dass ich da eigentlich noch mehr geguckt habe, noch mehr Fassungen gemacht habe, ob wirklich jeder Satz das Optimum ausdrückt. Und sonst weiß ich eigentlich nicht, warum ich das in meiner Biografie vermerkt habe, aber es war schon ein Sprung.

von Billerbeck: Sie gehören ja noch zu der Generation, die ohne Fernsehen erzogen worden ist, und Sie schreiben darüber, "eine Generation, die es so gut hat wie keine vor ihr und so gut, wie es keine nach ihr haben wird, und die dies Privileg verdammt schlecht genutzt hat". Erklären Sie uns das!

Delius: Ich denke, dass die Generation der jetzt 60-, 70-Jährigen, die ich damit meine, die nicht mehr den Krieg direkt erlebt hat – also er steckt uns noch natürlich in den Knochen, auch wenn wir nur Babys waren –, dass wir sozusagen erst mal so eine lange Friedenszeit hatten, und dann eben in diesen doch von Wohlstand und Wachstum geprägten Phasen aufgewachsen sind. Also wir konnten uns ja alle ein schlechtes Abitur leisten, um mal ein Beispiel zu nennen. Ich war ein ganz schlechter Schüler, und ich hätte mit meinem Zeugnis nie irgendwas Besseres werden können oder studieren können. Und auch als Studenten wussten wir: Ja, irgendwo werden wir schon unterkommen. Und das meine ich: Wir sind jetzt in einer Phase, wo das mit dem Wachstum nicht mehr so weitergehen wird, wo alles schwieriger wird, die Welt wesentlich komplexer wird. Und diese Sache ist ein Privileg unserer Generation, und wenn man sehr kritisch ist, kann man sagen: Wir haben vielleicht zu wenig daraus gemacht. Also was das nun im Einzelnen ist, was wir nicht gemacht haben, will ich jetzt nicht erörtern, aber diesen Gedanken sollte man jedenfalls nicht aus dem Kopf lassen.

von Billerbeck: Friedrich Christian Delius ist mein Gesprächspartner, der Georg-Büchner-Preisträger 2011. Sie werden ja gern immer als politischer Autor beschrieben – als findig, kritisch, ideologieresistent, menschenfreundlich und politisch hellwach werden Sie denn auch in der Begründung der Akademie für den Büchner-Preis genannt.

Delius: Habe ich noch gar nicht gelesen, okay.

von Billerbeck: Sehen Sie mal, ich kenn die schon! Unsere Kritikerin Sigrid Löffler hat über Sie gesagt, Sie hätten, anders als andere aus Ihrer Alterskohorte, "Haltung bewahrt" und seien nie ideologisch gewesen, nie eifernd. Dennoch: Bedeutet Ihnen dieses Adjektiv "politischer Autor" etwas?

Delius: Also wenn es so verstanden wird, wie es da definiert ist und wie Frau Löffler das gesagt hat, bin ich mit dem Begriff "politisch" einverstanden, nur: Früher wurde dieser Begriff "politisch" eher ... ja, der ist irgendwie engagiert, der will was, der will seine Meinungen verkaufen oder eine bestimmte Richtung verkaufen – das wollte ich nie. Ich bin immer jemand, der schreibt, weil er Fragen hat. Weil ich bestimmte Sachen nicht weiß, will ich wissen, wie es genauer ist, und durch das Schreiben mir sozusagen die Antworten suchen, und nicht mit irgendeinem Vorwissen eine Politik verkaufen. Und wenn man den Begriff so versteht, wie ich es eben angedeutet habe, dann finde ich das in Ordnung.

von Billerbeck: Was mich gefreut hat: Als ich las, dass Sie trotz der Politisierung durch die '65-, 66-, 67-, 68er-Jahre über sich selbst geschrieben haben, Sie hätten damals zehn Mal mehr Jean Paul und Fontane gelesen als Marx. Ich muss mich oft rechtfertigen, wenn ich Fontane verteidige und ihn immer wieder lese. Warum hängen Sie so an dem Alten?

Delius: Ich finde, dass die alten Meister nicht nur gut zu lesen sind, sondern da steckt ja sozusagen so viel Welterfahrung drin, so viel Erinnerung. Und Literatur hat ja das Schöne an sich, dass man Erfahrungen, die andere gemacht und aufgeschrieben haben, auch speichern und übertragen kann. Also man kann viel fürs Leben lernen, wenn man solche Bücher liest, und dazu gehört Fontane, dazu gehören viele, viele, viele und jede gute Literatur, und das ist das beste Medium, um sich in der Welt zurechtzufinden. Deshalb ist die Literatur für mich immer doch noch das eigentliche Leitmedium, also jedenfalls von der Substanz her.

von Billerbeck: In der Begründung der Akademie, um die noch mal zu zitieren, da steht unter anderem auch, Ihre Texte loteten die historischen Tiefendimensionen der Gegenwart aus, und unsere Kritikerin sagte, Sie hätten ein feines Gespür für politische Moral und Verletzungen des Rechtsstaates. Wenn man Ihre Bücher ansieht, dann sieht man, dass Sie oft reale Geschichten und Personen verwenden für Ihre Erzählungen und Romane. Wie wichtig ist dieses Dokumentarische für die fiktionale Literatur?

Delius: Ja, es ist eigentlich gar nicht so sehr das Dokumentarische, dokumentarisch wird ja meistens so verstanden, dass ... da wird eben ein Dokument abgeschrieben und aufgeschrieben, sondern ich würde es genauere Recherche nennen, so wie Heinrich von Kleists "Michael Kohlhaas" ist auch kein dokumentarisches Werk, aber der Heinrich von Kleist hat sehr genau die Akten des Falles Kohlhaas studiert. Und so ist es in meinen Büchern auch, dass ich natürlich, wenn ich Material zur Verfügung habe, wenn ich Akten zur Verfügung habe – Beispiel das Buch "Mein Jahr als Mörder" mit der Ärztin aus Berlin, die eben in Westberlin, von Westberliner Justiz, wie man schon sagen kann, verfolgt wird –, dann hole ich natürlich aus den Akten was raus. Ob man das dokumentarisch nennt oder nicht, ist mir eigentlich egal. Für mich gehört das zur Recherche, um Figuren, um Situationen so präzise wie möglich zu beschreiben.

von Billerbeck: Sie haben auch eine Trilogie über den Deutschen Herbst geschrieben, das war ja damals eines der wichtigen Themen. Auch nach der deutschen Wiedervereinigung gibt es ein Buch, "Die Birnen von Ribbeck". Hat es Sie eigentlich nie gereizt, ein Buch beispielsweise über den 11. September zu schreiben und die Veränderungen, die dadurch auch der Rechtsstaat durchgemacht hat, oder wäre Ihnen das zu zeitgeistig gewesen?

Delius: Das ist für mich immer eine Frage des literarischen Einfalls. Es gibt sehr viele spannende Themen, aber man muss den richtigen literarischen Einfall dafür haben, und da finde ich es also wesentlich besser, was DeLillo gemacht hat mit "Falling Man", oder was Thomas Lehr gemacht hat mit seinem Roman, der vor Kurzem erschienen ist. Die haben sich da wirklich ganz anders drauf eingelassen. Ich hatte die entsprechenden Ideen oder Einfälle nicht, also das ist völlig in Ordnung, wenn andere Bücher das so gut machen, dann muss ich mir auch nichts in diese Richtung noch ausdenken.

von Billerbeck: Friedrich Christian Delius war das, der Schriftsteller wird mit dem Georg-Büchner-Preis 2011 ausgezeichnet, dem renommiertesten deutschen Literaturpreis. Heute Abend liest Delius im Dresdner Festspielhaus Hellerau, und zwar ab 19 Uhr.


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F. C. Delius erhält Büchner-Preis