"Ich glaube, Erdogan ist ganz massiv angeschlagen"
Die Zustimmungsrate für den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan sei inzwischen deutlich unter 50 Prozent gefallen, sagt der Ehrenvorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Hakki Keskin. Grund sei sein autoritärer Führungsstil.
Jan-Christoph Kitzler: Zwölf Tage haben die Menschen auf dem Taksim-Platz in Istanbul demonstriert, und nebenan im Gezi-Park in der türkischen Stadt haben sie ihre Zelte aufgebaut. Und dann sprach Ministerpräsident Erdogan das Machtwort: Diese Episode sei nun vorbei, sagte er, das Ende der Toleranz sei erreicht. Dann rückten Bagger an und Wasserwerfer, Gummigeschosse flogen und Tränengaspatronen.
Der Platz wurde mit großer Brutalität geräumt, gestern sogar zweimal, aber auch jugendliche Demonstranten warfen Molotow-Cocktails und Steine. Insgesamt wurden bisher rund 5000 Menschen verletzt, vier sind getötet worden.
Die Regierung Erdogan ist schon seit Jahren ein wichtiger Gesprächspartner für die westlichen Staaten und so eine Art Brücke zur muslimischen Welt, aber gerade dieses Bild wird nun nachhaltig erschüttert. Darüber spreche ich mit Hakki Keskin, er ist Politologe, ehemaliger Bundestagsabgeordneter für die Linke und Ehrenvorsitzender für die Türkische Gemeinde in Deutschland. wir erreichen ihn in der Türkei – schönen guten Morgen, Herr Keskin!
Hakki Keskin: Guten Morgen, Herr Kitzler!
Kitzler: Beginnen wir mal mit der Innenpolitik der Türkei, Sie sind ja gerade dort – Ministerpräsident Erdogan hat hart durchgreifen lassen durch Eliteeinheiten und Polizei. Ist das jetzt die Verzweiflungstat eines Mannes unter großem Druck oder eine große Machtdemonstration?
Keskin: Ich glaube, beides. Die Situation ist wirklich sehr, sehr ernst. Ich habe die ganze Nacht fast sozusagen die ganz massiven, heftigen Auseinandersetzungen, Eingriffe der Polizei mit allen möglichen Mitteln, mit Tränengaspatronen, Wasserwerfern, Schlagstöcken und so weiter mitverfolgt. Natürlich gibt es auch vonseiten der Teilnehmer, der Demonstranten, Gegenattacken mit Steinewerfen und so weiter und so fort. Also die Situation hat sich zunehmend eskaliert, dazu hat natürlich die sehr unnachgiebige und starre Haltung des Ministerpräsidenten beigetragen.
Er hat sozusagen Hunderttausende Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft, die an diesen Protesten teilnehmen, als eine Handvoll Lumpen bezeichnet, und er hat sozusagen an dieser seiner Äußerung fest. Und ja, wenn also der Ministerpräsident keinerlei Verständnis zeigt, wozu oder wofür die Leute da sind seit nunmehr 14 Tagen, inzwischen der 15. Tag, dann ärgert er natürlich diese Hunderttausende Menschen, und …
Kitzler: Aber Herr Keskin, die Frage ist doch, wie angeschlagen ist Erdogan? Ist es nicht so, dass die Demonstranten in Istanbul und auch in Ankara ja nur für einen kleinen Teil der türkischen Bevölkerung stehen, und dass der Rückhalt Erdogans gerade auf dem Land, in den ländlichen Gebieten noch weiterhin sehr groß ist?
Keskin: Ja, ich glaube, Erdogan ist ganz massiv angeschlagen. Und er kann jetzt natürlich dies nicht zugeben. Seine sozusagen auch in der Welt verbreitete Meinung, er ist für Demokratie, für Reformen, für Erneuerungen der Türkei da, inzwischen, diese Maske der Demokratie ist, glaube ich, gefallen. Die Kenner der Türkei wissen es, was seit Jahren in der Türkei passiert.
Und natürlich würde er wahrscheinlich heute immer noch nach dem herrschenden Wahlrecht, wenn er etwa 35, 36 Prozent der Stimmen bekommt, wieder gewählt werden. Das ist leider das Wahlkriterium sozusagen in der Türkei. Aber Hunderttausende, das sind aus allen gesellschaftlichen Kreisen, protestieren gegen diese Politik von Erdogan, und ich glaube, die Situation wird nicht mehr so sein, wie es vor 15 Tagen war. Ich glaube, viele Menschen, die ihm Stimmen gegeben haben, werden ernsthaft darüber nachdenken.
Es gibt inzwischen auch so Politbarometer zum Wahlverhalten der Menschen, die jüngsten zeigen, dass der Stimmanteil von Erdogan von nahezu 50 Prozent auf 38 Prozent zurückgefallen ist.
Kitzler: Die Türkei steht ja auch so ein bisschen für die Hoffnung, dass das funktioniert, Demokratie in einem muslimischen Staat. Wie sehen Sie das, hat diese Hoffnung jetzt einen Dämpfer bekommen? Oder ist vielleicht die Bewegung, die da möglicherweise entsteht oder am Entstehen ist, auch gerade ein Zeichen dafür, dass es gerade funktioniert, dass die Demokratie in der Türkei lebt?
Keskin: Herr Kitzler, gerade diese Demonstrationen zeigen, dass in der Türkei laizistische, an Demokratie und Rechtsstaat haltende, aktive Menschen, insbesondere junge Menschen da sind. Viele haben nicht geglaubt, dass diese jungen Menschen so konsequent für diesen demokratischen, laizistischen Rechtsstaat kämpfen würden.
Und diese Demonstrationen, diese sozusagen, diese Art des Folgens, und zwar – das muss ich sagen! – diejenigen, die das organisiert haben, haben jetzt jede Form von Gewalt abgelehnt. Sie haben die Gewalt nicht angewendet. Es gibt natürlich Kreise innerhalb dieser Hunderttausende, Zehntausende Menschen, die Steine werfen oder Molotow-Cocktails werfen als Reaktion auf die brutale Vorgehensweise der Polizei. Aber die große Masse dieser protestierenden, jungen und - aber auch aus allen Bevölkerungsteilen - älteren Menschen, die wollen natürlich, dass endlich mal Schluss gemacht wird mit dieser autoritären Einmann-Regierungsform, diese, was Erdogan nunmehr zunehmend präsentiert.
Die Gewaltenteilung ist in der Türkei faktisch beiseitegelegt, diejenigen, die kritisch sich in der Presse melden, werden entweder von der Presse auf Druck entfernt oder landen in den Gefängnissen. Und mit diesen oder gegen diese Repressalien wird gesagt: Schluss, wir wollen Freiheit! Wir wollen Rechtsstaat! Wir wollen Laizismus – also wir wollen nicht, dass der Staat in allen Lebensbereichen der Menschen eingreift! Und jetzt …
Kitzler: Und wir wollen hoffen, dass das auch friedlich zustande kommt, dieser Protest. Das meint der Politologe Hakki Keskin, ehemaliger Bundestagsabgeordneter, Ehrenvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland. Haben Sie vielen Dank für das Gespräch!
Keskin: Ich bedanke mich!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Der Platz wurde mit großer Brutalität geräumt, gestern sogar zweimal, aber auch jugendliche Demonstranten warfen Molotow-Cocktails und Steine. Insgesamt wurden bisher rund 5000 Menschen verletzt, vier sind getötet worden.
Die Regierung Erdogan ist schon seit Jahren ein wichtiger Gesprächspartner für die westlichen Staaten und so eine Art Brücke zur muslimischen Welt, aber gerade dieses Bild wird nun nachhaltig erschüttert. Darüber spreche ich mit Hakki Keskin, er ist Politologe, ehemaliger Bundestagsabgeordneter für die Linke und Ehrenvorsitzender für die Türkische Gemeinde in Deutschland. wir erreichen ihn in der Türkei – schönen guten Morgen, Herr Keskin!
Hakki Keskin: Guten Morgen, Herr Kitzler!
Kitzler: Beginnen wir mal mit der Innenpolitik der Türkei, Sie sind ja gerade dort – Ministerpräsident Erdogan hat hart durchgreifen lassen durch Eliteeinheiten und Polizei. Ist das jetzt die Verzweiflungstat eines Mannes unter großem Druck oder eine große Machtdemonstration?
Keskin: Ich glaube, beides. Die Situation ist wirklich sehr, sehr ernst. Ich habe die ganze Nacht fast sozusagen die ganz massiven, heftigen Auseinandersetzungen, Eingriffe der Polizei mit allen möglichen Mitteln, mit Tränengaspatronen, Wasserwerfern, Schlagstöcken und so weiter mitverfolgt. Natürlich gibt es auch vonseiten der Teilnehmer, der Demonstranten, Gegenattacken mit Steinewerfen und so weiter und so fort. Also die Situation hat sich zunehmend eskaliert, dazu hat natürlich die sehr unnachgiebige und starre Haltung des Ministerpräsidenten beigetragen.
Er hat sozusagen Hunderttausende Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft, die an diesen Protesten teilnehmen, als eine Handvoll Lumpen bezeichnet, und er hat sozusagen an dieser seiner Äußerung fest. Und ja, wenn also der Ministerpräsident keinerlei Verständnis zeigt, wozu oder wofür die Leute da sind seit nunmehr 14 Tagen, inzwischen der 15. Tag, dann ärgert er natürlich diese Hunderttausende Menschen, und …
Kitzler: Aber Herr Keskin, die Frage ist doch, wie angeschlagen ist Erdogan? Ist es nicht so, dass die Demonstranten in Istanbul und auch in Ankara ja nur für einen kleinen Teil der türkischen Bevölkerung stehen, und dass der Rückhalt Erdogans gerade auf dem Land, in den ländlichen Gebieten noch weiterhin sehr groß ist?
Keskin: Ja, ich glaube, Erdogan ist ganz massiv angeschlagen. Und er kann jetzt natürlich dies nicht zugeben. Seine sozusagen auch in der Welt verbreitete Meinung, er ist für Demokratie, für Reformen, für Erneuerungen der Türkei da, inzwischen, diese Maske der Demokratie ist, glaube ich, gefallen. Die Kenner der Türkei wissen es, was seit Jahren in der Türkei passiert.
Und natürlich würde er wahrscheinlich heute immer noch nach dem herrschenden Wahlrecht, wenn er etwa 35, 36 Prozent der Stimmen bekommt, wieder gewählt werden. Das ist leider das Wahlkriterium sozusagen in der Türkei. Aber Hunderttausende, das sind aus allen gesellschaftlichen Kreisen, protestieren gegen diese Politik von Erdogan, und ich glaube, die Situation wird nicht mehr so sein, wie es vor 15 Tagen war. Ich glaube, viele Menschen, die ihm Stimmen gegeben haben, werden ernsthaft darüber nachdenken.
Es gibt inzwischen auch so Politbarometer zum Wahlverhalten der Menschen, die jüngsten zeigen, dass der Stimmanteil von Erdogan von nahezu 50 Prozent auf 38 Prozent zurückgefallen ist.
Kitzler: Die Türkei steht ja auch so ein bisschen für die Hoffnung, dass das funktioniert, Demokratie in einem muslimischen Staat. Wie sehen Sie das, hat diese Hoffnung jetzt einen Dämpfer bekommen? Oder ist vielleicht die Bewegung, die da möglicherweise entsteht oder am Entstehen ist, auch gerade ein Zeichen dafür, dass es gerade funktioniert, dass die Demokratie in der Türkei lebt?
Keskin: Herr Kitzler, gerade diese Demonstrationen zeigen, dass in der Türkei laizistische, an Demokratie und Rechtsstaat haltende, aktive Menschen, insbesondere junge Menschen da sind. Viele haben nicht geglaubt, dass diese jungen Menschen so konsequent für diesen demokratischen, laizistischen Rechtsstaat kämpfen würden.
Und diese Demonstrationen, diese sozusagen, diese Art des Folgens, und zwar – das muss ich sagen! – diejenigen, die das organisiert haben, haben jetzt jede Form von Gewalt abgelehnt. Sie haben die Gewalt nicht angewendet. Es gibt natürlich Kreise innerhalb dieser Hunderttausende, Zehntausende Menschen, die Steine werfen oder Molotow-Cocktails werfen als Reaktion auf die brutale Vorgehensweise der Polizei. Aber die große Masse dieser protestierenden, jungen und - aber auch aus allen Bevölkerungsteilen - älteren Menschen, die wollen natürlich, dass endlich mal Schluss gemacht wird mit dieser autoritären Einmann-Regierungsform, diese, was Erdogan nunmehr zunehmend präsentiert.
Die Gewaltenteilung ist in der Türkei faktisch beiseitegelegt, diejenigen, die kritisch sich in der Presse melden, werden entweder von der Presse auf Druck entfernt oder landen in den Gefängnissen. Und mit diesen oder gegen diese Repressalien wird gesagt: Schluss, wir wollen Freiheit! Wir wollen Rechtsstaat! Wir wollen Laizismus – also wir wollen nicht, dass der Staat in allen Lebensbereichen der Menschen eingreift! Und jetzt …
Kitzler: Und wir wollen hoffen, dass das auch friedlich zustande kommt, dieser Protest. Das meint der Politologe Hakki Keskin, ehemaliger Bundestagsabgeordneter, Ehrenvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland. Haben Sie vielen Dank für das Gespräch!
Keskin: Ich bedanke mich!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.