"Ich glaube nicht, dass die sich lange halten werden"
Der derzeitige Erfolg der Piraten beruht darauf, dass die etablierten Parteien internetrelevante Themen bislang verschlafen haben, glaubt Michael Naumann, Chefredakteur des Magazins "Cicero". Gleichwohl seien die Piraten keine "richtige Partei im Sinne einer gesellschaftlich relevanten Ausrichtung auf Grundprobleme der Gesellschaft".
Dieter Kassel: Das Feuilletonpressegespräch führen wir heute mit den Chefredakteur des "Magazins für politische Kultur", "Cicero", und er hat die Zeit gehabt und war so freundlich, zu uns ins Studio zu kommen, was ich immer besonders nett finde. Schönen guten Morgen, Herr Naumann!
Michael Naumann: Guten Morgen, ist ja nicht so schwer in Berlin!
Kassel: Ja, gut, das erzählen Sie mal den Kollegen, die es nicht tun. Aber darüber wollen wir jetzt gar nicht sprechen, wir wollen über das neue Heft reden. Natürlich reden wir gleich über die Titelgeschichte, die sich der Piratenpartei widmet.
Ich würde gerne aber vorher über das Editorial, wie es ja heute modern heißt, einen Kommentar, wie ich ihn nennen würde, von Ihnen reden: Sie schreiben unter der Überschrift "Nervöse Jakobiner" über die aktuelle Debatte über Kulturförderung in Deutschland, die angestoßen wurde von dem Buch "Der Kulturinfarkt". Und mir ging es so, Herr Naumann, nachdem ich Ihre Zeilen dazu gelesen hatte, hatte ich das Gefühl: Wenn es nicht irgendwie sein müsste in diesen Tagen, hätten Sie eigentlich gar keine Lust gehabt, sich mit diesem Buch wirklich zu beschäftigen. Täuscht mich der Eindruck?
Naumann: Na ja, also, es hat natürlich etwas mit meiner eigenen Biografie zu tun. Ich war mal Kulturstaatsminister und zuständig für die Verteilung von fast zwei Milliarden D-Mark und die Autoren dieses Buches behaupten nun, in Wirklichkeit sei ein nicht unbeträchtlicher Teil dieser Gelder fehlgeleitet und man müsste das viel mehr in kleinere kulturelle Institutionen, in denen sogenannte interkulturelle – das Wort multikulturell ist inzwischen offenkundig tabu – Beziehungen gepflegt werden. Mit anderen Worten, sie plädieren für eine Umverteilung der Gelder.
Aber gleichzeitig möchten sie ungefähr die Hälfte der Museen in Deutschland schließen, Bibliotheken schließen, statt 8000 nur noch 4000. Dahinter steckt eigentlich wirklich so eine jakobinisch-revolutionäre Attitüde, wir machen mal alles platt und dann bauen wir neu auf. Dafür gibt es meines Erachtens nicht den geringsten Grund.
Kassel: Das ist ein Text, der teilweise sehr zugespitzt ist. Ich habe mich gestern auf meinem Sofa beim Lesen teilweise doch schmunzelnd darüber gefreut und teilweise auch geärgert. Ich darf mal eine Formulierung hier zitieren: Sie schreiben da: "Alle vier haben eine anständige Pensionsberechtigung, schreiben aber ein hundsmiserables Deutsch". Sachliche Anmerkung: Ich bin gerade dabei, das Buch zu lesen, also wirklich das Buch, nicht nur den "Spiegel"-Vorabdruck, habe es noch nicht durch – hundsmiserabel finde ich übertrieben. Aber das ist ja Geschmackssache.
Naumann: Das ist dieses furchtbare deutsche Soziologendeutsch, was einem ...
Kassel: ... das ist ja Geschmackssache, aber wo ist der Zusammenhang zwischen der Pensionsberechtigung und dem Deutsch?
Naumann: Das ist, wenn Sie so wollen, eine stilistische Frage. Dieser Artikel ist ironisch und das "aber" stört Sie wohl offenkundig. Ich gehe mal davon aus, wer jahrelang sich in der Kultur beschäftigt hat wie diese Herren, die Autoren, vier insgesamt, sollte doch irgendwann einmal lernen, ein Deutsch zu schreiben, das sich nicht – mich jedenfalls nicht – lebhaft an Proseminararbeiten der ersten Soziologie-Semester erinnert.
Kassel: Was mich aber an der ganzen Diskussion – ich weiß nicht, wie viel Teile Sie mitbekommen haben, wir haben hier im Deutschlandradio Kultur natürlich auch viele Gespräche zu diesem Thema geführt, mit einem der Buchautoren natürlich auch, damit haben wir angefangen, Monika Grütters von der CDU und anderen –, was mich daran stört, ist, dass das Ganze sofort in diese alte Grabenkampfpolemik ausgeartet ist. Die einen sagen, schafft das alles ab, wir brauchen keine Opern, wir brauchen keine Theater, und die anderen – das ist mein Eindruck auch bei Ihnen – sagen, lasst alles ganz genau so, wie es ist, wir brauchen keine Veränderung. Liegt die Wahrheit nicht irgendwo dazwischen?
Naumann: Das ist eine ... eine wunderbare Position, die Wahrheit liegt immer irgendwo dazwischen. Natürlich nicht in Wirklichkeit. Dieses Buch hat in Wirklichkeit einen ganz anderen kulturpolitischen oder kulturtheoretischen Ansatz. Es geht ganz einfach davon aus, dass die deutsche Hochkultur – also, wir reden jetzt von Opern, den klassischen Theatern, dem Ballett und ähnlichem, und das ist die klassische Attitüde aller Stadtkämmerer, die ich kenne, und aller Kulturpolitiker auf kommunaler Ebene –, dass diese Form der Kulturförderung nur wenigen, gewissermaßen den oberen fünf Prozent der sogenannten Kunstbürger zugutekommt. Während der arme Steuerzahler das zahlt, keine Kitas finanziert werden können, die Schulen verrotten, geht dieses feine viele Geld in die großen feinen und für ganz wenige nur interessanten Kulturinstitutionen. Diese Haltung halte ich für – das muss ich ganz offen sagen –, für so überholt, um nicht zu sagen bescheuert, dass ich mich schon sehr aufgeregt habe, als ich das gelesen habe, doch.
Kassel: Aber ist das wirklich der Kern des Buches? Denn die Haltung, die Sie beschreiben, das ist ja eine alte Diskussion, die, ich meine, Sie kennen sie länger als ich ...
Naumann: ... Entschuldigung, die Herrschaften selber beginnen ja mit einer alten Diskussion: Diese Diskussion, die sie da führen, ist uralt und die läuft eigentlich jedes Jahr in den Haushaltsdebatten der Kommunen: Wozu brauchen wir das alles?
In Wirklichkeit, um mal eine Zahl zu nennen, sind die kulturpolitischen Ausgaben in der Schweiz pro Kopf der Bevölkerung doppelt so hoch wie bei uns und auch in Österreich fast doppelt so hoch wie bei uns, aber wir fühlen uns immer noch gewissermaßen intellektuell, kulturell, als Kulturnation. Genauer gesagt, ist dieses auch der Auftrag, den das Bundesverfassungsgerichts den Politikern mitgegeben hat. Und in dem Augenblick, in dem es soziale Konflikte gibt in Deutschland, schulische Konflikte, multikulturelle Konflikte ...
Kassel: ... inter ...
Naumann: ... interkulturelle Konflikte neuerdings, wird dann gefordert, ja, wir müssen das Geld anderswohin stecken. Wir müssen das in soziokulturelle Institutionen stecken, vor allem aber brauchen wir nicht so viele Bibliotheken, nicht so viele Chöre, nicht so viele Museen. Das halte ich für eine äußerst fruchtlose Debatte.
Und in letzter Instanz möchten die Autoren, diese vier – einen von denen kenne ich ganz gut, das ist ein kluger Mann, Herr Opitz –, möchten diese Autoren, dass es eine Debatte gibt in Deutschland, in der die Politiker über die kulturelle Relevanz der Institutionen selber entscheiden, die kulturelle, inhaltliche Relevanz von Institutionen und die dazugehörigen Beamten auch, das halte ich für hoch problematisch, möchte ich eigentlich nicht.
Kassel: Erstaunlicherweise nicht mein Eindruck des Buches, aber vielleicht kommt das auf den letzten Seiten, die mir noch fehlen. Michael Naumann ist zu Gast im Deutschlandradio Kultur, der Chefredakteur von "Cicero".
Nun lassen Sie uns mal über die Titelgeschichte reden, es ist in der Tat die Piratenpartei, die "Partei ohne Plan", noch mal ein Eindruck von mir: nach Lesen dieser Geschichte Ihrer Redakteurin Petra Sorge habe ich mich gefragt – und das ist jetzt keine Polemik, sondern wirklich eine Frage: Wenn man das alles weiß, was in dieser Geschichte steht, wie kann man sich dann noch diese großen Erfolge bei den Wahlen in Berlin und im Saarland erklären?
Naumann: Ich glaube, es ist prinzipiell eine Partei, die auf ein gewisses Protestpotenzial in der Bevölkerung zurückgreift. Nach den neueren Analysen scheint es sich doch zu einem ganz großen Teil um Erstwähler zu handeln, die einfach von der Politik als solcher die Nase voll haben. Und dann kommt da eine Gruppe junger Leute, die mit einem sehr diffusen Programm, das heißt eigentlich nur "Transparenz" und, ich würde mal sagen, mit der Google-Ideologie "Möglichst-alles-umsonst" im Internet auftritt. Aber vor allem durch ihr äußeres Gebaren, durch ihre unkonventionelle Kleiderordnung und Ähnliches suggerieren sie etwas Neues. Und das Neue wird dann eben wie ein iPhone gewählt.
Eine richtige Partei im Sinne einer gesellschaftlich relevanten Ausrichtung auf Grundprobleme der Gesellschaft, ob das wirtschaftliche, soziale, kulturelle oder andere sind, ist es nicht. Und ich glaube auch, es ist eine vorübergehende Erscheinung, aber sie wird auf alle Fälle das Parteiengefüge in Deutschland durcheinanderwirbeln und hat es auch schon getan.
Aber prinzipiell ist es eine Partei, die sich wenige Wochen, im Saarland zum Beispiel wenige Tage fast, ein Wahlprogramm gibt und trotzdem mit sieben Prozent gewählt wird. Das sind eine Menge Wähler, die FDP wäre glücklich.
Nur, wer sind die Wähler? Also, ich kenne sie ja nicht persönlich, ich kenne nur genau so wie Ihre Hörer die diversen Auftritte der Gewählten, aber auch die Analysen der Soziologen und der Wahlforscher. Und wie gesagt, es sind Protestwähler, hat es in Deutschland immer schon gegeben.
Kassel: Aber was sagt das über die anderen Parteien? Ich meine, es sind – Sie haben es gerade noch mal gesagt – ...
Naumann: ... gute Frage, ja ...
Kassel: ... Erstwähler und auch zum Teil, soweit die Statistiken solche Informationen halbwegs glaubhaft hergeben, bisherige Nichtwähler.
Naumann: Ja.
Kassel: Was sagt das über die anderen Parteien, wenn eine Partei, die – ich will das mal sehr relativierend sagen, ich stimme nicht mit allem überein, was Sie gesagt haben –, aber die in der Tat, ich sage mal, kein Vollprogramm zu bieten hat, so weit muss man nun auf jeden Fall gehen, wenn die solche Erfolge hat? Denn egal, was man von den anderen hält, mit allen relevanten Themen beschäftigen tun die sich im Großen und Ganzen ja schon, die anderen Parteien, und können offenbar bei ganz vielen Leuten, die aber bereit sind, zur Wahlurne zu gehen, nicht landen. Was sagt das über die aus?
Naumann: Also, erst mal muss sagen, 93 Prozent der Wähler haben sie nicht gewählt, man darf das nicht überbewerten.
Kassel: Sicher, aber wie viel Prozent der Wähler im Saarland haben die FDP nicht gewählt?
Naumann: Ja, noch höher, eigentlich niemand, ich weiß gar nicht, wo diese 1,5 Prozent herkommen! Aber die Wahrheit ist: Sie haben völlig recht mit der Frage, was ist mit den anderen Parteien. Die anderen Parteien haben, ob das in der Urheberrechtsfrage ist, ob das auch in der Thematisierung des Internets inklusive der Frage des informationellen Selbstbestimmungsrechts, das heißt, des Verlustes der Privatheit, meines Erachtens sich verhalten wie die Erfinder der Buschtrommel zu den Erfindern des Telefons. Also de facto wirklich fast aus der Zeit gefallen.
Nun werden sicher alle diese Parteien sagen, nein, wir haben Experten und wir kümmern uns darum, aber wenn man sich anschaut, mit welcher Hilflosigkeit man der Urheberrechtsdebatte, respektive der ACTA-Gesetzgebung begegnet ist, mit welcher Hilflosigkeit man sich gebeugt hat gegenüber den Versuchen, Pornografieseiten auf dem Internet zu verbieten, also, Ursula von der Leyens Projekt, und im Grunde genommen die Parteien immer vor Schreck verstummen, weil sie glauben, wenn sie den Gewohnheiten der Internet-User entgegentreten, deren Stimmen verlieren würden – was sie zweifellos offenkundig auch getan haben –, dann muss man einfach sagen, ja, liebe Leute, ihr in den Parteien, in den Parteihauptquartieren gewissermaßen, hättet ein bisschen früher euch um diese Themen kümmern müssen. Das ist nicht der Fall. Gesetzgeberisch hinkt der Bundestag den diversen Phänomenen des Internets wirklich um Lichtjahre hinterher.
Kassel: Es ist vielleicht, ich möchte ganz ausnahmsweise mal – das macht man eigentlich nicht in solchen Gesprächen, ich finde es diesmal sinnvoll –, beim Äußerlichen doch wieder bleiben oder dahin zurückkehren: Das spielt auch eine Rolle in der Titelgeschichte im "Cicero", Sie haben das selber ja schon gesagt, die kommen immer so merkwürdig aussehend daher. Ist das nicht vielleicht auch ein Grund, weil, letzten Endes mit einigen wenigen Ausnahmen bei der Partei Die Linke sehen doch auch allein optisch inzwischen alle Politiker gleich aus. Die Turnschuhzeiten bei den Grünen sind ja auch vorbei. Und dass sich manch einer sagt, ich finde schon so erholsam fürs Auge und für den Ton, mal einen Piraten zu sehen, der eigentlich überhaupt nicht wirkt wie ein Politiker?
Naumann: Einige wirken wie Narren! Also, wenn einer mit dem Kopftuch erscheint, das entweder aus einem Küchenhandtuch gefaltet ist, oder mit einer Latzhose, dann halte ich das für ein bisschen läppisch. Wenn man dieselben Leute fragt, würdet ihr so auch in die Tanzstunde gehen – und einige gehen immer noch in Tanzstunden –, würden sie selbstverständlich sagen: überhaupt nicht! Aber ins Parlament schon! Also, was sind das für Gesten? Das sind hohle Gesten!
Der Sachverhalt, dass man Jeans trug vor etwa 30 oder 40 Jahren, galt als ein revolutionärer Aufbruch, es war aber in Wirklichkeit nur eine Hose. Also, in wenigen Worten: Diese Verkleidung, Wir-sind-anders-Verkleidung, erinnert mich sehr so an Swinging London, als die Leute sich die Pensionärsuniformen, die roten mit den Messingknöpfen, in Chelsea kauften und damit durch München oder Berlin aufkreuzten. Schick, modisch ein bisschen wie die Beatles angezogen – das sind alles keine politischen Aussagen! Das ist Mode, ist auch in Ordnung, aber ich glaube nicht, dass das irgendetwas zu tun hat mit den Problemen unseres Landes.
Kassel: Nein, das hat es sicher nicht, das meinte ich auch gar nicht. Aber wir haben – das vielleicht zum Schluss –, wir haben ja Ähnliches – Sie haben das selber schon gesagt – bei den Grünen erlebt, ganz am Anfang die Jeanshosen, die Turnschuhe, auch das Stricken in der ein oder anderen Parlamentsdebatte hat ja alles auch ...
Naumann: ... fand ich verächtlich, übrigens ...
Kassel: ... hat aber ja auch alles aufgehört ...
Naumann: ... wenn ich jetzt hier stricken würde und Sie würden mit mir sprechen, würden Sie auch sagen, Entschuldigung, bitte, können Sie sich nicht konzentrieren auf das Gespräch! Wenn in den Parteiversammlungen der Piraten die Hälfte der Leute mit – eigentlich zwei Drittel der Leute, schauen Sie sich es nur an –, mit Laptops, offenen Laptops gar nicht zuhören und übrigens auch nicht miteinander reden, sondern nur auf den Bildschirm starren, dann habe ich das Gefühl, hier ist irgendwas nicht ganz in Ordnung in den Köpfen!
Kassel: Letzteres, Herr Naumann, habe ich übrigens schon erlebt, dass Leute im Gespräch mit mir auf den Bildschirm gestarrt haben. Gestrickt hat aber noch keiner! Ich finde, dass das Sie bei unserem nächsten Gespräch mal machen könnten, ist eine faszinierende Vorstellung!
Ich will aber die Schlussfrage stellen, darauf wollte ich hinaus, mit den Grünen: Die sind inzwischen zu einer bedeutenden politischen Kraft geworden, auch zu einer – ich meine das wertfrei – relativ normalen politischen Kraft. Sind Sie sich so sicher, dass das mit den Piraten nicht geschehen wird? Ich weiß, ich weiß, dann kommt immer das Argument, in Schweden sind sie schon wieder weg vom Fenster, aber wir sind ja hier nicht in Schweden.
Naumann: Ich glaube nicht, dass die sich lange halten werden, das ist meine feste Überzeugung aus dem Bauch heraus.
Kassel: Klare Aussage, danke Ihnen! Michael Naumann war das, Chefredakteur des Magazins "Cicero", "Cicero" ab heute mit dieser Titelgeschichte und vielen, vielen anderen Geschichten überall am Kiosk oder aber auch – ich sage das mal, weil wir so viel übers Digitale gesprochen haben – als iPad-Ausgabe herunterladbar – gegen Geld aber, ist natürlich auch nicht umsonst! Danke Ihnen, Herr Naumann!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Michael Naumann: Guten Morgen, ist ja nicht so schwer in Berlin!
Kassel: Ja, gut, das erzählen Sie mal den Kollegen, die es nicht tun. Aber darüber wollen wir jetzt gar nicht sprechen, wir wollen über das neue Heft reden. Natürlich reden wir gleich über die Titelgeschichte, die sich der Piratenpartei widmet.
Ich würde gerne aber vorher über das Editorial, wie es ja heute modern heißt, einen Kommentar, wie ich ihn nennen würde, von Ihnen reden: Sie schreiben unter der Überschrift "Nervöse Jakobiner" über die aktuelle Debatte über Kulturförderung in Deutschland, die angestoßen wurde von dem Buch "Der Kulturinfarkt". Und mir ging es so, Herr Naumann, nachdem ich Ihre Zeilen dazu gelesen hatte, hatte ich das Gefühl: Wenn es nicht irgendwie sein müsste in diesen Tagen, hätten Sie eigentlich gar keine Lust gehabt, sich mit diesem Buch wirklich zu beschäftigen. Täuscht mich der Eindruck?
Naumann: Na ja, also, es hat natürlich etwas mit meiner eigenen Biografie zu tun. Ich war mal Kulturstaatsminister und zuständig für die Verteilung von fast zwei Milliarden D-Mark und die Autoren dieses Buches behaupten nun, in Wirklichkeit sei ein nicht unbeträchtlicher Teil dieser Gelder fehlgeleitet und man müsste das viel mehr in kleinere kulturelle Institutionen, in denen sogenannte interkulturelle – das Wort multikulturell ist inzwischen offenkundig tabu – Beziehungen gepflegt werden. Mit anderen Worten, sie plädieren für eine Umverteilung der Gelder.
Aber gleichzeitig möchten sie ungefähr die Hälfte der Museen in Deutschland schließen, Bibliotheken schließen, statt 8000 nur noch 4000. Dahinter steckt eigentlich wirklich so eine jakobinisch-revolutionäre Attitüde, wir machen mal alles platt und dann bauen wir neu auf. Dafür gibt es meines Erachtens nicht den geringsten Grund.
Kassel: Das ist ein Text, der teilweise sehr zugespitzt ist. Ich habe mich gestern auf meinem Sofa beim Lesen teilweise doch schmunzelnd darüber gefreut und teilweise auch geärgert. Ich darf mal eine Formulierung hier zitieren: Sie schreiben da: "Alle vier haben eine anständige Pensionsberechtigung, schreiben aber ein hundsmiserables Deutsch". Sachliche Anmerkung: Ich bin gerade dabei, das Buch zu lesen, also wirklich das Buch, nicht nur den "Spiegel"-Vorabdruck, habe es noch nicht durch – hundsmiserabel finde ich übertrieben. Aber das ist ja Geschmackssache.
Naumann: Das ist dieses furchtbare deutsche Soziologendeutsch, was einem ...
Kassel: ... das ist ja Geschmackssache, aber wo ist der Zusammenhang zwischen der Pensionsberechtigung und dem Deutsch?
Naumann: Das ist, wenn Sie so wollen, eine stilistische Frage. Dieser Artikel ist ironisch und das "aber" stört Sie wohl offenkundig. Ich gehe mal davon aus, wer jahrelang sich in der Kultur beschäftigt hat wie diese Herren, die Autoren, vier insgesamt, sollte doch irgendwann einmal lernen, ein Deutsch zu schreiben, das sich nicht – mich jedenfalls nicht – lebhaft an Proseminararbeiten der ersten Soziologie-Semester erinnert.
Kassel: Was mich aber an der ganzen Diskussion – ich weiß nicht, wie viel Teile Sie mitbekommen haben, wir haben hier im Deutschlandradio Kultur natürlich auch viele Gespräche zu diesem Thema geführt, mit einem der Buchautoren natürlich auch, damit haben wir angefangen, Monika Grütters von der CDU und anderen –, was mich daran stört, ist, dass das Ganze sofort in diese alte Grabenkampfpolemik ausgeartet ist. Die einen sagen, schafft das alles ab, wir brauchen keine Opern, wir brauchen keine Theater, und die anderen – das ist mein Eindruck auch bei Ihnen – sagen, lasst alles ganz genau so, wie es ist, wir brauchen keine Veränderung. Liegt die Wahrheit nicht irgendwo dazwischen?
Naumann: Das ist eine ... eine wunderbare Position, die Wahrheit liegt immer irgendwo dazwischen. Natürlich nicht in Wirklichkeit. Dieses Buch hat in Wirklichkeit einen ganz anderen kulturpolitischen oder kulturtheoretischen Ansatz. Es geht ganz einfach davon aus, dass die deutsche Hochkultur – also, wir reden jetzt von Opern, den klassischen Theatern, dem Ballett und ähnlichem, und das ist die klassische Attitüde aller Stadtkämmerer, die ich kenne, und aller Kulturpolitiker auf kommunaler Ebene –, dass diese Form der Kulturförderung nur wenigen, gewissermaßen den oberen fünf Prozent der sogenannten Kunstbürger zugutekommt. Während der arme Steuerzahler das zahlt, keine Kitas finanziert werden können, die Schulen verrotten, geht dieses feine viele Geld in die großen feinen und für ganz wenige nur interessanten Kulturinstitutionen. Diese Haltung halte ich für – das muss ich ganz offen sagen –, für so überholt, um nicht zu sagen bescheuert, dass ich mich schon sehr aufgeregt habe, als ich das gelesen habe, doch.
Kassel: Aber ist das wirklich der Kern des Buches? Denn die Haltung, die Sie beschreiben, das ist ja eine alte Diskussion, die, ich meine, Sie kennen sie länger als ich ...
Naumann: ... Entschuldigung, die Herrschaften selber beginnen ja mit einer alten Diskussion: Diese Diskussion, die sie da führen, ist uralt und die läuft eigentlich jedes Jahr in den Haushaltsdebatten der Kommunen: Wozu brauchen wir das alles?
In Wirklichkeit, um mal eine Zahl zu nennen, sind die kulturpolitischen Ausgaben in der Schweiz pro Kopf der Bevölkerung doppelt so hoch wie bei uns und auch in Österreich fast doppelt so hoch wie bei uns, aber wir fühlen uns immer noch gewissermaßen intellektuell, kulturell, als Kulturnation. Genauer gesagt, ist dieses auch der Auftrag, den das Bundesverfassungsgerichts den Politikern mitgegeben hat. Und in dem Augenblick, in dem es soziale Konflikte gibt in Deutschland, schulische Konflikte, multikulturelle Konflikte ...
Kassel: ... inter ...
Naumann: ... interkulturelle Konflikte neuerdings, wird dann gefordert, ja, wir müssen das Geld anderswohin stecken. Wir müssen das in soziokulturelle Institutionen stecken, vor allem aber brauchen wir nicht so viele Bibliotheken, nicht so viele Chöre, nicht so viele Museen. Das halte ich für eine äußerst fruchtlose Debatte.
Und in letzter Instanz möchten die Autoren, diese vier – einen von denen kenne ich ganz gut, das ist ein kluger Mann, Herr Opitz –, möchten diese Autoren, dass es eine Debatte gibt in Deutschland, in der die Politiker über die kulturelle Relevanz der Institutionen selber entscheiden, die kulturelle, inhaltliche Relevanz von Institutionen und die dazugehörigen Beamten auch, das halte ich für hoch problematisch, möchte ich eigentlich nicht.
Kassel: Erstaunlicherweise nicht mein Eindruck des Buches, aber vielleicht kommt das auf den letzten Seiten, die mir noch fehlen. Michael Naumann ist zu Gast im Deutschlandradio Kultur, der Chefredakteur von "Cicero".
Nun lassen Sie uns mal über die Titelgeschichte reden, es ist in der Tat die Piratenpartei, die "Partei ohne Plan", noch mal ein Eindruck von mir: nach Lesen dieser Geschichte Ihrer Redakteurin Petra Sorge habe ich mich gefragt – und das ist jetzt keine Polemik, sondern wirklich eine Frage: Wenn man das alles weiß, was in dieser Geschichte steht, wie kann man sich dann noch diese großen Erfolge bei den Wahlen in Berlin und im Saarland erklären?
Naumann: Ich glaube, es ist prinzipiell eine Partei, die auf ein gewisses Protestpotenzial in der Bevölkerung zurückgreift. Nach den neueren Analysen scheint es sich doch zu einem ganz großen Teil um Erstwähler zu handeln, die einfach von der Politik als solcher die Nase voll haben. Und dann kommt da eine Gruppe junger Leute, die mit einem sehr diffusen Programm, das heißt eigentlich nur "Transparenz" und, ich würde mal sagen, mit der Google-Ideologie "Möglichst-alles-umsonst" im Internet auftritt. Aber vor allem durch ihr äußeres Gebaren, durch ihre unkonventionelle Kleiderordnung und Ähnliches suggerieren sie etwas Neues. Und das Neue wird dann eben wie ein iPhone gewählt.
Eine richtige Partei im Sinne einer gesellschaftlich relevanten Ausrichtung auf Grundprobleme der Gesellschaft, ob das wirtschaftliche, soziale, kulturelle oder andere sind, ist es nicht. Und ich glaube auch, es ist eine vorübergehende Erscheinung, aber sie wird auf alle Fälle das Parteiengefüge in Deutschland durcheinanderwirbeln und hat es auch schon getan.
Aber prinzipiell ist es eine Partei, die sich wenige Wochen, im Saarland zum Beispiel wenige Tage fast, ein Wahlprogramm gibt und trotzdem mit sieben Prozent gewählt wird. Das sind eine Menge Wähler, die FDP wäre glücklich.
Nur, wer sind die Wähler? Also, ich kenne sie ja nicht persönlich, ich kenne nur genau so wie Ihre Hörer die diversen Auftritte der Gewählten, aber auch die Analysen der Soziologen und der Wahlforscher. Und wie gesagt, es sind Protestwähler, hat es in Deutschland immer schon gegeben.
Kassel: Aber was sagt das über die anderen Parteien? Ich meine, es sind – Sie haben es gerade noch mal gesagt – ...
Naumann: ... gute Frage, ja ...
Kassel: ... Erstwähler und auch zum Teil, soweit die Statistiken solche Informationen halbwegs glaubhaft hergeben, bisherige Nichtwähler.
Naumann: Ja.
Kassel: Was sagt das über die anderen Parteien, wenn eine Partei, die – ich will das mal sehr relativierend sagen, ich stimme nicht mit allem überein, was Sie gesagt haben –, aber die in der Tat, ich sage mal, kein Vollprogramm zu bieten hat, so weit muss man nun auf jeden Fall gehen, wenn die solche Erfolge hat? Denn egal, was man von den anderen hält, mit allen relevanten Themen beschäftigen tun die sich im Großen und Ganzen ja schon, die anderen Parteien, und können offenbar bei ganz vielen Leuten, die aber bereit sind, zur Wahlurne zu gehen, nicht landen. Was sagt das über die aus?
Naumann: Also, erst mal muss sagen, 93 Prozent der Wähler haben sie nicht gewählt, man darf das nicht überbewerten.
Kassel: Sicher, aber wie viel Prozent der Wähler im Saarland haben die FDP nicht gewählt?
Naumann: Ja, noch höher, eigentlich niemand, ich weiß gar nicht, wo diese 1,5 Prozent herkommen! Aber die Wahrheit ist: Sie haben völlig recht mit der Frage, was ist mit den anderen Parteien. Die anderen Parteien haben, ob das in der Urheberrechtsfrage ist, ob das auch in der Thematisierung des Internets inklusive der Frage des informationellen Selbstbestimmungsrechts, das heißt, des Verlustes der Privatheit, meines Erachtens sich verhalten wie die Erfinder der Buschtrommel zu den Erfindern des Telefons. Also de facto wirklich fast aus der Zeit gefallen.
Nun werden sicher alle diese Parteien sagen, nein, wir haben Experten und wir kümmern uns darum, aber wenn man sich anschaut, mit welcher Hilflosigkeit man der Urheberrechtsdebatte, respektive der ACTA-Gesetzgebung begegnet ist, mit welcher Hilflosigkeit man sich gebeugt hat gegenüber den Versuchen, Pornografieseiten auf dem Internet zu verbieten, also, Ursula von der Leyens Projekt, und im Grunde genommen die Parteien immer vor Schreck verstummen, weil sie glauben, wenn sie den Gewohnheiten der Internet-User entgegentreten, deren Stimmen verlieren würden – was sie zweifellos offenkundig auch getan haben –, dann muss man einfach sagen, ja, liebe Leute, ihr in den Parteien, in den Parteihauptquartieren gewissermaßen, hättet ein bisschen früher euch um diese Themen kümmern müssen. Das ist nicht der Fall. Gesetzgeberisch hinkt der Bundestag den diversen Phänomenen des Internets wirklich um Lichtjahre hinterher.
Kassel: Es ist vielleicht, ich möchte ganz ausnahmsweise mal – das macht man eigentlich nicht in solchen Gesprächen, ich finde es diesmal sinnvoll –, beim Äußerlichen doch wieder bleiben oder dahin zurückkehren: Das spielt auch eine Rolle in der Titelgeschichte im "Cicero", Sie haben das selber ja schon gesagt, die kommen immer so merkwürdig aussehend daher. Ist das nicht vielleicht auch ein Grund, weil, letzten Endes mit einigen wenigen Ausnahmen bei der Partei Die Linke sehen doch auch allein optisch inzwischen alle Politiker gleich aus. Die Turnschuhzeiten bei den Grünen sind ja auch vorbei. Und dass sich manch einer sagt, ich finde schon so erholsam fürs Auge und für den Ton, mal einen Piraten zu sehen, der eigentlich überhaupt nicht wirkt wie ein Politiker?
Naumann: Einige wirken wie Narren! Also, wenn einer mit dem Kopftuch erscheint, das entweder aus einem Küchenhandtuch gefaltet ist, oder mit einer Latzhose, dann halte ich das für ein bisschen läppisch. Wenn man dieselben Leute fragt, würdet ihr so auch in die Tanzstunde gehen – und einige gehen immer noch in Tanzstunden –, würden sie selbstverständlich sagen: überhaupt nicht! Aber ins Parlament schon! Also, was sind das für Gesten? Das sind hohle Gesten!
Der Sachverhalt, dass man Jeans trug vor etwa 30 oder 40 Jahren, galt als ein revolutionärer Aufbruch, es war aber in Wirklichkeit nur eine Hose. Also, in wenigen Worten: Diese Verkleidung, Wir-sind-anders-Verkleidung, erinnert mich sehr so an Swinging London, als die Leute sich die Pensionärsuniformen, die roten mit den Messingknöpfen, in Chelsea kauften und damit durch München oder Berlin aufkreuzten. Schick, modisch ein bisschen wie die Beatles angezogen – das sind alles keine politischen Aussagen! Das ist Mode, ist auch in Ordnung, aber ich glaube nicht, dass das irgendetwas zu tun hat mit den Problemen unseres Landes.
Kassel: Nein, das hat es sicher nicht, das meinte ich auch gar nicht. Aber wir haben – das vielleicht zum Schluss –, wir haben ja Ähnliches – Sie haben das selber schon gesagt – bei den Grünen erlebt, ganz am Anfang die Jeanshosen, die Turnschuhe, auch das Stricken in der ein oder anderen Parlamentsdebatte hat ja alles auch ...
Naumann: ... fand ich verächtlich, übrigens ...
Kassel: ... hat aber ja auch alles aufgehört ...
Naumann: ... wenn ich jetzt hier stricken würde und Sie würden mit mir sprechen, würden Sie auch sagen, Entschuldigung, bitte, können Sie sich nicht konzentrieren auf das Gespräch! Wenn in den Parteiversammlungen der Piraten die Hälfte der Leute mit – eigentlich zwei Drittel der Leute, schauen Sie sich es nur an –, mit Laptops, offenen Laptops gar nicht zuhören und übrigens auch nicht miteinander reden, sondern nur auf den Bildschirm starren, dann habe ich das Gefühl, hier ist irgendwas nicht ganz in Ordnung in den Köpfen!
Kassel: Letzteres, Herr Naumann, habe ich übrigens schon erlebt, dass Leute im Gespräch mit mir auf den Bildschirm gestarrt haben. Gestrickt hat aber noch keiner! Ich finde, dass das Sie bei unserem nächsten Gespräch mal machen könnten, ist eine faszinierende Vorstellung!
Ich will aber die Schlussfrage stellen, darauf wollte ich hinaus, mit den Grünen: Die sind inzwischen zu einer bedeutenden politischen Kraft geworden, auch zu einer – ich meine das wertfrei – relativ normalen politischen Kraft. Sind Sie sich so sicher, dass das mit den Piraten nicht geschehen wird? Ich weiß, ich weiß, dann kommt immer das Argument, in Schweden sind sie schon wieder weg vom Fenster, aber wir sind ja hier nicht in Schweden.
Naumann: Ich glaube nicht, dass die sich lange halten werden, das ist meine feste Überzeugung aus dem Bauch heraus.
Kassel: Klare Aussage, danke Ihnen! Michael Naumann war das, Chefredakteur des Magazins "Cicero", "Cicero" ab heute mit dieser Titelgeschichte und vielen, vielen anderen Geschichten überall am Kiosk oder aber auch – ich sage das mal, weil wir so viel übers Digitale gesprochen haben – als iPad-Ausgabe herunterladbar – gegen Geld aber, ist natürlich auch nicht umsonst! Danke Ihnen, Herr Naumann!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.