"Ich glaube, dass die Griechen durchaus Sozialkapital besitzen"
Jedes Land misst sein Bruttoinlandsprodukt. Doch was ist mit Werten wie Vertrauen, Hilfsbereitschaft und Solidarität - beispielsweise während der aktuellen Krise in Griechenland? Das Land habe sein Sozialkapital "noch nicht produktiv nutzen können", meint Alexander Dill, Gründer des Basler Instituts für Gemeingüter und Wirtschaftsforschung.
Joachim Scholl: Jedes Land misst sein Bruttoinlandsprodukt, die Summe aller Wirtschafts- und Dienstleistungen. So entsteht, fassbar in Zahlen, der Unterschied zwischen arm und reich. Was aber ist mit diesen Werten: Vertrauen, Hilfsbereitschaft, Solidarität, die Mentalität eines Volkes? Sind das nicht auch bedeutende Güter, die zählen sollten, zum Beispiel jetzt auch in der aktuellen Krise in Griechenland?
Der Soziologe Alexander Dill hat 2009 das Basler Institut für Gemeingüter und Wirtschaftsforschung gegründet, und er nimmt teil am Social Capital Forum, einem Weltkongress für Sozialkapital in Göteborg, der heute beginnt. Vor seiner Abreise war Alexander Dill bei uns im Studio. Willkommen im Deutschlandradio Kultur!
Alexander Dill: Ja, guten Tag, Herr Scholl!
Scholl: Heute ist die Abstimmung im Bundestag über weitere Hilfen an Griechenland. Da geht es um Unsummen, um die mangelnde Wirtschaftsleistung, um Kreditausfälle. Sie, Herr Dill, sagen, man sollte mal woanders hinschauen, nämlich auf das große Sozialkapital der Griechen. Was wäre das denn?
Dill: Ja, erst mal: Ein Generalstreik, was wir hier als so sehr negativ bewerten, das setzt ja voraus eine ganz große Solidarität und eine große Kommunikation zwischen den Leuten. Also ich glaube, dass die Griechen durchaus Sozialkapital besitzen, das allerdings in der Krise noch nicht produktiv nützen können.
Scholl: Wie wäre dieses Sozialkapital, also immaterielle Güter und Leistungen, in der Krise mit einzubeziehen?
Dill: Das können wir ja als Deutsche ganz in unserer eigenen Vergangenheit sehen. 1952 war Deutschland extrem verschuldet, viel höher übrigens als Griechenland heute, und hat mit einem solidarischen Lastenausgleichsgesetz sich komplett entschuldet. Und in Griechenland werden stattdessen immer neue fiktive Anreize anhand eines fiktiven Bruttosozialprodukt-Kriteriums, des sogenannten Maastricht-Kriteriums, entworfen, die natürlich nie zu Ergebnissen führen.
Scholl: Das heißt, Regierungen sprechen nur mit Regierungen, aber nicht mit dem Volk?
Dill: Die sprechen nicht mit dem Volk, die Parteien ja auch nicht, und dann haben wir natürlich die Situation, dass dieses Sozialkapital der Griechen als Aktiva, als Wert zur Bewältigung der Krise überhaupt nicht zur Sprache kommt, dass die überhaupt erst mal gemessen und auf den Tisch gebracht werden.
Im Moment wird ja so getan, als ob die Regierung alleine, die griechische Regierung ein Problem hat, ein Sparproblem: Sie soll die Zinsen, sie soll die Schulden bezahlen, und sie soll bitte die Zahlen für die Troika liefern. Das geht ja vollkommen am Volk, und zwar an den Reichen wie an den Armen, wie am Mittelstand vorbei.
Scholl: Was könnten die Armen und Reichen in Griechenland denn jeweils tun, was jetzt nicht passiert, Herr Dill?
Dill: Nun, die Reichen müssten das tun, was sie in Deutschland 1952 getan haben, nämlich zu sagen: Wenn wir dieses Land, diese Gemeinschaft irgendwo erhalten wollen, dann müssen wir 50 Prozent unseres Vermögens abgeben.
Das war die Zahl 1952, das ist der sogenannte Benchmark, und den Armen muss klar sein, dass sie durch Generalstreiks und durch die Forderung, die alte, griechische, korrupte Beamtengesellschaft zu rekonstruieren, nichts erreichen können.
Das heißt, sie müssen im Grunde überlegen: Finden wir genossenschaftliche Arbeitsformen, die nicht mehr privatwirtschaftlich sind, um einen großen Teil des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens in Griechenland zu organisieren? Das reicht vom Fährbetrieb über den ganzen Tourismus bis hin zum Flughafen. Das heißt, wir brauchen ein viel stärkeres genossenschaftliches Denken und Wesen in Griechenland.
Scholl: Kommen wir doch jetzt mal zur konkreten Methode, Herr Dill, weil Sie sagen ja, wir müssten diese immateriellen Güter und Leistungen der Griechen, dieses Sozialkapital ja erst mal messen. Sie machen an Ihrem Institut mit einem eigens entwickelten Sozialkapital-Barometer genau das, nämlich das gesellschaftliche Klima eines Landes messen. Wie machen Sie das?
Dill: Ja, wir machen das so, dass wir sieben Indikatoren im Moment haben, die wir messen. Das heißt, wir fragen die Menschen auf einer Skala von eins bis zehn: Guten Tag! Wie bewerten Sie das Sozialklima an Ihrem Ort? Wie bewerten Sie die Hilfsbereitschaft, wie bewerten Sie das Vertrauen, wie bewerten Sie die Freundlichkeit und die Gastfreundschaft? Immer auf einer Skala von eins bis zehn. Diese Fragen stellen wir.
Scholl: Und was ist dabei herausgekommen bislang?
Dill: Wir machen das im Moment in 98 Ländern, und es ist herausgekommen, dass das soziale Klima, was man in einem solchen Barometer wie das Wetter ein bisschen messen kann, keineswegs dort besser ist, wo es reicher ist. Das heißt, wir haben festgestellt, dass in Ländern, die sehr schwierig sind, wo man das nicht erwartet, in mehreren dieser Indikatoren hervorragende Werte erzielt werden.
Die einen haben ihr Sozialkapital in Religion, das gilt für die ganzen arabischen und Nahost-Staaten und auch für Persien, andere haben ihr Sozialkapital in Freiwilligenarbeit, wieder andere haben es in Kunst und Kultur. Ich nenne Ihnen mal ein Beispiel: Die Mexikaner führen fast weltweit in Sachen Freundlichkeit und Gastfreundschaft, weltweit. Und das ist ein Land, von dem wir alles andere annehmen, aufgrund des Drogenkrieges, aufgrund seiner Situation, als dass ausgerechnet in Mexiko die Freundlichkeit am größten ist.
Scholl: Wo steht denn Deutschland?
Dill: Deutschland steht im Mittelfeld, also das heißt, das soziale Klima in Deutschland wird mittelmäßig beurteilt, und das ist keineswegs ein schlechtes Ergebnis für Deutschland.
Scholl: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Soziologen Alexander Dill. Der misst menschliche Werte als Sozialkapital. Nehmen wir doch mal jetzt eher sozusagen Ihren Index als Beispiel: Also wir haben jetzt ein Ergebnis für ein Land, sagen wir mal, Sie messen jetzt Griechenland.
Wie könnte das denn jetzt, dieser Barometer, dieser Wert, den Sie da errechnet haben, jetzt bei diesen aktuellen Verhandlungen von einer Regierung einfließen und dann also auch dadurch, wenn man so will, wertschöpfend werden?
Dill: Ganz einfach: Wenn also die griechische Politik den Mut hätte, ihren Bürgern die Wahrheit zu sagen und sie zu belasten mit den Opfern, die nötig sind, um eine Entschuldung und einen Neuanfang von Griechenland zu erreichen, dann können sie das nur dann tun, wenn sie wirklich den Eindruck haben, dass die Menschen zum Beispiel auf den Punkt Hilfsbereitschaft vertrauen, bereit sind, einen solchen Vertrauensvorschub wieder zu geben.
Wenn dies nicht der Fall ist, dann sind sie in der Situation, dass sie, wie jetzt, völlig alleine agieren, mit der Troika, mit der EU, und nicht den geringsten Ansatz haben, in einer Selbsthilfe Griechenland sozusagen wie Münchhausen aus dem Sumpf herauszuziehen.
Scholl: Wie beeinflussen Krisen, wie sie jetzt Griechenland so extrem erlebt, das Sozialkapital? Sie sagten vorhin schon, ja, Generalstreik – da muss man sozusagen erst mal eine Art von Zwischenmenschlichkeit aufbringen, dass die Menschen sich zusammentun. Was gibt es noch für andere Beispiele? Was würden Sie sagen, was machen Krisen besonders aus beim Sozialkapital?
Dill: Also Krisen zwingen die Menschen dazu, zusammenzuhalten, zusammenzuarbeiten und auch ihre Streitigkeiten beizulegen. Ich hatte das Beispiel Deutschland 1952 genannt. Dort haben die Menschen wirklich zusammengehalten. Und wenn Sie sich heute Gaza angucken, in welcher Situation Gaza ist, die ja versucht werden, sozusagen in einer ethnischen Säuberung vertrieben zu werden seit Jahrzehnten, dann sehen Sie, dass die Menschen dort in einem Trotz zusammenhalten und diese Krise sie nicht schwächt, sondern zumindest in ihrem sozialen Zusammenhalt stärkt. Dass damit die Probleme nicht gelöst werden, ist eine ganz andere Frage.
Scholl: Gibt es aber auch nicht eine notwendige Korrelation, also von wirtschaftlichem Reichtum und Sozialkapital? Also da, wo wirklich Armut herrscht, muss sich ja notgedrungen ja jeder selbst oder seiner Familie der Nächste sein, oder nicht?
Dill: Das ist das Interessante. Also entweder können wir sagen, und so wird es im Moment auch gemacht, dass die reichsten Länder eigentlich ja nur deshalb so reich sind, weil sie einmal so viel Sozialkapital aufgebaut haben. Ich nenne mal die Schweiz und die skandinavischen Länder, aber auch Deutschland.
Jetzt können wir aber auch umgekehrt herangehen und könnten sagen: Was ist denn nun beeinflussbar? Das heißt, es würde ja bedeuten, dass ärmere Länder auch durch Sozialkapital reicher werden können. Und das glaube ich.
Scholl: Wenn Sie gerade sagen, also auch ärmere Länder könnten durch Sozialkapital reicher werden – wie muss man sich das konkret vorstellen?
Dill: Also wenn Sie sich die Geschichte von Slowenien seit 2003 angucken: Slowenien war ja einfach ein Teil von Jugoslawien und hat heute ein höheres Pro-Kopf-Einkommen als viele andere Länder in dieser Gegend dort, und hat in erster Linie sich seitdem mit dem Aufbau von Sozialkapital beschäftigt.
Das heißt, die Slowenen haben in vielen Alltagsdingen miteinander Kooperationsformen gefunden, genossenschaftlicher Art, die dahin geführt haben, dass die Wertschöpfung in Slowenien geblieben ist. Und deshalb geht es den Slowenen trotz der jetzigen Krise erheblich besser als zum Beispiel den benachbarten Kroaten.
Scholl: Was wäre Ihre Idealvorstellung, Herr Dill - wo, bei welchen Entscheidungen sollte der Gedanke des Sozialkapitals einfließen?
Dill: Ich denke, immer, wenn es um die sogenannten öffentlichen Güter geht, also um Steuergelder zum Beispiel für Rettungsschirme, Staatsschulden, dann sollte man immer fragen: Können diese Leistungen auch gemeinschaftlich von den Leuten selbst erbracht werden?
Kann ich also mit Solidarität zum Beispiel alte Menschen gemeinschaftlich pflegen und andere Probleme lösen, die heute im Mittelpunkt unserer Steuerausgaben stehen? Ich nenne Ihnen mal eine Zahl: 80 Milliarden Euro beträgt der Zuschuss der Bundeskasse zur gesetzlichen Rentenversicherung. Das ist der jährliche Steuerzahlerverlust, der nur deshalb entsteht, weil es keine Solidarität zwischen Alten und Jungen gibt.
Scholl: Sie treffen heute in Göteborg auf dem Social Capital Forum Kollegen aus aller Welt. Wie weit ist man eigentlich woanders mit diesem Gedanken des Sozialkapitals?
Dill: Es ist allgemein bekannt, dass die Skandinavier – nicht nur die Schweden, sondern auch die Norweger, Finnen und Dänen – dort ganz führend sind, seit langer Zeit schon, dort ist der Begriff auch gebräuchlich. Und ich denke, dass man natürlich von denen viel lernen kann, wie man das lokal umsetzt, also in Stadtverwaltungen, in Ministerien.
Der Erfolg zeigt ja, dass Skandinavien in jeder Hinsicht, also nicht nur in Hinsicht von Frieden und Sicherheit, sondern auch ökonomisch ganz vorne steht. Und ich glaube, dass wir selbst davon viel lernen können und freue mich sehr deshalb, in Göteborg zu sein.
Scholl: Heute versammeln sich in Göteborg Sozialkapitalforscher zu einem Kongress, einer von ihnen ist Alexander Dill. Wir wünschen Ihnen gute Gespräche - und herzlichen Dank für dieses!
Dill: Vielen Dank, Herr Scholl!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Der Soziologe Alexander Dill hat 2009 das Basler Institut für Gemeingüter und Wirtschaftsforschung gegründet, und er nimmt teil am Social Capital Forum, einem Weltkongress für Sozialkapital in Göteborg, der heute beginnt. Vor seiner Abreise war Alexander Dill bei uns im Studio. Willkommen im Deutschlandradio Kultur!
Alexander Dill: Ja, guten Tag, Herr Scholl!
Scholl: Heute ist die Abstimmung im Bundestag über weitere Hilfen an Griechenland. Da geht es um Unsummen, um die mangelnde Wirtschaftsleistung, um Kreditausfälle. Sie, Herr Dill, sagen, man sollte mal woanders hinschauen, nämlich auf das große Sozialkapital der Griechen. Was wäre das denn?
Dill: Ja, erst mal: Ein Generalstreik, was wir hier als so sehr negativ bewerten, das setzt ja voraus eine ganz große Solidarität und eine große Kommunikation zwischen den Leuten. Also ich glaube, dass die Griechen durchaus Sozialkapital besitzen, das allerdings in der Krise noch nicht produktiv nützen können.
Scholl: Wie wäre dieses Sozialkapital, also immaterielle Güter und Leistungen, in der Krise mit einzubeziehen?
Dill: Das können wir ja als Deutsche ganz in unserer eigenen Vergangenheit sehen. 1952 war Deutschland extrem verschuldet, viel höher übrigens als Griechenland heute, und hat mit einem solidarischen Lastenausgleichsgesetz sich komplett entschuldet. Und in Griechenland werden stattdessen immer neue fiktive Anreize anhand eines fiktiven Bruttosozialprodukt-Kriteriums, des sogenannten Maastricht-Kriteriums, entworfen, die natürlich nie zu Ergebnissen führen.
Scholl: Das heißt, Regierungen sprechen nur mit Regierungen, aber nicht mit dem Volk?
Dill: Die sprechen nicht mit dem Volk, die Parteien ja auch nicht, und dann haben wir natürlich die Situation, dass dieses Sozialkapital der Griechen als Aktiva, als Wert zur Bewältigung der Krise überhaupt nicht zur Sprache kommt, dass die überhaupt erst mal gemessen und auf den Tisch gebracht werden.
Im Moment wird ja so getan, als ob die Regierung alleine, die griechische Regierung ein Problem hat, ein Sparproblem: Sie soll die Zinsen, sie soll die Schulden bezahlen, und sie soll bitte die Zahlen für die Troika liefern. Das geht ja vollkommen am Volk, und zwar an den Reichen wie an den Armen, wie am Mittelstand vorbei.
Scholl: Was könnten die Armen und Reichen in Griechenland denn jeweils tun, was jetzt nicht passiert, Herr Dill?
Dill: Nun, die Reichen müssten das tun, was sie in Deutschland 1952 getan haben, nämlich zu sagen: Wenn wir dieses Land, diese Gemeinschaft irgendwo erhalten wollen, dann müssen wir 50 Prozent unseres Vermögens abgeben.
Das war die Zahl 1952, das ist der sogenannte Benchmark, und den Armen muss klar sein, dass sie durch Generalstreiks und durch die Forderung, die alte, griechische, korrupte Beamtengesellschaft zu rekonstruieren, nichts erreichen können.
Das heißt, sie müssen im Grunde überlegen: Finden wir genossenschaftliche Arbeitsformen, die nicht mehr privatwirtschaftlich sind, um einen großen Teil des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens in Griechenland zu organisieren? Das reicht vom Fährbetrieb über den ganzen Tourismus bis hin zum Flughafen. Das heißt, wir brauchen ein viel stärkeres genossenschaftliches Denken und Wesen in Griechenland.
Scholl: Kommen wir doch jetzt mal zur konkreten Methode, Herr Dill, weil Sie sagen ja, wir müssten diese immateriellen Güter und Leistungen der Griechen, dieses Sozialkapital ja erst mal messen. Sie machen an Ihrem Institut mit einem eigens entwickelten Sozialkapital-Barometer genau das, nämlich das gesellschaftliche Klima eines Landes messen. Wie machen Sie das?
Dill: Ja, wir machen das so, dass wir sieben Indikatoren im Moment haben, die wir messen. Das heißt, wir fragen die Menschen auf einer Skala von eins bis zehn: Guten Tag! Wie bewerten Sie das Sozialklima an Ihrem Ort? Wie bewerten Sie die Hilfsbereitschaft, wie bewerten Sie das Vertrauen, wie bewerten Sie die Freundlichkeit und die Gastfreundschaft? Immer auf einer Skala von eins bis zehn. Diese Fragen stellen wir.
Scholl: Und was ist dabei herausgekommen bislang?
Dill: Wir machen das im Moment in 98 Ländern, und es ist herausgekommen, dass das soziale Klima, was man in einem solchen Barometer wie das Wetter ein bisschen messen kann, keineswegs dort besser ist, wo es reicher ist. Das heißt, wir haben festgestellt, dass in Ländern, die sehr schwierig sind, wo man das nicht erwartet, in mehreren dieser Indikatoren hervorragende Werte erzielt werden.
Die einen haben ihr Sozialkapital in Religion, das gilt für die ganzen arabischen und Nahost-Staaten und auch für Persien, andere haben ihr Sozialkapital in Freiwilligenarbeit, wieder andere haben es in Kunst und Kultur. Ich nenne Ihnen mal ein Beispiel: Die Mexikaner führen fast weltweit in Sachen Freundlichkeit und Gastfreundschaft, weltweit. Und das ist ein Land, von dem wir alles andere annehmen, aufgrund des Drogenkrieges, aufgrund seiner Situation, als dass ausgerechnet in Mexiko die Freundlichkeit am größten ist.
Scholl: Wo steht denn Deutschland?
Dill: Deutschland steht im Mittelfeld, also das heißt, das soziale Klima in Deutschland wird mittelmäßig beurteilt, und das ist keineswegs ein schlechtes Ergebnis für Deutschland.
Scholl: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Soziologen Alexander Dill. Der misst menschliche Werte als Sozialkapital. Nehmen wir doch mal jetzt eher sozusagen Ihren Index als Beispiel: Also wir haben jetzt ein Ergebnis für ein Land, sagen wir mal, Sie messen jetzt Griechenland.
Wie könnte das denn jetzt, dieser Barometer, dieser Wert, den Sie da errechnet haben, jetzt bei diesen aktuellen Verhandlungen von einer Regierung einfließen und dann also auch dadurch, wenn man so will, wertschöpfend werden?
Dill: Ganz einfach: Wenn also die griechische Politik den Mut hätte, ihren Bürgern die Wahrheit zu sagen und sie zu belasten mit den Opfern, die nötig sind, um eine Entschuldung und einen Neuanfang von Griechenland zu erreichen, dann können sie das nur dann tun, wenn sie wirklich den Eindruck haben, dass die Menschen zum Beispiel auf den Punkt Hilfsbereitschaft vertrauen, bereit sind, einen solchen Vertrauensvorschub wieder zu geben.
Wenn dies nicht der Fall ist, dann sind sie in der Situation, dass sie, wie jetzt, völlig alleine agieren, mit der Troika, mit der EU, und nicht den geringsten Ansatz haben, in einer Selbsthilfe Griechenland sozusagen wie Münchhausen aus dem Sumpf herauszuziehen.
Scholl: Wie beeinflussen Krisen, wie sie jetzt Griechenland so extrem erlebt, das Sozialkapital? Sie sagten vorhin schon, ja, Generalstreik – da muss man sozusagen erst mal eine Art von Zwischenmenschlichkeit aufbringen, dass die Menschen sich zusammentun. Was gibt es noch für andere Beispiele? Was würden Sie sagen, was machen Krisen besonders aus beim Sozialkapital?
Dill: Also Krisen zwingen die Menschen dazu, zusammenzuhalten, zusammenzuarbeiten und auch ihre Streitigkeiten beizulegen. Ich hatte das Beispiel Deutschland 1952 genannt. Dort haben die Menschen wirklich zusammengehalten. Und wenn Sie sich heute Gaza angucken, in welcher Situation Gaza ist, die ja versucht werden, sozusagen in einer ethnischen Säuberung vertrieben zu werden seit Jahrzehnten, dann sehen Sie, dass die Menschen dort in einem Trotz zusammenhalten und diese Krise sie nicht schwächt, sondern zumindest in ihrem sozialen Zusammenhalt stärkt. Dass damit die Probleme nicht gelöst werden, ist eine ganz andere Frage.
Scholl: Gibt es aber auch nicht eine notwendige Korrelation, also von wirtschaftlichem Reichtum und Sozialkapital? Also da, wo wirklich Armut herrscht, muss sich ja notgedrungen ja jeder selbst oder seiner Familie der Nächste sein, oder nicht?
Dill: Das ist das Interessante. Also entweder können wir sagen, und so wird es im Moment auch gemacht, dass die reichsten Länder eigentlich ja nur deshalb so reich sind, weil sie einmal so viel Sozialkapital aufgebaut haben. Ich nenne mal die Schweiz und die skandinavischen Länder, aber auch Deutschland.
Jetzt können wir aber auch umgekehrt herangehen und könnten sagen: Was ist denn nun beeinflussbar? Das heißt, es würde ja bedeuten, dass ärmere Länder auch durch Sozialkapital reicher werden können. Und das glaube ich.
Scholl: Wenn Sie gerade sagen, also auch ärmere Länder könnten durch Sozialkapital reicher werden – wie muss man sich das konkret vorstellen?
Dill: Also wenn Sie sich die Geschichte von Slowenien seit 2003 angucken: Slowenien war ja einfach ein Teil von Jugoslawien und hat heute ein höheres Pro-Kopf-Einkommen als viele andere Länder in dieser Gegend dort, und hat in erster Linie sich seitdem mit dem Aufbau von Sozialkapital beschäftigt.
Das heißt, die Slowenen haben in vielen Alltagsdingen miteinander Kooperationsformen gefunden, genossenschaftlicher Art, die dahin geführt haben, dass die Wertschöpfung in Slowenien geblieben ist. Und deshalb geht es den Slowenen trotz der jetzigen Krise erheblich besser als zum Beispiel den benachbarten Kroaten.
Scholl: Was wäre Ihre Idealvorstellung, Herr Dill - wo, bei welchen Entscheidungen sollte der Gedanke des Sozialkapitals einfließen?
Dill: Ich denke, immer, wenn es um die sogenannten öffentlichen Güter geht, also um Steuergelder zum Beispiel für Rettungsschirme, Staatsschulden, dann sollte man immer fragen: Können diese Leistungen auch gemeinschaftlich von den Leuten selbst erbracht werden?
Kann ich also mit Solidarität zum Beispiel alte Menschen gemeinschaftlich pflegen und andere Probleme lösen, die heute im Mittelpunkt unserer Steuerausgaben stehen? Ich nenne Ihnen mal eine Zahl: 80 Milliarden Euro beträgt der Zuschuss der Bundeskasse zur gesetzlichen Rentenversicherung. Das ist der jährliche Steuerzahlerverlust, der nur deshalb entsteht, weil es keine Solidarität zwischen Alten und Jungen gibt.
Scholl: Sie treffen heute in Göteborg auf dem Social Capital Forum Kollegen aus aller Welt. Wie weit ist man eigentlich woanders mit diesem Gedanken des Sozialkapitals?
Dill: Es ist allgemein bekannt, dass die Skandinavier – nicht nur die Schweden, sondern auch die Norweger, Finnen und Dänen – dort ganz führend sind, seit langer Zeit schon, dort ist der Begriff auch gebräuchlich. Und ich denke, dass man natürlich von denen viel lernen kann, wie man das lokal umsetzt, also in Stadtverwaltungen, in Ministerien.
Der Erfolg zeigt ja, dass Skandinavien in jeder Hinsicht, also nicht nur in Hinsicht von Frieden und Sicherheit, sondern auch ökonomisch ganz vorne steht. Und ich glaube, dass wir selbst davon viel lernen können und freue mich sehr deshalb, in Göteborg zu sein.
Scholl: Heute versammeln sich in Göteborg Sozialkapitalforscher zu einem Kongress, einer von ihnen ist Alexander Dill. Wir wünschen Ihnen gute Gespräche - und herzlichen Dank für dieses!
Dill: Vielen Dank, Herr Scholl!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.