"Ich glaube nicht, dass wir sie fürchten müssen"
"Nichts spricht gegen Selbstdisziplin, aber alles spricht gegen eine Selbstdisziplin, die durch Überforderung und Drill angeblich erzeugt werden kann", sagt der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik angesichts der umstrittenen Thesen der Yale-Professorin Amy Chua. Sie plädiert in ihrem Buch "Die Mutter des Erfolgs" unter anderem dafür, Kinder mit Drill unter Druck zu setzen.
Joachim Scholl: "Erstens: Oh mein Gott, du wirst immer schlechter und schlechter. Zweitens: Ich zähle jetzt bis drei, dann erwarte ich Musikalität. Drittens: Wenn das beim nächsten Mal nicht perfekt ist, nehme ich dir sämtliche Stofftiere weg und verbrenne sie." Das ist ein Auszug aus dem Erziehungsbrevier von Amy Chua. So brachte sie ihre Tochter Sophia zum Klavierspielen und schließlich in die Carnegie Hall, so schreibt die US-Chinesin unverblümt in ihrem Bestseller "Die Mutter des Erfolgs". Ich bin jetzt verbunden mit Micha Brumlik, er ist Erziehungswissenschaftler an der Universität Frankfurt am Main. Guten Morgen, Herr Brumlik!
Micha Brumlik: Guten Morgen!
Scholl: In einem Interview mit dem "Spiegel" berichtet Amy Chua davon, wie glücklich ihre Tochter Sophia gewesen sein soll, als sie in der Carnegie Hall auftrat, und sie hätte dann ihrer Mutter gedankt. Glauben Sie dem Kind?
Brumlik: Ich glaube dem Kind, das es in diesem Augenblick außerordentlich glücklich gewesen ist, aber man tut dem Buch von Amy Chua Unrecht, wenn man es als eine Anleitung zum erbarmungslosen Drill liest, das ist es nicht. Es ist ein relativ komplexer Erziehungsroman, der nicht zuletzt davon handelt, dass die andere, die jüngere Tochter sich schließlich gegen diesen Drill erhebt und sogar bereit ist, mit ihrer Mutter zu brechen.
Scholl: Legen wir den Erziehungsroman noch einen Moment beiseite und bleiben wir beim Tatsachenbericht, Herr Brumlik. Amy Chua sagt, ein gesundes Selbstwertgefühl ist der Schlüssel zum Glück, und das erreicht man nur durch Herausforderung und Leistung. Hört sich im ersten Moment doch ganz vernünftig an, oder?
Brumlik: Das hört sich auch ganz vernünftig an. Die Frage ist nur, wo wird eigentlich die Messlatte gelegt? Und Amy Chua berichtet in dem Buch immer wieder, dass die westliche Erziehung darin bestehen könnte, dass Kinder schon gelobt werden, wenn sie eine zwei nach Hause bringen, während chinesische Eltern darüber unglücklich wären und ihre Kinder deshalb schelten würden. Das heißt, dass man auf Erfolge stolz sein kann und sich daran freuen, das ist kulturübergreifend richtig. Die Frage ist nur: Ist es sinnvoll, Kinder auch dann zu bestärken, wenn sie nicht überdurchschnittlich exzellent sind? Ich glaube doch.
Scholl: Immer wieder wird in diesem Buch so der unbeugsame elterliche Wille zur Konsequenz als Voraussetzung für den Erziehungserfolg genannt, also wenn das Kind reiten lernen will, dann muss es das auch durchziehen, wenn es Klavier spielen will, dann aber richtig, und dann wird geübt, dass die Knöchel knacken. Wie konsequent muss man denn sein bei der Erziehung?
Brumlik: Ich glaube, man muss schon konsequent und eindeutig sein, man muss aber auch – und das geht übrigens auch aus diesem Buch hervor – in der Lage sein, die Grenzen eines Kindes anzuerkennen und vor allem seine Persönlichkeit zu achten, und Chua berichtet selbst, dass ihr das wiederholt misslungen ist.
Scholl: Nun hat man bei der Lektüre ja schon den Eindruck permanenten Erziehungsterrors durch Angstmachen, Angst vor Versagen, Angst, nur Zweiter zu sein, aber auch Angst vor Strafe. Ich meine, Angst ist das Unwort jeder aufgeklärten Pädagogik, aber wenn man es mal ersetzt durch das Wort Respekt, dann klingt es doch schon etwas anders. Ich meine, wir hatten in der Schule vor manchen Lehrern einen Heidenrespekt, und da haben wir brav die Hausaufgaben gemacht. Bei anderen, weicheren hat man sich Ausreden einfallen lassen. So ist vielleicht auch gerade der kleine Mensch: Ohne Druck pariert er nicht, oder?
Brumlik: Da gibt es einen Moment Respekt, aber es ist dann doch meistens Respekt vor einer Autorität, vor einer Autorität, die man als solcher auch anerkannt hat, weil sie selbst überzeugend und gut ist. Und das ist eben bei Personen, die immer nur etwas androhen und mit Strafen im Hintergrund hantieren, keineswegs der Fall.
Scholl: Aber insofern wäre Amy Chua ja genau die richtige Autoritätsperson für ihre zwei Töchter gewesen.
Brumlik: Das war sie nach eigener Auskunft offensichtlich nicht, und wenn man das Buch liest, gewinnt man schon den Eindruck, dass sie einiges vom Geigenspiel versteht, aber sie tritt an keiner Stelle dadurch hervor, dass sie selbst eine vorzügliche Geigerin ist, sondern dass sie nur immer sagt: Ich bin deine Mutter, deswegen musst du das tun. Als Vorbild überzeugt sie ihre Töchter nicht.
Scholl: Nun wird in dieser Kontroverse, Herr Brumlik, die dieses Buch schon international ausgelöst hat, immer wieder der Gegensatz von chinesisch-westlicher Pädagogik betont. Sie haben in einem Zeitungsartikel von einem, ja, konfuzianischen Missverständnis gesprochen. Stimmt das gar nicht mit dieser Opposition chinesisch versus westlich?
Brumlik: Na ja, also Chua sagt ja selbst, dass sie das nicht rassistisch gelesen haben will, alsodass westliche Erziehungsziele auch von chinesischen Eltern der Herkunft nach vertreten werden können. Mein Eindruck war deutlich, und am Ende des Buches schreibt Chua das auch, dass es die calvinistische Ethik ist, und man kann gut verstehen, dass Immigranten aus ostasiatischen Ländern, wenn sie dann in einer neuen Welt angekommen sind, darauf bedacht sind, es zu etwas zu bringen. Aber das kommt mir sehr viel amerikanischer und calvinistischer vor, als dass es jetzt eine konfuzianische Tugend wäre, in der ja Gelassenheit eine große Rolle spielt.
Scholl: Die chinesische Tigermama Amy Chua und ihr Erfolgsbuch, Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik. Wir haben gestern hier im "Radiofeuilleton", Herr Brumlik, den ehemaligen Schulleiter des Internats Salem, Bernhard Bueb, zum Thema befragt. Er findet das Buch von Amy Chua spannend und anregend, und ihren Erfolg sieht er auch begründet in einem generellen pädagogischen Umschwung, der sich in Sachen Erziehung vollzogen hätte in den letzten Jahren, so weg von der Kuschelpädagogik wäre das Stichwort. Vielleicht hören wir ihm mal kurz zu.
Bernhard Bueb: Ja, ich glaube, das ist genau der Umschwung, den stelle ich fest, dass wir etwas zurückkehren zu unseren alten guten, deutschen Tugenden. Wenn Sie mal feststellen, Max Weber hat gesagt: Die Grundlage unserer westlichen Wirtschaft und Gesellschaft sind Askese, Arbeit und rationale Lebensführung, und diese drei Tugenden haben wir verlassen. Wir fordern unseren Kindern nicht genügend Verzicht ab, also verzichten, immer gerade gleich das zu essen, was man sieht, oder immer jetzt gleich sofort einen Wunsch erfüllt zu bekommen, Arbeit wird nicht mehr als Tugend gesehen, und rationale Lebensführung heißt ja, mein Leben so einteilen können, dass ich die Zeit möglichst gut nutze. Und dahin müssen wir zurückkehren. Und natürlich: Dieses Buch weckt Ängste im Westen, Ängste über die Überlegenheit der Chinesen, das heißt, nun haben sie in der Wirtschaft schon die Nase vorn, nun werden sie vielleicht noch in Bildung und Erziehung auch die Nase vorn haben, und das ängstigt die Menschen.
Scholl: Askese, Arbeit, rationale Lebensführung, das war der Autor und Pädagoge Bernhard Bueb, und er zitiert Tugenden nach Max Weber. Micha Brumlik, haben wir diese Tugenden bei der Erziehung unserer Kinder vernachlässigt?
Brumlik: Ich glaube das nicht, ich glaube auch nicht, dass es einen Umschwung gegeben hat, die Shell-Jugendstudien bestätigen jedenfalls, dass nach wie vor ein partnerschaftlicher Lebens- und Erziehungsstil sich jedenfalls in den gebildeten Mittelschichten durchaus hält. Und ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass Kinder, die sich von ihren Eltern angenommen und bestärkt fühlen, dann am Ende auch leistungsfähig und leistungswillig sind. Nichts spricht gegen Selbstdisziplin, aber alles spricht gegen eine Selbstdisziplin, die durch Überforderung und Drill angeblich erzeugt werden kann.
Scholl: Nun ist der Wirbel um dieses Buch ja aber doch erstaunlich, Herr Brumlik, man könnte ja sagen, wie es in der "Welt" zu lesen sei, der Zeitung, die Dame habe nicht mehr alle Stäbchen in der Reisschale, und damit gut, aber anscheinend trifft dieses neuerliche Lob der Disziplin doch einen Nerv. Hat Herr Bueb nicht vielleicht doch recht in seiner Annahme, dass Eltern inzwischen härter denken, als sie vielleicht selbst erzogen wurden?
Brumlik: Ich weiß das nicht. In dieser Hinsicht bin ich ganz positivistisch. Bevor ich keine entsprechenden repräsentativen Studien habe, die dafür sprechen, glaube ich das nicht. Aber ich würde gerne auf die kluge Planung des Verlags mit seiner Publikation hinweisen: Es ist kein Zufall, dass dieses Buch in dem Augenblick auf den Markt gebracht wurde, als der chinesische Präsident die USA besucht hat, ein Umstand, der natürlich die vielen Hinsichten im Niedergang begriffenen USA alleine schon schockiert hat, und in diese schwache Stelle stößt nun dieses Buch hinein. Aber ich sage noch mal: Wenn man das Buch zu Ende liest, dann wird man sehen, dass darin auch ein Loblied des westlichen Individualismus gesungen wird, und Frau Chua hier nun wieder ganz konfuzianisch beendet das Buch mit der Meinung, man brauche einen Ausgleich zwischen östlichen und westlichen Tugenden, wobei ich persönlich – und gerade, wenn ich mir die USA ansehe – keineswegs den Eindruck habe, als sei dort das Leistungsprinzip zu kurz gekommen.
Scholl: Sie nannten das Buch vorhin einen Erziehungsroman, da denkt man vielleicht ja in die Literaturgeschichte oder in die Erziehungsgeschichte, den "Emile" von Jean-Jacques Rousseau, oder den "Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz, gleichzeitig auch düstere Aufklärungsbücher, aber sehr entscheidend für die Pädagogik. Glauben Sie, dass Amy Chuas Buch vielleicht auch diese Botschaft vermittelt, dass sie also hier etwas lehrt in dieser Richtung eines Erziehungsromans?
Brumlik: Das Buch bleibt ja unentschieden, und man kann es so lesen, als ob es gerade diese Forderungen der Mutter gewesen sind, die dann am Ende die jüngere Tochter auch zu einer aufrechten Rebellin gemacht haben. Aber die Mutter und ihre beiden Töchter sind ja nicht die einzigen Mitspieler in diesem Roman, da gibt es noch den liberalen, den jüdischen Vater, dann gibt es noch eine Großmutter, und es ist nicht klar, wie das alles zusammenspielt. Unsere Eindrücke in Deutschland sind, dass heute speziell Kinder aus den gebildeten Mittelschichten, dass denen sowieso zu viel aufgebürdet wird. Am Montag zum Ballett, am Dienstag nach der Schule zum Jiu-Jitsu, am Mittwoch zum Klavierunterricht, und man kann sich schon fragen: Wo bleibt eigentlich die Muße, die freie Zeit, um diese ganzen Eindrücke auch tatsächlich zu verarbeiten? Und vor allem haben wir wirklich überzeugende Längsschnittstudien, um zu wissen, wie es diesen Kindern dann später einmal gehen wird. Das wissen wir nicht so genau. Und auch die ältere Tochter, die so gedrillt worden ist, fühlt sich am Ende nach diesem Buch von ihrer Mutter betrogen, weil die Mutter sich dann mehr für die jüngere, die rebellische interessiert.
Scholl: Wir brauchen diese Kontroverse, sagt der Bernhard Bueb. Brauchen wir sie wirklich, Herr Brumlik?
Brumlik: Ich glaube nicht, dass wir sie brauchen. Ich glaube auch nicht, dass wir sie fürchten müssen. Dazu ist dieses Buch Gott sei Dank zu komplex und zu differenziert. Eine schlichte Umkehr, wie Bernhard Bueb sie selbst schon gepredigt hat, wird aufgrund dieses Buches mit Sicherheit Gott sei Dank nicht erfolgen.
Scholl: Der Streit um die "Mutter des Erfolgs", das Buch von Amy Chua – das war Micha Brumlik von der Universität Frankfurt am Main. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Brumlik!
Brumlik: Ich bedanke mich!
Scholl: Und wir setzen hier im Deutschlandradio Kultur die Diskussion fort, morgen um dieselbe Zeit, mit dem Musikpsychologen Rainer Holzinger hier im "Radiofeuilleton".
Micha Brumlik: Guten Morgen!
Scholl: In einem Interview mit dem "Spiegel" berichtet Amy Chua davon, wie glücklich ihre Tochter Sophia gewesen sein soll, als sie in der Carnegie Hall auftrat, und sie hätte dann ihrer Mutter gedankt. Glauben Sie dem Kind?
Brumlik: Ich glaube dem Kind, das es in diesem Augenblick außerordentlich glücklich gewesen ist, aber man tut dem Buch von Amy Chua Unrecht, wenn man es als eine Anleitung zum erbarmungslosen Drill liest, das ist es nicht. Es ist ein relativ komplexer Erziehungsroman, der nicht zuletzt davon handelt, dass die andere, die jüngere Tochter sich schließlich gegen diesen Drill erhebt und sogar bereit ist, mit ihrer Mutter zu brechen.
Scholl: Legen wir den Erziehungsroman noch einen Moment beiseite und bleiben wir beim Tatsachenbericht, Herr Brumlik. Amy Chua sagt, ein gesundes Selbstwertgefühl ist der Schlüssel zum Glück, und das erreicht man nur durch Herausforderung und Leistung. Hört sich im ersten Moment doch ganz vernünftig an, oder?
Brumlik: Das hört sich auch ganz vernünftig an. Die Frage ist nur, wo wird eigentlich die Messlatte gelegt? Und Amy Chua berichtet in dem Buch immer wieder, dass die westliche Erziehung darin bestehen könnte, dass Kinder schon gelobt werden, wenn sie eine zwei nach Hause bringen, während chinesische Eltern darüber unglücklich wären und ihre Kinder deshalb schelten würden. Das heißt, dass man auf Erfolge stolz sein kann und sich daran freuen, das ist kulturübergreifend richtig. Die Frage ist nur: Ist es sinnvoll, Kinder auch dann zu bestärken, wenn sie nicht überdurchschnittlich exzellent sind? Ich glaube doch.
Scholl: Immer wieder wird in diesem Buch so der unbeugsame elterliche Wille zur Konsequenz als Voraussetzung für den Erziehungserfolg genannt, also wenn das Kind reiten lernen will, dann muss es das auch durchziehen, wenn es Klavier spielen will, dann aber richtig, und dann wird geübt, dass die Knöchel knacken. Wie konsequent muss man denn sein bei der Erziehung?
Brumlik: Ich glaube, man muss schon konsequent und eindeutig sein, man muss aber auch – und das geht übrigens auch aus diesem Buch hervor – in der Lage sein, die Grenzen eines Kindes anzuerkennen und vor allem seine Persönlichkeit zu achten, und Chua berichtet selbst, dass ihr das wiederholt misslungen ist.
Scholl: Nun hat man bei der Lektüre ja schon den Eindruck permanenten Erziehungsterrors durch Angstmachen, Angst vor Versagen, Angst, nur Zweiter zu sein, aber auch Angst vor Strafe. Ich meine, Angst ist das Unwort jeder aufgeklärten Pädagogik, aber wenn man es mal ersetzt durch das Wort Respekt, dann klingt es doch schon etwas anders. Ich meine, wir hatten in der Schule vor manchen Lehrern einen Heidenrespekt, und da haben wir brav die Hausaufgaben gemacht. Bei anderen, weicheren hat man sich Ausreden einfallen lassen. So ist vielleicht auch gerade der kleine Mensch: Ohne Druck pariert er nicht, oder?
Brumlik: Da gibt es einen Moment Respekt, aber es ist dann doch meistens Respekt vor einer Autorität, vor einer Autorität, die man als solcher auch anerkannt hat, weil sie selbst überzeugend und gut ist. Und das ist eben bei Personen, die immer nur etwas androhen und mit Strafen im Hintergrund hantieren, keineswegs der Fall.
Scholl: Aber insofern wäre Amy Chua ja genau die richtige Autoritätsperson für ihre zwei Töchter gewesen.
Brumlik: Das war sie nach eigener Auskunft offensichtlich nicht, und wenn man das Buch liest, gewinnt man schon den Eindruck, dass sie einiges vom Geigenspiel versteht, aber sie tritt an keiner Stelle dadurch hervor, dass sie selbst eine vorzügliche Geigerin ist, sondern dass sie nur immer sagt: Ich bin deine Mutter, deswegen musst du das tun. Als Vorbild überzeugt sie ihre Töchter nicht.
Scholl: Nun wird in dieser Kontroverse, Herr Brumlik, die dieses Buch schon international ausgelöst hat, immer wieder der Gegensatz von chinesisch-westlicher Pädagogik betont. Sie haben in einem Zeitungsartikel von einem, ja, konfuzianischen Missverständnis gesprochen. Stimmt das gar nicht mit dieser Opposition chinesisch versus westlich?
Brumlik: Na ja, also Chua sagt ja selbst, dass sie das nicht rassistisch gelesen haben will, alsodass westliche Erziehungsziele auch von chinesischen Eltern der Herkunft nach vertreten werden können. Mein Eindruck war deutlich, und am Ende des Buches schreibt Chua das auch, dass es die calvinistische Ethik ist, und man kann gut verstehen, dass Immigranten aus ostasiatischen Ländern, wenn sie dann in einer neuen Welt angekommen sind, darauf bedacht sind, es zu etwas zu bringen. Aber das kommt mir sehr viel amerikanischer und calvinistischer vor, als dass es jetzt eine konfuzianische Tugend wäre, in der ja Gelassenheit eine große Rolle spielt.
Scholl: Die chinesische Tigermama Amy Chua und ihr Erfolgsbuch, Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik. Wir haben gestern hier im "Radiofeuilleton", Herr Brumlik, den ehemaligen Schulleiter des Internats Salem, Bernhard Bueb, zum Thema befragt. Er findet das Buch von Amy Chua spannend und anregend, und ihren Erfolg sieht er auch begründet in einem generellen pädagogischen Umschwung, der sich in Sachen Erziehung vollzogen hätte in den letzten Jahren, so weg von der Kuschelpädagogik wäre das Stichwort. Vielleicht hören wir ihm mal kurz zu.
Bernhard Bueb: Ja, ich glaube, das ist genau der Umschwung, den stelle ich fest, dass wir etwas zurückkehren zu unseren alten guten, deutschen Tugenden. Wenn Sie mal feststellen, Max Weber hat gesagt: Die Grundlage unserer westlichen Wirtschaft und Gesellschaft sind Askese, Arbeit und rationale Lebensführung, und diese drei Tugenden haben wir verlassen. Wir fordern unseren Kindern nicht genügend Verzicht ab, also verzichten, immer gerade gleich das zu essen, was man sieht, oder immer jetzt gleich sofort einen Wunsch erfüllt zu bekommen, Arbeit wird nicht mehr als Tugend gesehen, und rationale Lebensführung heißt ja, mein Leben so einteilen können, dass ich die Zeit möglichst gut nutze. Und dahin müssen wir zurückkehren. Und natürlich: Dieses Buch weckt Ängste im Westen, Ängste über die Überlegenheit der Chinesen, das heißt, nun haben sie in der Wirtschaft schon die Nase vorn, nun werden sie vielleicht noch in Bildung und Erziehung auch die Nase vorn haben, und das ängstigt die Menschen.
Scholl: Askese, Arbeit, rationale Lebensführung, das war der Autor und Pädagoge Bernhard Bueb, und er zitiert Tugenden nach Max Weber. Micha Brumlik, haben wir diese Tugenden bei der Erziehung unserer Kinder vernachlässigt?
Brumlik: Ich glaube das nicht, ich glaube auch nicht, dass es einen Umschwung gegeben hat, die Shell-Jugendstudien bestätigen jedenfalls, dass nach wie vor ein partnerschaftlicher Lebens- und Erziehungsstil sich jedenfalls in den gebildeten Mittelschichten durchaus hält. Und ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass Kinder, die sich von ihren Eltern angenommen und bestärkt fühlen, dann am Ende auch leistungsfähig und leistungswillig sind. Nichts spricht gegen Selbstdisziplin, aber alles spricht gegen eine Selbstdisziplin, die durch Überforderung und Drill angeblich erzeugt werden kann.
Scholl: Nun ist der Wirbel um dieses Buch ja aber doch erstaunlich, Herr Brumlik, man könnte ja sagen, wie es in der "Welt" zu lesen sei, der Zeitung, die Dame habe nicht mehr alle Stäbchen in der Reisschale, und damit gut, aber anscheinend trifft dieses neuerliche Lob der Disziplin doch einen Nerv. Hat Herr Bueb nicht vielleicht doch recht in seiner Annahme, dass Eltern inzwischen härter denken, als sie vielleicht selbst erzogen wurden?
Brumlik: Ich weiß das nicht. In dieser Hinsicht bin ich ganz positivistisch. Bevor ich keine entsprechenden repräsentativen Studien habe, die dafür sprechen, glaube ich das nicht. Aber ich würde gerne auf die kluge Planung des Verlags mit seiner Publikation hinweisen: Es ist kein Zufall, dass dieses Buch in dem Augenblick auf den Markt gebracht wurde, als der chinesische Präsident die USA besucht hat, ein Umstand, der natürlich die vielen Hinsichten im Niedergang begriffenen USA alleine schon schockiert hat, und in diese schwache Stelle stößt nun dieses Buch hinein. Aber ich sage noch mal: Wenn man das Buch zu Ende liest, dann wird man sehen, dass darin auch ein Loblied des westlichen Individualismus gesungen wird, und Frau Chua hier nun wieder ganz konfuzianisch beendet das Buch mit der Meinung, man brauche einen Ausgleich zwischen östlichen und westlichen Tugenden, wobei ich persönlich – und gerade, wenn ich mir die USA ansehe – keineswegs den Eindruck habe, als sei dort das Leistungsprinzip zu kurz gekommen.
Scholl: Sie nannten das Buch vorhin einen Erziehungsroman, da denkt man vielleicht ja in die Literaturgeschichte oder in die Erziehungsgeschichte, den "Emile" von Jean-Jacques Rousseau, oder den "Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz, gleichzeitig auch düstere Aufklärungsbücher, aber sehr entscheidend für die Pädagogik. Glauben Sie, dass Amy Chuas Buch vielleicht auch diese Botschaft vermittelt, dass sie also hier etwas lehrt in dieser Richtung eines Erziehungsromans?
Brumlik: Das Buch bleibt ja unentschieden, und man kann es so lesen, als ob es gerade diese Forderungen der Mutter gewesen sind, die dann am Ende die jüngere Tochter auch zu einer aufrechten Rebellin gemacht haben. Aber die Mutter und ihre beiden Töchter sind ja nicht die einzigen Mitspieler in diesem Roman, da gibt es noch den liberalen, den jüdischen Vater, dann gibt es noch eine Großmutter, und es ist nicht klar, wie das alles zusammenspielt. Unsere Eindrücke in Deutschland sind, dass heute speziell Kinder aus den gebildeten Mittelschichten, dass denen sowieso zu viel aufgebürdet wird. Am Montag zum Ballett, am Dienstag nach der Schule zum Jiu-Jitsu, am Mittwoch zum Klavierunterricht, und man kann sich schon fragen: Wo bleibt eigentlich die Muße, die freie Zeit, um diese ganzen Eindrücke auch tatsächlich zu verarbeiten? Und vor allem haben wir wirklich überzeugende Längsschnittstudien, um zu wissen, wie es diesen Kindern dann später einmal gehen wird. Das wissen wir nicht so genau. Und auch die ältere Tochter, die so gedrillt worden ist, fühlt sich am Ende nach diesem Buch von ihrer Mutter betrogen, weil die Mutter sich dann mehr für die jüngere, die rebellische interessiert.
Scholl: Wir brauchen diese Kontroverse, sagt der Bernhard Bueb. Brauchen wir sie wirklich, Herr Brumlik?
Brumlik: Ich glaube nicht, dass wir sie brauchen. Ich glaube auch nicht, dass wir sie fürchten müssen. Dazu ist dieses Buch Gott sei Dank zu komplex und zu differenziert. Eine schlichte Umkehr, wie Bernhard Bueb sie selbst schon gepredigt hat, wird aufgrund dieses Buches mit Sicherheit Gott sei Dank nicht erfolgen.
Scholl: Der Streit um die "Mutter des Erfolgs", das Buch von Amy Chua – das war Micha Brumlik von der Universität Frankfurt am Main. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Brumlik!
Brumlik: Ich bedanke mich!
Scholl: Und wir setzen hier im Deutschlandradio Kultur die Diskussion fort, morgen um dieselbe Zeit, mit dem Musikpsychologen Rainer Holzinger hier im "Radiofeuilleton".