"Ich glaube, dass die FDP den Ernst der Lage nicht begriffen hat"

Heiner Geißler im Gespräch mit Christina Selzer und Ulrich Ziegler |
Der ehemalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler attackiert die FDP. So müssten die Liberalen bei der Hartz IV-Debatte verstehen, dass die Grundrechenarten nicht außer Kraft gesetzt werden könnten, unterstrich der CDU-Politiker.
Deutschlandradio Kultur: Herr Geißler, täuscht der Eindruck oder steckt die CDU in einer Identitätskrise?

Heiner Geißler: Nein, das wird von einigen in den eigenen Reihen herbeigeredet und natürlich von Interessierten, angeblichen Freunden, in die Partei hineingetragen. Das hängt aber damit zusammen, dass es eben immer eine Reihe von Leuten gibt, die den Ursprung der CDU nicht verstanden haben. Die CDU ist eine Partei neuen Typs. Sicher sind in der CDU konservative, liberale, christlich-soziale Strömungen zusammengeflossen, aber die CDU ist nicht eine reine Addition dieser Strömungen, sondern ist eine Partei neuen Typs. Da ist etwas Eigenes entstanden. Wir sind keine konservative Partei, sondern eine christlich-demokratische Partei.

Deutschlandradio Kultur: Aber Entschuldigung, selbst Saarlands Ministerpräsident Müller fordert von Frau Merkel "mehr CDU pur". Und wenn der Generalsekretär Gröhe sagt, der "Partei mangelt es an Profil", dann besteht doch eine Identitätskrise.

Heiner Geißler: Nein, da kann höchstens ein christlich-demokratisches Profil fehlen. Aber viele meinen, man müsse ein konservatives oder liberales Profil schärfen. Das ist natürlich absolut die falsche Fährte. Denn dass dies der falsche Weg ist, kann man am politischen Gegner leicht erkennen. Gerhard Schröder hat gleich in seiner ersten Regierungserklärung 1998 die CDU-Fraktion immer nur als "konservative" angesprochen. Er hat nur gesprochen: "ihr Konservativen, die konservative Fraktion". Und es ist klar, was damit verbunden ist. Man will die CDU auf das Niveau der Tory-Partei in England reduzieren. Aber wir sind nicht zu verwechseln mit den Torys. Außerdem sind die auch aus der EVP, aus der Europäischen Volkspartei, wieder ausgeschieden, weil es einfach nicht kompatibel war.

Deutschlandradio Kultur: Sie sagen, "wir sind nicht konservativ". Gibt es denn einen Linksruck? Es gründete sich jetzt ein "Arbeitskreis engagierter Katholiken" in der CDU, die vor einem Linkstrend warnen.

Heiner Geißler: Das sind die Piusbrüder, der CDU. Also, die brauchen wir nun wirklich nicht als Extra-Organisation. Die haben bei uns auch Platz, aber die CDU ist keine aufgemotzte Partei bibeltreuer Christen. Und die sind keine klerikale Partei. Wir sind christliche Demokraten und wir versuchen auch nicht das Evangelium oder irgendeine Theologie eins zu eins in die politische Praxis umzusetzen. Das ist alles ausdiskutiert, auch auf den Grundsatzprogrammen. Diese Grundsatzfragen sind geklärt. Man muss sich eben ein bisschen damit beschäftigen, dann läuft man nicht in diese von angeblichen Freunden aufgestellte Falle hinein.

Die CDU hat ein ethisches Fundament. Das ist entscheidend. Deswegen heißt sie "Christlich-Demokratische Union". Das ist eine Herausforderung. Für viele ist das eine Blasphemie. Für viele ist das eine Unverschämtheit, dass wir uns anmaßen, das "C" im Namen zu haben, aber die Begründung liegt in diesem ethischen Fundament. Unser Fundament muss das christliche Menschenbild sein. Das kann man auch als "humanes" Menschenbild bezeichnen. Das ist im Grunde genommen identisch. Und dieses christliche Menschenbild als Grundlage der Politik, das fordert knallharte Konsequenzen. Und diese Konsequenzen, die werden in der CDU sehr oft nicht gezogen. – Das ist wahr.

Deutschlandradio Kultur: Was meinen Sie denn da an Konsequenzen knallharter Art?

Heiner Geißler: Karl Marx hat einmal in einer seiner frühen Schriften gesagt: "Der Mensch, wie er geht und steht, ist nicht der eigentliche Mensch, sondern er muss zur richtigen Klasse gehören, das richtige gesellschaftliche Bewusstsein haben." Bei den Nazis musste man zur richtigen Rasse gehören. Bei den Fundamentalisten muss man die richtige Religion haben oder darf keine Frau sein. Das heißt, es sind negative Kategorisierungen, die diese Menschenbilder beinhalten. Das christliche Menschenbild kennt solche Ausgrenzungen nicht, sondern da ist der Mensch, wie er geht und steht, der eigentliche Mensch, unabhängig davon, ob er Mann oder Frau ist.

Da sind wir schon bei einem Problem, ob die CDU dieses Menschenbild immer berücksichtigt. Ob jung oder alt, wir dürfen die Umwelt nicht versauen zu Lasten unserer Kinder und Enkelkinder. Aber umgekehrt gilt es natürlich genauso. In England kriegen Leute, die älter sind als 80 Jahre, keine Bypassoperation, kein künstliches Hüftgelenk, es sei denn, sie haben genügend privates Geld – eine Zweiklassenmedizin. Aber wir steuern im Moment genau auf eine solche Zweiklassenmedizin zu. Die heutige, die jetzige gravierende negative Kategorisierung des Menschen besteht darin, dass er zum Kostenfaktor reduziert wird. Das heißt, er gilt umso mehr, je weniger er kostet, und er gilt umso weniger, je mehr er kostet. Damit muss sich die CDU beschäftigen. Das ist die zentrale Frage, nicht die Sexualprobleme irgendwelcher Bischöfe oder jetzt der Piusbrüder da in der CDU, die sich da mehr mit solchen Fragen beschäftigen. Das spielt überhaupt keine Rolle.

Deutschlandradio Kultur: Also, halten wir mal fest, Herr Geißler: Also, die CDU ist modern, zupackend, all diese positiven Geschichten, aber sie hat dann den falschen Koalitionspartner, wenn Sie beispielsweise die Gesundheitspolitik ansprechen und wir mehr oder weniger leidenschaftlich über Kopfpauschale diskutieren.

Heiner Geißler: Ja gut, die Kopfpauschale kommt ja nicht. Die ist nicht finanzierbar und außerdem bedeutet sie die Auflösung der Solidarität in unserer Gesellschaft. Die Kopfpauschale ist ein zivilisatorischer Rückschritt. Den kann die CDU nicht akzeptieren. Die CDU hat das mal beschlossen, das ist richtig, auf dem Leipziger Parteitag. Aber die Führung der CDU und insgesamt die CDU hat das tief bereut.

Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie sagen, das christliche Menschenbild gehört zur CDU oder zur Union, wie passt das dann mit der FDP zusammen? Läuft die Union Gefahr, ihre Seele an die FDP zu verkaufen?

Heiner Geißler: Ich habe nicht den Eindruck, dass sie das bisher getan hat.

Deutschlandradio Kultur: Na ja, man kann ja schon sagen, es gibt massive Probleme in der Koalition derzeit.

Heiner Geißler: Das schon, das ist klar. Die Koalition muss ja auch nicht schlecht sein, die Koalition mit der FDP. Ich war Generalsekretär zwölf Jahre lang in einer Zeit, in der immerhin acht oder neun Jahre eine Koalition mit der FDP zustande gekommen ist. Und das war keine schlechte Koalition. Nur ich habe damals im Parteipräsidium auch immer wieder gesagt: Auch wenn wir Ja sagen zu dieser Koalition, müssen wir nicht alles übernehmen, was die Liberalen vorschlagen. Wenn ich meinen Hund liebe, muss ich nicht auch seine Flöhe lieben.

Deutschlandradio Kultur: Aber im Moment hat man doch eher den Eindruck nach 100 Tagen Regierung, als ob demnächst wieder Wahlen wären und die sich nur voneinander abgrenzen. Die CSU, die CDU und die Liberalen, also dieses gemeinsame Projekt, wir wollen ja gar nicht von der geistig-politischen Wende reden, dieses gemeinsame Projekt ist nicht erkennbar.

Heiner Geißler: Es ist ja nun nicht alles schief gelaufen. Es ist ja dieses Wachstumsbeschleunigungsgesetz verabschiedet worden, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Das Kindergeld ist erhöht worden, der Kinderfreibetrag ist erhöht worden. Man kann nun nicht sagen, dass da gar nix gemacht worden wäre. Außerdem hat die Kanzlerin natürlich das absolut Richtige getan – und das ist viel entscheidender. Sie hat sich nämlich mit der internationalen Finanzstruktur beschäftigt und hat sowohl in London, wie in Pittsburgh erreicht, dass ganz wichtige Entscheidungen auf die Agenda gekommen sind.

Das ist überhaupt das zentrale Thema, nicht das Klein-Klein, das ab und zu in der Bundesrepublik Deutschland die Themen beherrscht. Da hat die Kanzlerin natürlich absolut Erfolge erzielt und hat dafür gesorgt, dass wir in Europa hier vorankommen. Denn wenn wir keine Reform der internationalen Finanzstruktur bekommen, dann platzt die nächste Blase mit absoluter Sicherheit.

Deutschlandradio Kultur: Aber zwischen FDP und Union sind die Unterschiede doch evident. Da geht's ja nicht nur um Anfangsschwierigkeiten in der Koalition, sondern das sind zwei Weltanschauungen, die da aufeinanderprallen.

Heiner Geißler: Das weiß ich nicht, ob das Weltanschauungen sind. Manchmal sind es auch
Dummheiten. Also, das typische Beispiel ist zum Beispiel, wie ich jetzt gerade von der internationalen Finanzstruktur rede, der Reform, dann ist eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür eine internationale Finanztransaktionssteuer.

Deutschlandradio Kultur: Die haben wir aber noch nicht, Herr Geißler.

Heiner Geißler: Die haben wir nicht, das ist richtig, aber die CDU tritt dafür ein und die FDP ist dagegen – aus nicht verständlichen Gründen, weil sie eigentlich immer noch an der alten Vorstellung hängt des Wirtschaftsliberalismus.

Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir noch mal bei der schwarz-gelben Koalition, den Unterschieden, die man doch im Moment erkennt in der Diskussion. Nehmen wir mal das Beispiel Steuersenkung. Die sind doch Unterschiede. Während sich die einen nach dem Leipziger Parteitag mehr in Richtung Staat orientiert haben, sind die anderen doch dort stehen geblieben. Wie geht das zusammen?

Heiner Geißler: Ich glaube, dass die FDP den Ernst der Lage nicht begriffen hat, dass wir nämlich in der Tat ein neues Wirtschaftssystem brauchen und ein neues Finanzsystem, nicht den Markt abschaffen, das wäre Blödsinn so etwas, oder die Globalisierung zu stoppen, die ist unaufhaltsam, aber wir müssen die Globalisierung humanisieren. Und wir müssen vor allem im Finanzbereich wieder einen geordneten Markt herstellen. Soziale Marktwirtschaft bedeutet geordneten Wettbewerb. Und wir haben auf der globalen Ebene Chaos, wie Benjamin Barber, Professor an der University von Maryland, langjähriger Berater der amerikanischen Regierung, neulich mal in einem Interview gesagt hat. Darauf muss man sich konzentrieren.
Und ein wichtiges Element ist die Finanztransaktionssteuer international, allein, um auch das Geld zu bekommen, das wir brauchen für die Millenniumsziele. Und wenn die FDP hier dagegen ist, dann streut sie eben Sand ins Getriebe. Das ist ein echtes Problem.

Deutschlandradio Kultur: Das ist ein echtes Problem, aber wo führt das dann hin?

Heiner Geißler: Das kann eigentlich nur dazu führen, dass man in dieser Koalition versucht einander zu überzeugen. Da müssen sich manche halt noch die Hörner abstoßen. Es gibt einfach Dinge, die für sich genommen vielleicht theoretisch gar nicht falsch sind, aber die einfach in der Realität nicht praktizierbar sind. Das ist die ganze Frage weiterer Steuersenkungen. Steuersenkungen sind ja nichts Schlechtes. Die CDU ist auch für Steuersenkungen. Aber in einer Zeit, wo wir uns wegen der Finanzkrise, die ja die Politik nicht verschuldet hat, so hoch verschulden mussten, ist eben kein Platz jetzt für weitere Steuersenkungen. Da steht die CDU überhaupt nicht allein, ganz im Gegenteil. Die gesamte Wirtschaft, die Wirtschaftswissenschaften, der Sachverständigenrat, die sagen alle dasselbe.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt doch in der Übersetzung, die FDP muss endlich lernen, dass es mit Steuersenkungen in den nächsten Jahren nichts werden kann, weil man sie nicht gegen finanzieren kann.

Heiner Geißler: Also, so hab ich die Bundesregierung in ihren Äußerungen bisher verstanden – außerhalb vom Außenminister.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt doch, dass es einen Dauerkonflikt zwischen den Koalitionspartnern gibt und das sind keine Anfangsschwierigkeiten.

Heiner Geißler: Es kann ja durchaus eine fruchtbare Diskussion werden. Ich gebe da die Hoffnung überhaupt nicht auf. Ich bin ein anthropologischer Optimist und ich habe immer wieder erlebt, dass man auch andere Leute überzeugen kann. Und den Versuch, den darf man nicht von Vornherein aufgeben.

Deutschlandradio Kultur: Wenn es jetzt aber nicht richtig klappen sollte und wir am 9. Mai beispielsweise Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen haben, mit welcher Strategie müsste eigentlich die CDU da voranschreiten? Müsste sie sagen: Wenn wir die Liberalen davon nicht überzeugen können, suchen wir uns jemand anderen, mit dem wir besser Politik machen können?

Heiner Geißler: Ich glaube, wenn die CDU in NRW zusammen mit den Liberalen eine Mehrheit hat, dann wird diese Koalition fortgesetzt.

Deutschlandradio Kultur: Unabhängig von diesen inhaltlichen Differenzen?

Heiner Geißler: Unabhängig von diesen inhaltlichen Differenzen. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Rüttgers und sein Partner von der FDP haben ja miteinander eine vernünftige Landespolitik betrieben. Warum soll man mit der aufhören?

Deutschlandradio Kultur: Das klingt eher nach Notgemeinschaft.

Heiner Geißler: Na, das glaube ich nicht, also, in NRW mit Sicherheit nicht. Man kann ja die Punkte festmachen, wo die Sache ein bisschen knirscht zwischen der CDU und der FDP. Deswegen ist ja nicht die ganze Koalition infrage gestellt.

Deutschlandradio Kultur: Aber die Liberalen stecken doch im Moment in einer starken Zwickmühle. Wenn sie weiter nach Steuererleichterungen schreien, verlieren sie die verantwortungsbewussten Wähler. Und wenn sie ihr Kernziel aufgeben, verlieren sie die Hardliner.

Heiner Geißler: Ich glaube nicht, dass sie die Steuersenkungspläne aufgeben müssen, genauso wenig, wie die CDU dieses Ziel aufgeben muss. Wir sind ja auch dafür, dass dieser Mittelstandsbauch wegkommt. Es kommt einfach auf den Zeitpunkt an. Und kein Mensch kann vernünftigerweise voraussagen, ob man das im nächsten oder übernächsten Jahr hinkriegt. Das Ziel muss natürlich bleiben. Es geht bei der Steuersenkung nicht um die Frage, ob, sondern nur um die Frage, wie und wann.

Deutschlandradio Kultur: Herr Geißler, Sie sind CDU-Politiker und jetzt haben wir längere Zeit über die FDP geredet. Lassen Sie uns noch mal einen Blick auf die CDU und ihre Seele oder ihren Kern werfen. Muss die Union in den nächsten Wochen und Monaten deutlich sagen – Sie haben es vorher schon mal angesprochen -, wohin sie will und wer sie eigentlich ist?

Heiner Geißler: Ja, das muss man konkret sagen, wenn man mit diesen Leuten redet, ich kenne auch welche, dann bleibt es etwas im Nebulösen, was eigentlich an Profil verlangt wird. Wenn es um das christlich-demokratische Profil geht, dann muss man noch mal rekurrieren eben auf dieses christliche Menschenbild. Dann muss die CDU sich darauf konzentrieren, dass diese wirtschaftsliberale Fundierung der Politik, nämlich den Menschen zu degradieren als Kostenfaktor, nicht mehr Ausgangspunkt sein darf für politische Entscheidungen. Das gilt insbesondere für die Gesundheitspolitik.

Die Kanzlerin hat bei ihrer Regierungserklärung etwas völlig Richtiges gesagt, das Gesundheitswesen insgesamt braucht nicht weniger Geld, sondern braucht mehr Geld. Das ist zunächst mal eine Frage auch des Bewusstseins, der gedanklichen Fundierung der Gesundheitspolitik. Heute mutiert der Patient, der leidende Mensch, der Hilfe sucht, zum Kunden, als ob das Gesundheitswesen der Mediamarkt wäre. Und der Arzt verändert sich zum Fallpauschalenjongleur, der 30 Prozent seiner Arbeitszeit darauf verwenden muss, um die richtige Fallpauschale herauszufinden für den medizinischen Eingriff, den er gerade vorgenommen hat, aber die richtige Fallpauschale natürlich für den Geschäftsführer oder die Geschäftsführerin, die außer Betriebswirtschaftslehre nichts, aber überhaupt nichts gelernt haben und glauben, sie wüssten, wie man ein Krankenhaus führt im Interesse der Patienten.

Deutschlandradio Kultur: Einige sehen ja, dass gerade das christliche Menschenbild zu wenig präsent ist in der Union. Selbst der Kölner Kardinal Meißner hat ja den Vorschlag gemacht, das "C" einfach aus dem Namen zu streichen, wenn es nur noch eine nostalgische Erinnerung ist.

Heiner Geißler: Ja gut, der hat ja von der CDU keine Ahnung. Mir wäre es eigentlich mal lieb, die Katholische Kirche oder den Kardinal Meißner würde sich mit den Problemen beschäftigen, die das Evangelium von ihnen fordert. Zum Beispiel, wenn man jetzt an die Debatte um Hartz IV denkt, Millionen von Menschen, die am Rande es Existenzminimums leben, wenn man hört, wie über diese Leute geredet wird, da würde ich eigentlich von der Katholischen Kirche auch erwarten, dass da mal ein klares Wort gesprochen wird. Wenn wir schon über das christliche Menschenbild sprechen, dann kann man ja mal die Frage stellen: Was würde eigentlich Jesus heute sagen zu dieser ganzen Debatte?

Der wäre natürlich voll auf der Seite der kleinen Leute, der Schwachen, der Armen, und würde für sie eintreten. Denn für die anderen wird ja ohnehin genügend geredet und getan. Der Kardinal äußert sich immer nur zu Sexualproblemen, ob Homosexuelle heiraten dürfen, ob solche Partnerschaften Adoptionsrechte haben. Das wird in den Mittelpunkt gestellt. Und daran wird abgeleitet, ob die CDU eine christliche oder eine C-Partei sein kann. Das ist aber nicht das Charakteristikum der Christlich-Demokratischen Union, die Homosexualität.

Deutschlandradio Kultur: Aber Fakt ist, dass diese Wählerschicht der Union verloren geht.

Heiner Geißler: Da habe ich ganz andere Erfahrungen. Die Stammwähler, auch die katholischen Stammwähler, es gibt auch evangelische Stammwähler, die sind nicht dümmer als die anderen. Die fallen doch auf solche Parolen und Argumente nicht herein.

Deutschlandradio Kultur: Also, setzen wir die CDU nicht mit der Kirche gleich, sondern es gibt irgendwie eine Wertegemeinschaft, die Sie beschrieben haben. Dann haben Sie zwei Beispiele genannt: Kopfpauschale, Gesundheitssystem reformieren. Das Zweite Beispiel war Hartz IV und Regelsätze, dass man sich darum kümmern müsste. Die FDP hat aber völlig andere Vorstellungen als die CDU. Die sagen, auch diese Woche wieder aktuell: Lasst uns die Hartz-IV-Sätze möglicherweise nach unten korrigieren. – Wie soll das vier Jahre gehen?

Heiner Geißler: Die Liberalen müssen bei der Hartz-IV-Debatte natürlich wieder kapieren, dass man die Grundrechenarten nicht außer Kraft setzen kann. Denn wenn das Bundesverfassungsgericht jetzt festgelegt hat im Wesentlichen, dass die jetzigen Regelsätze neu überprüft werden müssen, weil sie zumindest für Kinder, aber wahrscheinlich eben auch für die Erwachsenen, dieses menschenwürdige Existenzminimum nicht wiedergeben, widerspiegeln, und auf der anderen Seite dann aber gesagt wird, wer arbeitet soll mehr verdienen als derjenige, der nicht arbeitet, also, der Hartz-IV-Empfänger ist, dann gibt es ja nur eine logische Konsequenz, dass, wenn Hartz IV nicht nach unten abgesenkt werden kann, natürlich nur die Löhne erhöht werden. Eine andere Alternative gibt es nicht. Das wird aber dann nicht ausgesprochen.

Wir haben eine zutiefst unehrliche Debatte in dieser Frage, absolut unehrlich! Wir haben ja in der Wirklichkeit heute schon fünf, sechs Mio. Menschen mit geringfügiger Beschäftigung, die arbeiten, und zwar Vollzeit, aber sie kriegen für diese Vollzeitarbeit Löhne von sechs Euro, fünf Euro sogar. Sie können von dem, was sie vom Arbeitgeber bekommen, gar nicht leben. Und infolgedessen müssten eigentlich diese Löhne angehoben werden, wenn der Satz stimmen soll, dass sie mehr verdienen müssten, als die Hartz-IV-Leute.

Das Schlimme ist ja, dass es immer mehr Arbeitgeber gibt, die ihren Leuten niedrige Löhne bezahlen, obwohl sie höhere bezahlen könnten, und sagen: Den Rest holt ihr euch beim Staat, beim Steuerzahler. Das ist der eigentliche Skandal, der sich abspielt um Hartz IV herum.

Deutschlandradio Kultur: Wäre es dann nicht ehrlicher zu sagen, so wie die SPD es immer gefordert hat, wir brauchen flächendeckend Mindestlöhne, damit zumindest die Leute, die Arbeit haben, davon leben können?

Heiner Geißler: Auch die CDU ist für Mindestlöhne. Der Unterschied zur SPD besteht nur darin, dass wir sagen, tarifliche Mindestlöhne sind besser als gesetzliche Mindestlöhne, die in einer Abteilung des Bundesarbeitsministeriums festgelegt werden. Wenn die Tarifvertragsparteien so etwas machen, ist es immer besser, weil die näher am Ball sind. Nur dort, wo es gar keine Tarifvertragspartner gibt, muss der Gesetzgeber gesetzliche Mindestlöhne einführen. Und das macht er ja auch und hat er in der letzten Legislaturperiode mit den Stimmen der CDU ja auch getan.

Deutschlandradio Kultur: Was muss denn jetzt geschehen Ihrer Meinung nach, damit die Union als frische und moderne Regierungspartei wahrgenommen wird?

Heiner Geißler: Die CDU muss ein Konzept entwickeln auf der Grundlage dessen, was sie im Grundsatzprogramm, im letzten schon, formuliert hat, nämlich Humanisierung des Globalisierungsprozesses, und muss sagen, wie dieses Konzept dann im Einzelnen aussehen soll. Das ist eine grandiose Aufgabe. Das erfordert viel geistige Auseinandersetzung. Aber wenn es der CDU gelingt, ein solches Konzept, ich will mal sagen, eine neue Wirtschafts- und Sozialphilosophie, eine internationale ökosoziale Marktwirtschaft zu entwickeln, die Konzepte und die Konturen sind ja schon da, sogar die Einzelheiten, dann wird die CDU auch Volkspartei bleiben.

Deutschlandradio Kultur: Vorige Woche outete sich Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust. Er sagte, er sei "linker und ökologischer geworden". Das passt ja dann ganz gut dazu. Gilt das denn für die gesamte Partei, soll das für die gesamte Partei gelten?

Heiner Geißler: Nun, ökologisch ist absolut richtig, ist aber insoweit auch nichts Neues, es war ja die CDU, die 1982/83, als sie an die Regierung kam, zum ersten Mal mit Umweltschutzpolitik begonnen hat, natürlich auch durchaus angeregt, zum Teil auch gestoßen von den Grünen. Der erste Bestsellerautor über ökologische Fragen, Herbert Gruhl, der sein Buch geschrieben hat 1976 "Ein Planet wird geplündert", der war niedersächsischer CDU-Bundestagsabgeordneter. Die CDU war damals nicht so weit, um das richtig aufzunehmen, geschweige denn von anderen Parteien. Wenn sie das getan hätte, wären die Grünen vielleicht überflüssig gewesen. Aber Sie dürfen ja nicht vergessen, die CDU hat 1982/83 angefangen, die Verklappung der Dünnsäure zu verbieten und das bleifreie Benzin einzuführen, das Katalysatorauto vorzuschreiben.

Deutschlandradio Kultur: Also sind die Christdemokraten die eigentlichen Grünen?

Heiner Geißler: Die CDU war in ihrer Regierungsverantwortung immer grün, auch grün – vielleicht nicht so, da gab's nur einen Punkt, das war die Auseinandersetzung um die Kernkraft.

Deutschlandradio Kultur: Wenn aber die Kanzlerin vor einem Jahr, als sie bei Anne Will war und gesagt hat, "mal bin ich konservativ, mal bin ich christlich-sozial und mal bin ich liberal", dann hat sie was vergessen. Sie hätte ja nun noch sagen müssen, "mal bin ich auch grün".

Heiner Geißler: Das ist sie, sie ist ja die Klima-Kanzlerin und hat die Klimaziele in die Klimapolitik in das Bewusstsein der Leute hineingebracht und weiter verankert – neben den Grünen. Aber das ist eine ganz klare Konzeption der CDU, dass wir nicht nur den Menschen im Mittelpunkt der Politik sehen, sondern auch die Umwelt, die Geschöpfe. Das alles muss ja als eine Einheit angesehen werden.

Deutschlandradio Kultur: Wird Angela Merkel vielleicht die erste Kanzlerin, die nacheinander mit drei unterschiedlichen Koalitionspartnern regiert, also, erst mit der SPD, dann mit der FDP jetzt im Moment und vielleicht künftig mit den Grünen? Wie sehen Sie das?

Heiner Geißler: Ja natürlich ist das durchaus möglich. Es ist nicht sehr intelligent, wenn sich die CDU nur auf einen Koalitionspartner festlegt, den es möglicherweise nach einer Wahl gar nicht mehr gibt oder der zu wenig Stimmen hat oder wo es dann hinten und vorne nicht mehr passt. Die Sozialdemokraten haben den Fehler nie gemacht. Die haben mit allen Koalitionen geschlossen. Wir haben uns halt doch weitgehend festgelegt auf die FDP. Und das ist nicht sehr intelligent, wenn man andere Koalitionen ausschließt – was jetzt keine Aussage gegen die Koalition mit der FDP ist.

Deutschlandradio Kultur: Beliebig hört sich das nicht an? Für uns schon.

Heiner Geißler: Es kommt auf die Inhalte an. Es gibt zwischen den Grünen und der CDU mit Sicherheit mehr inhaltliche Gemeinsamkeiten als zum Beispiel zwischen der CDU und der SPD. Und bei der FDP, da würde ich auch die Hand nicht herumdrehen. In vielen Fragen stehen wir den Grünen näher als anderen Parteien.

Deutschlandradio Kultur: Wenn man mal auf die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen schaut, wenn es dann für Schwarz-Gelb nicht mehr reichen sollte, Sie haben ja gerade schon angedeutet, man sollte sich nicht auf einen Koalitionspartner fixieren, bei dem es nachher hinten und vorne nicht mehr reicht mit den Stimmen, Schwarz-Grün wäre das eine Option und wäre das gut oder wäre das schlecht für die CDU?

Heiner Geißler: Also, wissen Sie, immer die Frage "wenn, wenn, wenn"! Wenn die Katze ein Pferd wäre, könnte man die Bäume hoch reiten, aber man muss sich innerlich auf solche Eventualität natürlich vorbereiten. Die Aussage ist klar von der CDU, dass wir die Koalition dort fortsetzen wollen. Aber nun kann es sein, dass es nicht reicht. Dann muss die CDU andere Überlegungen anstellen. Es kommt drauf an, wer bereit ist, mit der CDU eine Koalition zu machen, wie die Inhalte sind und ob es überhaupt zahlenmäßig reicht. Und man sollte auch den Wähler ernst nehmen und ein bisschen Achtung haben vor der Wahlentscheidung und nicht schon, bevor die Wahl überhaupt stattgefunden hat, irgendwelche Machtpositionen auszudenken.

Deutschlandradio Kultur: Nein, das nicht, aber die Richtung kann man ja schon vorgeben – und Sie sagen es ja auch. Der Wunschpartner ist die FDP. Und wenn der Wunschpartner irgendwie nicht richtig kräftig wird, dann nehmen wir eben die zweite Wahl, das wären dann die Grünen?

Heiner Geißler: Also, wissen Sie, "Wunschpartner", das können Sie meinetwegen so bezeichnen. Ich würde das so nicht bezeichnen. Die Zusammenarbeit zwischen der CDU und FDP war erfolgreich. Infolgedessen ist es ein Akt der Vernunft, eine solche Politik auch fortzusetzen, wenn sie vom Wähler gewollt wird. Das ist ja immer die Voraussetzung.

Deutschlandradio Kultur: Herr Geißler, Sie feiern demnächst Ihren 80. Geburtstag. Jetzt gilt so eine alte Regel, wo man sagt: "Je älter die Menschen werden, desto konservativer werden die." Bei Ihnen hat man den Eindruck, das läuft andersrum. Wie erklären Sie sich das?

Heiner Geißler: Ja, das sind so Sprüche, nicht? Es gibt Alte, die sind in der Tat stockkonservativ. Das ist wahr. Es gibt aber auch Junge, denen rieselt der Kalk aus der Hose. Also, das ist nicht an das Alter gebunden.

Deutschlandradio Kultur: Herr Geißler, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.

Heiner Geißler: Bitteschön.